Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Andre Bernold: Becketts Freundschaft. Teil 1

27.02.2006.
Jene Einfachheit, die fast nur die Größten sich zu erlauben wagen und die das Besondere an ihnen im Kontrast hervortreten lässt, war bei ihm vollkommen ausgebildet.
Fontenelle, Lobrede auf Malebranche (1716)


Samuel Becketts große Schönheit setzte ihn den Blicken aus, aber sie verlieh ihm auch eine Art Unsichtbarkeit. Den Leuten auf der Straße, die ihn nicht kannten, fiel er oft auf, aber die, denen er häufig begegnete und die seinen Namen wussten, schienen ihm wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Diskretion, seine eigene und die der anderen ihm gegenüber, erklärte sich nicht allein aus der Gewohnheit des Ruhmes, aus seiner Höflichkeit, seiner Einfachheit; sie ergab sich vielmehr aus seiner Schönheit, die bei ihm mit einer außerordentlichen Fähigkeit zusammenfiel, sich zurückzunehmen, ja, zu verschwinden.
     Das Erinnern sucht diese Abwesenheit auf und findet sie unverändert so, wie sie damals in der Anwesenheit erlebt wurde. Dank dieser Abwesenheit ist es möglich, von ihm zu sprechen. "Die Nächsten sagen nur, was ihnen nahe war, und nicht das Entfernte, das in dieser Nähe sich zeigte; und das Entfernte verschwindet, sobald die Anwesenheit endet", schreibt Maurice Blanchot in Die Freundschaft. Aber die Nähe, die Samuel Beckett jemandem schenkte, der in allem, außer in der Zuneigung, verschieden und unterlegen war, schuf Entferntes von solcher Art, dass es nicht mehr von seiner Anwesenheit abhing, dass es mich ganz erfüllte, dass es nicht aufhört. Geheimnisvoll ist die Freundschaft, wenn sie unwahrscheinlich und ohne Geschichte ist. Sie ist erfüllt von einem schwachen Leuchten aus unbekannter Quelle, das so entfernt ist wie damals, als es von den Freunden selbst ausging.
     Beckett war so offensichtlich schön, dass es schwer war, ihn wirklich zu sehen. Seine Schönheit verbarg ihn, der sich doch nicht schützte. Sie führte ihn vor als eine im mathematischen Sinn diskrete Folge einzelner Ansichten. Mit einem anderen Bild könnte man ihn als ein elliptisches Wesen begreifen, das sich aus sich selbst entfernte. Trotz allem, was er selbst dazu gesagt hat, diente ihm sein Körper dazu, nur mit Unterbrechungen anwesend zu sein, in der Vereinzelung seiner Gesichtsausdrücke, seiner wenigen Stimmen, seiner seltenen Gesten, und im Ausdruck des Zur-Ruhe-Kommens. Dieser Ausdruck war jeweils so schön, dass er die Aufmerksamkeit ganz auf sich lenkte, so dass man nicht beobachten konnte, was zwischendurch geschah, und auch nicht, wie der Ausdruck plötzlich verschwand und ihn mit gesenktem Kopf zurückließ. Während dieser Eklipsen gab es nichts, was man hätte sehen oder erfahren können. Man musste ihn dorthin begleiten. Dort hielt er sich auf, zwischen zwei Blitzen, in einem Raum der Verdichtung, in den man zu ihm dringen musste.
     Seine wunderbare Einfachheit kam von dorther, von seiner Beschäftigung mit nichts, von seiner gewandten Fähigkeit, nichts zu sein, sich oft aus seiner Konzentrationskraft zurückzuziehen und sie vor sich auf einer Ecke des Tischs umherirren zu lassen. Es genügte, sich dort zu ihm niederzulassen und auszuruhen: Dann spürte man deutlich, dass die Leere des Augenblicks und auch die Heiterkeit, dass das Alternieren grauer und heller Zonen nur zwei Aspekte einer einzigen Haltung waren, für die zuvörderst das Merkwürdig-Unheimliche seiner Schönheit zeugte. Denn merkwürdig war sie. Man verglich sie oft mit der des Vogels, des Adlers. Eine gewisse Lebhaftigkeit beim Wenden, beim Senken des Kopfes, eine Art, übergangslos von einem Zustand in einen anderen zu wechseln, dies trug ebenso wie sein berühmtes Profil dazu bei, seine Erscheinung mit Weite zu umgeben.
     Ein durchgehendes Merkmal unserer Treffen war, bei aller Planung und Pünktlichkeit, ihre Plötzlichkeit. Oft begegnete ich ihm zufällig auf der Straße - so lernten wir uns kennen. Als ich dann aber Zeit hatte, ihn kommen zu sehen, kam mir sein Erscheinen gleichsam zuvor oder überholte mich. Kaum war die Schwelle überschritten, gab es eine Beschleunigung. Ich erblickte in der Türöffnung seine Hand, die er hoch erhob, um von Weitem zu grüßen; dann, ohne Übergang, die Umarmung. Die Erregung, die ich zehn Jahre danach unvermindert spüre, spielte dabei natürlich eine Rolle. Aber die Gangart ist genau die der Ereignisse in Becketts Texten.
     Das Anhalten, noch bevor etwas angefangen hätte, die Pausen in der Leere gaben den Takt an. Vielleicht ist dies das Wesentliche einer Begegnung, dieses Anheben, dieser Taktschlag vor der ersten Note. Das muss man übrigens jedes Mal wiederholen. Wir versäumten es nicht. Das ist taktvoll, und ist auch der Takt und der Auftakt (1). Der dehnte sich über die fünfzehn ersten Takte aus, manchmal gar über das ganze Spiel. Wir hatten uns nach und nach angewöhnt, in schöner Gemeinsamkeit vor dem ersten Wort undeutliche Mimiken aufzusetzen, die über unseren Köpfen hingen und die wir langsam eine nach der anderen vom Haken nahmen, um Frage und Antwort hintereinander zu setzen, mit hellen Augen, spöttischem Mund, zweideutiger Miene: "Wie geht es dir? - Das frage ich mich!" Und da capo: Wir nahmen das Gespräch wieder auf, wo wir es ein oder zwei Monate zuvor liegengelassen hatten.(2) Dabei kam es vor, dass wir ein größeres Stück wiederholten.
     Auf den Vogel verwiesen noch einige weitere Züge. Wenn das Schweigen wiederkam und Sam selbstvergessen den Tisch anstarrte, schaute ich auf seine Stirn, auf die Nasenwurzel, auf den Haaransatz. Zwischen den weißen Haaren stand ein widerspenstiger grauer Haarbusch wie eine Federhaube über seiner kraftvollen, ganz eigenartig zerfurchten Stirn. Das Gesicht war nur noch dieses tief gearbeitete Kupfer, in dem plötzlich Augen aufsteigen würden.
     Es wurde mir schwer, von dem Faltenbild eine zufriedenstellende mentale Karte zu erstellen. Dieses Netz war zu komplex, um mit einem Blick erfasst zu werden, und ich folgte den Linien mit dem Gefühl, dass es gerade erst gezeichnet worden war. Diese Linien waren (meiner Meinung nach; er hätte diese Bilder nicht geschätzt) ein Indiz für seine Affinität mit Bäumen und Felsen, gebeugte Kraftlinien, Zeichen im Staub. Aber sie öffneten sich in die Sanftheit der Maske, die sie auf das strenge Knochengerüst legten. Sie waren zwischen den Augen gebündelt, stiegen in parallelen Schwüngen wie gespreitete Flügel über die Augenhöhlen, fielen auf die Wangenknochen und verloren sich unter den Lidern. So stand das Emblem eines Sperbers über seinen Augen. Die Demut einiger Altersflecken, die rechts deutlicher hervortraten als links, oder umgekehrt, milderte diese Majestät.
     Oberhalb der Nase sah man das erstaunliche, aber unbestreitbare Zeichen eines Trigramms. Die senkrechte Achse trug noch zwei Arme, und alles zusammen zeichnete schließlich ein tanzendes Männchen. Diese bewegten Vernetzungen machten aus seinem Gesicht eine Reuse, in der sein erstaunlicher Blick verfangen blieb. Sie lehrten uns, das Zusammenspiel der Gesichtszüge so in der Schwebe zu halten, dass unsere Gesichter schließlich verborgen blieben. So hatten wir ein Spiel Nebelgesicht erfunden, wo wir uns der Undeutlichkeit bedienten wie eines leisen, gegenstandslosen Lächelns. Da wir für Deutungen keine Verantwortung trugen und jeder Pflicht zum Austausch entbunden waren, galt zwischen uns, dass wir "einander nichts zu sagen" hatten, und das gab uns so viel Sicherheit, dass wir alles in allem ziemlich gesprächig waren. Von Zeit zu Zeit betrachtete er mich auch mit einigem Nachdruck, ohne dass mich dies weiter störte. Ich weiß nicht genau, was er von meiner Jugend hielt. Aber er las mir die Wetterlagen vom Gesicht, so genau, dass er manchmal imstande war, meine Gedanken zu erraten.
     Er interessierte sich für Vögel. Wir machten übereinstimmende Beobachtungen zu den Eulen und zu den Beziehungen zwischen ihrem Schrei und der Menge an nächtlichem Restlicht: "Letzte Nacht habe ich wieder eine Eule gehört, die erste seit langem. Ich hörte oft welche in Ussy und auch in Paris, in der Gegend vom Luxembourg. Das ist selten geworden. Der Schrei der Eule ist so rührend. Es gibt auch eine in Colmar, die schreit, wenn bei mir Licht ist. Sie protestieren gegen das Licht." (19. Juli 1985)
     Eines Tages (August 1984) meldet er bei seiner Rückkehr aus Ussy, dass seit kurzem eine Meise in seinem Briefkasten nistet. Ich sehe ihn noch, wie er mit einem Fingernagel die Gestalt des Nests auf den Tisch zeichnet, ein schüsselförmiges (Zeichnung im Text), "mit Landebahn für die Mutter, aus Reisig und kuschelig mit Moos ausgekleidet. Kleine goldbraune leblose Kugeln, aufgesperrte Schnäbel, dann fliegen die fertigen Vögel davon. Unfassbares Wunder." (Immer das Wahrnehmen der unverbundenen Zustände.) "Jeder Körper ist ein flüchtiger Geist, das heißt ein Geist ohne Erinnerung..." Ich gab diese Zeilen von Leibniz an einem 22. Dezember zur Post, im Jahr 1983. An eben diesem Tag entging ich um ein Haar einem tödlichen Unfall.
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(1) Deutsch im Original
(2) Bevor sein Zustand sich verschlimmerte, haben wir uns nur dreimal länger als drei Monate nicht gesehen.

Teil 2