Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Alexander Stille: Citizen Berlusconi. Teil 3

16.01.2006.
Berlusconis Hauptinvestor Carlo Rasini, der Besitzer der Bank, in der sein Vater arbeitete, war sehr pessimistisch geworden. "Es gibt hier nichts: keine Schulen, Läden oder Kinos. Niemand wird hierher ziehen", hielt er Berlusconi vor. Die Mehrheit derjenigen, die Geld in das Projekt gesteckt hatten, war dafür, die Bau­arbeiten zu unterbrechen und die bereits fertig gestellten Wohnungen zu vermieten. Berlusconi flehte um zwei Monate mehr Zeit, um das Projekt zu retten, und bekam sie. Er beschloss, seine ganze Kraft auf den Versuch zu konzentrieren, irgend eine große Rentenkasse als Investorin für das Projekt zu gewinnen, und er brachte tatsächlich den Vizepräsidenten des Anlageausschusses einer großen Rentenkasse dazu, dem Brugherio-Projekt einen Besuch abzustatten.
     Um dem potenziellen Retter des Großprojekts einen gebührenden Empfang zu bereiten, griff Berlusconi zu einer aufwändigen ­Inszenierung. Er mobilisierte alle verfügbaren Bauarbeiter, ließ sie Ordnung machen und putzen und so viel Fassadenkosmetik und ­Arbeit fertig stellen, dass der Bau einigermaßen beendet und vorzeigbar aussah. Am Tage des Besuchs ließ er eine Menge Leute aus seiner Verwandtschaft antanzen, die sich als Kaufinteressenten ausgeben und die Wohnungen besichtigen sollten. Die Rechnung schien aufzugehen, bis eine "nicht allzu helle Cousine" eintraf und alle ihre Verwandten mit Umarmung und Küsschen begrüßte. Das Gesicht des Vizepräsidenten lief dunkel an, als ihm klar wurde, dass Berlusconi ihn an der Nase herumgeführt hatte. "Sehr seltsam. Es scheint, als gehörten alle Ihre Kunden einem nicht sehr großen Kreis an, denn sie kennen einander alle!" Der Vizepräsident zündete sich eine Zigarette an, schmiss das Päckchen in die Toilette und sagte zu Berlusconi: "Junger Mann, können Sie mir eine neue Packung besorgen?" "Sicher, ich schicke sofort jemand danach", antwortete Berlusconi. "Sagen Sie mir die Wahrheit", gab der Mann zurück. "Wird Ihr Abgesandter eine oder zwei Stunden brauchen, um den nächsten Laden zu erreichen, in dem es Zigaretten gibt?"
     Obwohl der Besuch des Vizepräsidenten in einer völligen Katas­trophe endete, gab Berlusconi noch nicht auf. "Ich fuhr schnells­tens nach Rom und schaffte es mit Hilfe einiger Freunde, dass ich der Sekretärin des Vizepräsidenten vorgestellt wurde. Einem sehr hübschen Mädchen. Ich musste mir kein Bein ausreißen, um in eine, wie wir heute sagen würden, 'freundschaftliche' Beziehung zu ihr zu treten, 'eine Freundschaft besonderer Art'. . . . Und als der Vizepräsident seine nächste Fahrt nach Mailand plante, gab sie mir einen Tipp." Berlusconi nahm das nächste Flugzeug nach Rom. "Ich trug bei meiner Informantin meine 'Dankesschuld' ab, was mir aber nicht wehtat, weil es eine sehr nette Beziehung war."
     Am nächsten Morgen stand Berlusconi früh auf und sicherte sich im Zug nach Mailand den Platz gegenüber dem Vizepräsidenten. Als dieser ihn erblickte, sagte er: "Jetzt muss ich mit meinem Feind im gleichen Abteil fahren."

Diese Worte ließen mich nicht verzweifeln, sondern flößten mir großen Mut ein. Ich ließ meinen ganzen "Charme" arbeiten, und als wir den Bahnhof von Mailand erreichten, standen wir beide halb betrunken an der Bar, und er ­erzählte mir, wie erstaunlich die intimen Partien der Frauen im Kaukasus seien, mit einem Ding, das hier anfängt und bis dort hin reicht. Das Thema der ­Sexualorgane der kaukasischen Frauen ist keines, zu dessen genauerem Studium ich je eine Chance hatte, aber es fiel mir nicht schwer, ihm zuzustimmen. Wir schlossen eine Freundschaft auf der Grundlage dieser gemeinsamen "kulturellen" Elemente, um es einmal so auszudrücken. Er wurde mein größter Förderer, mein bester Freund, und das alles kriegte ich hin, ohne einen Cent bezahlen zu müssen.

Berlusconi erzählt diese Geschichte gerne zum Beweis dafür, dass er "nie irgendjemandem einen Cent an Bestechungsgeld gezahlt hat", aber sie verrät natürlich auch sehr viel über die Art und Weise, wie er Geschäfte machte und macht. Die Geschichte offenbart, dass er schon damals zu Verkaufsmethoden griff, die im Wesent­lichen auf Täuschung und Perfidie beruhten, etwa indem er dem potenziellen Investor die Existenz von Kaufinteressenten vorgaukelte. Vor einem katastrophalen Schiffbruch bewahrten diesen beredten Vorkämpfer des freien Marktes nur persönliche Beziehungen, die er sich auf schmierige Weise verschaffte.
     Die Rentenkasse investierte am Ende viele Millionen in Wohnungen, die sie ursprünglich nicht hatte kaufen wollen; sie tat das nicht, weil Berlusconi etwa den Vizepräsidenten davon überzeugt hätte, dass es eine gute Investition war, sondern weil er ihn betrunken gemacht und eine persönliche Beziehung zu ihm aufgebaut hatte, ­deren "kulturelles" Bindemittel ein Gespräch über die Ge­schlechts­organe kaukasischer Frauen war.
     Das Brugherio-Projekt machte Berlusconi zu einem in der obers­ten italienischen Liga mitspielenden Baulöwen und schuf die Voraussetzungen für die Inangriffnahme seines nächsten, noch größeren Projekts: "Milano 2" war überhaupt eines der größten und ehrgeizigsten Wohnbauvorhaben der Nachkriegsperiode. Schon als Student an der Universität hatte Berlusconi getönt, er werde einmal "eine Stadt bauen mit allem, was dazugehört, von dem Krankenhaus, in dem man geboren wird, bis zum Friedhof". Diese Ankündigung setzte er jetzt in die Tat um. Errichtet auf einer der letzten Grünflächen der Stadt, nur wenige Kilometer vom Zentrum, auf dem Grund und Boden eines alten Adelssitzes, war "Milano 2" eine riesige, abgeschlossene Wohnsiedlung für 14 000 Bewohner, mit Wohntürmen an den Ufern künstlicher Seen, mit Tennisplätzen, Schulen, Läden, Radwegen und gepflegten Rasenflächen. Das Ganze sah aus, als hätte jemand eine Idealstadt der italienischen Renaissance mit einer sterilen, leicht verkitschten Version des amerikanischen Traums von der Vorstadt-Idylle vermählt. Erbaut in den frühen 1970er Jahren, als in Italien die Protestbewegung gerade Fahrt aufnahm - hier fingen die 60er Jahre eigentlich erst 1968 an und dauerten dafür bis ans Ende der 70er -, war Milano 2 mehr als nur eine Wohnsiedlung: Es war ein gesellschaftspolitisches Statement. In einer Zeit, in der Jugendliche Häuser besetzten, um eine politische Botschaft zu verkünden, und in der sich eine ganze Generation unter einen starken gesellschaftlichen Druck gesetzt sah, sich von allem, was bürgerlich war, zu distanzieren, war Milano 2 eine Oase des Luxus und der Wohlhabenheit, eine amerikanisch anmutende Welt für sich, ein Kontrastprogramm zur Mailänder Innenstadt, in der demonstrierende Studenten von links und rechts auf den Straßen aneinander gerieten und mit Molotowcocktails bewarfen. Milano 2 war ein Ort, wo ein Mann eine Rolex und eine Frau einen Pelzmantel tragen konnte, ohne sich deswegen genieren zu müssen. Mailands alter Reichtum wohnte natürlich nach wie vor in den Palazzi in der Umgebung der Via Manzoni oder in altehrwürdigen Villen außerhalb der Stadt und pflegte seine diskrete Eleganz, doch ­Milano 2 eröffnete einer neuen Schicht aufstrebender Ma­nager, Börsenmakler und Werbeleute die Aussicht auf ein Leben in schwelgerischem Konsum. Gab in der Kultur jener Zeit die Linke den Ton an, so verkörperte Milano 2 so etwas wie eine Anti-Gegenkultur und nahm die italienische Version der "Yuppie"-Kultur der 1990er Jahre um zwanzig Jahre vorweg.
     Berlusconi reihte sich durchaus bewusst unter diejenigen ein, die diese Anti-Gegenkultur verkörperten. 1977 erwarb er einen nicht unbeträchtlichen Anteil an einer neuen konservativen Tageszeitung, Il Giornale, die zur Stimme derjenigen im italienischen Bürgertum wurde, die gegen die kulturelle Vorherrschaft der Linken aufbegehrten. Die Geburtsstunde dieser Zeitung hatte ein paar Jahre vorher geschlagen, als Indro Montanelli, einer der berühmtesten und angesehensten Journalisten Italiens, unvermittelt bekannt gegeben hatte, dass er den Corriere della Sera, für den er seit der Mussolini-Ära in den 1930er Jahren geschrieben hatte, verlassen und rund zwanzig seiner ebenfalls nicht unprominenten Kollegen mitnehmen würde. Sie alle hatten das Gefühl, der Corriere sei auf einen gefährlichen linken Irrweg abgeglitten. Tatsächlich zeigten die Zeitungen des aufgeklärten italienischen Bürgertums (neben dem Corriere etwa auch die Turiner La Stampa) zunehmend ein gewisses Verständnis für die Protestbewegungen im Land und liebäugelten mit der Idee einer Regierungsbeteiligung der italienischen Kommunisten. So schien die Zeit reif zu sein für eine erklärtermaßen konservative, unerschütterlich antikommunistische Tageszeitung, die es nicht nötig haben würde, sich einer Leserschaft anzudienen, die es schick fand, radikal zu sein.
     Weil Milano 2 ein Großprojekt war und weil es darüber hinaus ein politisches Zeichen setzte, machte es Berlusconi schlagartig zu einem der führenden Männer der italienischen Immobilienszene. Durch Milano 2 wurde er auch zu einer landesweit bekannten Figur. Das Projekt offenbart bei näherem Hinschauen noch weitere charakteristische Aspekte des Berlusconi-Stils. Politische Interventionen trugen nicht unwesentlich dazu bei, dass es ein Erfolg wurde. Die Siedlung lag auf der Markung von Segrate, unweit des Flughafens Linate, des kleineren der beiden Mailänder Verkehrsflughäfen. Ein Faktor, der die Wohnqualität in Milano 2 stark beeinträchtigte, war der ohrenbetäubende Lärm der in Linate landenden und startenden Düsenflugzeuge. Zwar konnte Berlusconi aus just diesem Grund das Gelände weit günstiger kaufen, als es unter anderen Umständen möglich gewesen wäre, aber der Fluglärm sorgte eben auch dafür, dass es anfänglich sehr schwer war, Wohnungen zu verkaufen. Berlusconi, der doch stets beteuerte, keinerlei Beziehungen zu der "internen Mafia" in Rom zu besitzen, wie er sie nannte, schaffte es irgendwie, Politiker in der Hauptstadt so weit zu bringen, dass sie zu seinen Gunsten die An- und Abflugschneisen des Flughafens ­Linate verlegten - gegen den wütenden und empörten Protest der Städte und Dörfer, die bis dahin vom Fluglärm verschont geblieben waren, nun aber den Löwenanteil davon abbekommen würden.
     Berlusconi bewerkstelligte die Verlegung der Flugschneisen mittels enger Beziehungen zu Angehörigen des rechten Flügels der Christdemokratischen Partei, aber auch vermittels eines cleveren PR-Schachzugs. Schon in einer frühen Phase der Realisierung von Milano 2 hatte er den Bau des Krankenhauses San Raffaele in unmittelbarer Nähe der neuen Großsiedlung initiiert - darauf legte er großen Wert. Als seine Firma Edilnord, die die Bauträgerin für das Projekt war, später in Rom vorstellig wurde und die Verlegung der Ein- und Abflugschneisen betrieb, konnte sie behaupten, es gehe dabei nicht etwa um die Wertsteigerung der getätigten Investitionen, sondern um den Komfort der Patienten im Krankenhaus San Raffaele. Auf einem Lageplan, der anlässlich einer Sitzung, in der es um die Frage der Flugschneisen ging, verteilt wurde, war ein gan­zer Teilbereich der Baufläche mit dem Buchstaben H - für "Hospital" - gekennzeichnet, einschließlich des Bereichs, in dem einige Berlusconi persönlich gehörende Luxuswohnungen entstanden.(1) Es kümmerte offenbar niemanden, dass das Krankenhaus San Raffaele noch gar nicht gebaut und dass es keineswegs als philanthropische Anstalt gedacht war, sondern als private, gewinnorientierte Klinik, deren Leitung einem aus dem Kirchendienst ausgeschiedenen Pries­ter übertragen wurde, gegen den später Ermittlungen wegen Betruges und wegen der Einwerbung von Schmiergeldern eingeleitet wurden. Die Flugschneisen wurden verlegt, und zwar nicht nur gegen den Widerstand anderer nahe gelegener Gemeinden, sondern auch ­gegen den Protest der Bürger von Segrate, der Stadt, auf deren ­Gemarkung Milano 2 lag. Rund 3000 Einwohner Segrates unterschrieben eine Petition gegen die neuen Luftkorridore - zu einem Zeitpunkt, in dem gerade einmal 200 Personen in Berlusconis Retortensiedlung lebten. Damit nicht genug, erhoben auch die Pilotengewerkschaft und die staatliche italienische Fluggesellschaft ­Alitalia Einspruch gegen die neuen Flugrouten, weil diese ihre Besatzungen bei Start und Landungen zu Manövern zwingen würden, die sie als gefährlich einstuften.
     Doch Berlusconi saß am längeren Hebel: Die neuen Flugschneisen blieben bestehen, und der Wert seiner Wohnungen schnellte nach oben: von 130 000 Lire pro Quadratmeter auf mehr als das Doppelte.(2) Diese Wertsteigerung machte ihn gleichsam über Nacht zu einem der reichsten Männer Italiens. Zeitungen begannen ihn den "re del mattone" zu nennen, den "Ziegelkönig".

Die Villa San Martino in Arcore

     Der "König des Backsteins" brauchte eine angemessene Residenz. Während Berlusconi noch an Milano 2 arbeitete, schmiedete er eifrig Pläne für den Bezug eines neuen Heims, der Villa San Martino in Arcore. Es war ein prachtvolles Landhaus aus dem 18. Jahrhundert, erbaut auf den Fundamenten eines Nonnenklosters aus der Renaissancezeit. Dieses fürstliche Anwesen - eine Villa mit 145 Zimmern, weitläufigen Ländereien (einschließlich Jagdrevier), Stallungen, einer reichhaltigen Bibliothek mit 10 000 alten Bänden und einer Sammlung von Gemälden der venezianischen Schule, von Tintoretto bis Guardi - schien ein passendes Vorzeigeobjekt für das jüngste Mitglied der italienischen Finanzaristokratie zu sein. Die Villa wurde in der Folge praktisch zu einem Synonym für Berlusconi; er veranstaltete dort geschäftliche Besprechungen, und nach seinem Eintritt in die Politik nutzte er das Anwesen, um darin Staatsoberhäupter zu empfangen und wichtige ­politische Zusammenkünfte abzuhalten; de facto diente sie ihm als inoffizieller Präsidentenpalast.
     Beschäftigt man sich näher damit, wie Berlusconi in den Besitz der Villa San Martino gelangte, so stößt man auf eine Geschichte, die ebenfalls den uns nun schon vertrauten üblen Duft der Täuschung und des Interessenskonflikts verströmt, der Berlusconis gesamte politische Karriere umweht.
     Die Villa, die sich jahrhundertelang im Besitz der Familie Casati-Stampa befunden hatte, kam infolge einer makaberen Tragödie plötzlich und unerwartet auf den Markt. Am 30. August 1970 erschoss der Marchese Camillo Casati-Stampa di Soncino, 43 Jahre alt, seine 41-jährige Frau Anna Fallarino und ihren Liebhaber, den 25-jährigen Studenten Massimo Minorenti. Anschließend tötete er sich selbst. Der skandalöse Fall lieferte nicht nur den italienischen Zeitungen und Klatschillustrierten monatelang Stoff, sondern führte auch zu einem kuriosen Erbschaftskonflikt. Anfänglich sah alles danach aus, als würde das gesamte Erbe, einschließlich der Villa San Martino, an das einzige Kind der verstorbenen Eheleute fallen, ihre 19-jährige Tochter Annamaria. Doch dann meldete sich die Schwester der ermordeten Marchesa mit einem höchst seltsam begründeten Erbanspruch zu Wort: Sollte Anna Fallarino durch ­irgendeinen Umstand ein paar Minuten länger gelebt haben als ihr Mann, wäre sie für die Dauer dieser paar Minuten die prospektive Erbin des Familienbesitzes gewesen, und somit wären ihre Angehörigen ebenfalls erbberechtigt. Der Anwalt, der diesen lächerlich anmutenden Anspruch vortrug und vertrat, war ein 36-jähriger Jurist aus Rom namens Cesare Previti, der später eine wichtige Rolle im Imperium Berlusconis übernehmen sollte. Der Vorstoß wurde abgeschmettert, nachdem eine Autopsie ergab, dass bei der Marchesa nach den Schüssen der Tod praktisch sofort eingetreten war. Doch Previti sah keinen Grund, sich aus der Arbeit an einer so großen Rechtssache zurückzuziehen. Obwohl er eben noch die Gegenseite vertreten hatte, brachte er es irgendwie fertig, sich der 19-jährigen Marchesina als Anwalt anzudienen.
     Die junge Annamaria, von der Tragödie stark mitgenommen und nur noch von dem Wunsch beseelt, dem öffentlichen Interesse am Tod ihrer Eltern zu entfliehen, siedelte nach Brasilien über und beschloss 1973, das Anwesen in Arcore zu verkaufen, auch um die fällige Erbschaftssteuer bezahlen zu können. Sie legte ausdrücklich fest, dass "die Möbel, die Gemäldesammlung, die Bibliothek und die umliegenden Ländereien" von dem Verkauf ausgeschlossen sein sollten. Doch weil sie minderjährig war und in weiter Ferne lebte, unterschrieb sie eine Vollmacht, kraft derer sie ihrem gesetzlichen Vormund, einem Senator und alten Freund der Familie namens Giorgio Bergamasco, sowie ihrem Anwalt und Ko-Vollstrecker des elterlichen Testaments, Previti, weit reichende Befugnisse einräumte, mit ihrem Eigentum nach Treu und Glauben zu verfahren. "Die reale Verfügungsgewalt über das Casati-Stampa-Erbe lag praktisch in den Händen des Ko-Testamentsvollstreckers Previti; der Vormund Bergamasco, ein alter Mann, beschränkte sich im Wesentlichen auf bürokratische Vollzugshandlungen, indem er mit seiner Unterschrift die von Previti in seiner Rolle als Anwalt und Testamentsvollstrecker getroffenen Entscheidungen ratifizierte", schreibt Giovanni Ruggeri, der italienische Journalist, der die Geschichte der Villa in Arcore recherchiert hat. Nach einiger Zeit rief Previti Annamaria in Brasilien an und erklärte ihr, er habe einen Käufer für die Villa gefunden: Silvio Berlusconi. Der Preis war schockierend niedrig: 500 Millionen Lire, und gegen den ausdrücklichen Wunsch Annamarias gehörten auf einmal auch die Bibliothek, die Gobelins, die Gemäldesammlung und die Ländereien dem Käufer Berlusconi. Die Gemäldesammlung enthält einen Tintoretto und einen Tiepolo, beides berühmte alte Meister, ferner eine Via Crucis (die Stationen des Leidenswegs Christi), bestehend aus einer Serie von vierzehn Gemälden des lombardischen Meisters Bernardo Luini. Das eine oder andere dieser Werke ist wahrscheinlich allein schon über eine Million Euro wert.(3)
     Nicht genug damit, brachte Berlusconi es sogar fertig, die Zahlung des Kaufpreises für die Villa über mehrere Jahre zu strecken - während er das Anwesen schon 1974 in Besitz nahm, zog sich die Abwicklung des Verkaufs bis 1980 hin. Während dieser Zeit musste die junge Marchesa weiterhin alle Steuern entrichten, die auf den Besitz fällig waren, während Berlusconi schon in der Villa wohnte.
     Was die junge Frau nicht wusste, war, dass genau in dieser Zeit ihr Anwalt Cesare Previti und dessen Vater eine zunehmend wichtigere Rolle in dem im Entstehen begriffenen Berlusconi-Imperium übernommen hatten. 1977 berief Berlusconi beide Previtis in den Vorstand einer seiner Firmen, der Immobiliare Idra; das war die juristische Person, die die Villa San Martino in Arcore erworben hatte. Berlusconi war zu dieser Zeit dabei, einer von Previtis wichtigsten Mandanten zu werden, vielleicht der wichtigste. Previti verstrickte sich also in einen mehrfachen Interessenskonflikt, indem er zunächst beide Parteien in einem Erbschaftsstreit vertrat und dann beim Verkauf der Villa San Martino sowohl die Verkäufer- als auch die Käuferseite.
     In vielen Ländern hätte Previti wegen Verstoßes gegen die anwaltlichen Standesregeln im Erbfall Casati-Stampa seine Anwaltszulassung verloren. In Italien stieg er zum Vertrauensanwalt Berlusconis auf. Viele Gerüchte und Witze über Previti machten die Runde. Einer der populärsten Spottverse lautete: Previti, se lo conosci, lo eviti. ("Previti, wenn du ihn kennst, meidest du ihn.") Ein Mitglied der Parlamentsfraktion von Forza Italia bezeichnete Previti einmal als Berlusconis "Berater in widerrechtlichen Angelegenheiten". Previti wurde später wegen der Bestechung von Richtern im Dienst Berlusconis und anderer Mandanten angeklagt und verurteilt.

Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages

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