Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Christopher Hitchens: Der Herr ist kein Hirte. Teil 3

24.09.2007.
Maimonides zufolge diente die Beschneidung außerdem der Stärkung der ethnischen Solidarität. Besonders wichtig war ihm, dass die Operation am Säugling durchgeführt wurde und nicht erst ein paar Jahre später. Ältere Kinder würden die Operation vielleicht nicht mehr über sich ergehen lassen und hätten darüber hinaus größere Schmerzen als der Säugling, so Maimonides. Auch den Eltern falle es so kurz nach der Geburt leichter. Vor allem der Vater, der ja für die Beschneidung verantwortlich sei, entwickle in den ersten Lebens­jahren eine immer engere Bindung zu seinem Sohn, die es ihm erschweren würde, die Operation später noch durchführen zu lassen.(4)

Maimonides ist sich also sehr wohl dessen bewusst, dass der Eingriff, wäre er nicht von Gott angeordnet, selbst bei den frömmsten Eltern einen natürlichen Widerwillen zugunsten des Kindes auslösen würde. Doch um des "göttlichen" Gesetzes willen unterdrückt er diese Einsicht.

Seit einigen Jahren werden auch pseudosäkulare Argumente für die Beschneidung des Mannes ins Feld geführt. Der Eingriff sei hy­gienischer für die Männer und somit gesünder für deren Frauen, die beispielsweise seltener an Gebärmutterhalskrebs erkrankten. Die Medizin hat diese Behauptungen widerlegt beziehungsweise nachgewiesen, dass Probleme genauso gut durch eine "Lockerung" der Vorhaut gelöst werden können. Die vollständige Beschneidung, die Gott ursprünglich als Blutpreis für das versprochene Massaker an den Kanaanitern verlangte, steht heute als das da, was sie ist: die Ver­stümmelung eines wehrlosen Kindes mit dem Ziel, ihm sein künf­tiges Sexualleben zu ruinieren. Die Kausalbeziehung zwischen religiöser Barbarei und sexueller Repression kann deutlicher nicht sein. Wer wollte ermessen, wie viele Menschen auf diese Art ins Elend gestürzt wurden, zumal seit christliche Ärzte die alte jüdische Tradition in ihren Krankenhäusern übernommen haben? Wen lässt es kalt, wenn er die langen Listen in den medizinischen Lehr- und Geschichtswerken liest, die anhand nüchterner Zahlen darlegen, wie viele männliche Säuglinge nach dem achten Tage an einer Infektion starben oder extreme und unerträgliche Funktionsstörungen und Verunstaltungen davontrugen? Auch die Statistik syphilitischer und anderer Infektionen infolge verfaulter Rabbinerzähne oder Unachtsamkeiten aufseiten der Rabbis sowie der Fälle, in denen versehentlich in die Harnröhre oder gar eine Vene eingeschnitten wurde, liest sich einfach furchtbar. Und es ist noch immer erlaubt, im New York des Jahres 2006! Ohne die Religion und ihre Arroganz würde keine anständige Gesellschaft diese primitive Amputation oder andere Eingriffe in die Genitalien ohne die volle Zustimmung der Betroffenen zulassen.

Auch die schlimmen Folgen des Masturbationstabus, das im vik­toria­nischen England ebenfalls als Rechtfertigung für die Beschneidung herhalten musste, sind den Religionen anzulasten. Jahrzehntelang wurden junge Männer und Jugendliche mit der vermeintlich medizinischen Warnung in Angst und Schrecken versetzt, ihnen droh­ten Blindheit, Nervenversagen und das Abrutschen in den Wahn­ sinn, wenn sie sich der Selbstbefriedigung hingäben. Geistliche hielten düstere Predigten, die vor unsinnigen Behauptungen nur so strotz­ten - etwa dass der Samen nur begrenzt vorhanden sei -, und zwangen damit Generationen von Heranwachsenden unter ihr Joch. Rupert Baden-Powell verfasste zur Untermauerung der körperbetonten Christlichkeit seiner Pfadfinderbewegung eigens eine Abhandlung zu diesem Thema. Bis zum heutigen Tage hält sich der Wahnsinn auf islamischen Websites, die gute Ratschläge für Jugendliche bereithalten. Die Mullahs haben offenbar Samuel Tissots Die Onanie, oder Abhandlung über die Krankheiten, die von der Selbstbefleckung herrühren aus dem 18. Jahrhundert und dergleichen mitt­lerweile in Verruf geratene Texte studiert, die schon die Christen vor ihnen mit so unheilvoller Wirkung praktisch umsetzten. Nicht weniger bizarr und von gleichermaßen schmutziger Fantasie durchsetzt ist die Desinformation eines Abd al-Asis bin Bas, verstorbe­ner Großmufti von Saudi-Arabien, dessen Auslassungen gegen die Onanie auf vielen muslimischen Websites zitiert werden. Er warnte davor, das Masturbieren führe zu einer Beeinträchtigung des Verdauungssystems, einer Schwächung des Augenlichtes, einer Entzündung der Hoden, zu Muskelzittern und einer Zersetzung des Rückenmarks, aus dem das Sperma komme. Auch die "Hirndrüsen" seien betroffen, wobei der Intelligenzquotient sinke, bis der Wahnsinn einsetze. Zu guter Letzt kündigte der Mufti den Jugendlichen an, ihr Sperma werde so dünn und kraftlos, dass sie später keine Kinder würden zeugen können - eine Aussage, die Millionen gesunder Jugendlicher mit quälenden Schuldgefühlen und Ängsten be­lastet. Die Websites Inter-Islam und Islamic Voice kauen diesen ­Unsinn wider, als herrschten in der muslimischen Welt nicht schon genügend Repression und Ignoranz unter den jungen Männern, die häufig von jeglicher weiblichen Gesellschaft ferngehalten werden, im Wesentlichen lernen, ihre Mütter und Schwestern zu verach­ten, und sich dem lähmenden Auswendiglernen des Korans zu unterwerfen haben. Nachdem ich in Afghanistan und anderswo Produkten dieses Erziehungssystems begegnet bin, kann ich nur noch einmal betonen: Die jungen Leute leiden nicht unter dem Problem, dass sie sich Jungfrauen wünschen, sondern dass sie Jungfrauen sind. Ihre emotionale und psychische Entwicklung wird im Na­men Gottes irreparabel gestutzt und die Sicherheit vieler anderer Menschen als Folge dieser Entfremdung und Deformationen bedroht.

Sexuelle Unschuld, die bei jungen Leuten bezaubernd sein kann, sofern sie nicht künstlich verlängert wird, ist bei einem Er­wach­senen einfach nur abstoßend und zerstörerisch. Auch lässt sich gar nicht ermessen, welcher Schaden von schmuddeligen alten Männern und hysterischen Jungfern angerichtet wur­de, die sich als geistliche Hüter unschuldiger Kinder in Waisenhäusern und Schulen aufgespielt haben. Insbesondere der römisch-katholischen Kirche kommt hier die überaus schmerzliche Aufgabe zu, den Geldwert eines Kindesmissbrauchs für einen Schadensersatzprozess zu bemessen. Milliarden von Dollar wurden den Opfern bereits zugesprochen, doch wie soll man einen Gegenwert festlegen für die Generationen von Jungen und Mädchen, die von Menschen, denen sie und ihre Eltern vertrauten, auf die abscheulichste Art an die Sexualität herangeführt wurden? Das Wort Kindesmissbrauch ist in Wahrheit ein dümmli­cher und erbärmlicher Euphemismus für die wahren Vorgänge: die systematische Vergewaltigung und Folterung von Kindern mit Wissen und Unterstützung einer Hierarchie, die sodann die schlimmsten Täter mittels einer Versetzung in einer anderen Gemeinde in Sicherheit brachte. Angesichts dessen, was in jüngster Zeit in modernen Großstädten ans Licht gekommen ist, schaudert es einen bei dem Gedanken, was wohl in den Jahrhunderten vor sich ging, als die Kirche noch über jede Kritik erhaben war. Aber was hatte man auch anderes erwartet, wenn man die Schwächsten in die ­Obhut von Menschen gab, die, ihrerseits Außenseiter und nicht sel­ten homosexuell, ein scheinheiliges Zölibat schwören mussten? Und die gelehrt wurden, mit ihrem Glaubensbekenntnis gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass Kinder Auswüchse des Satans sind? Die daraus erwachsende Frustration drückte sich bisweilen in exzessiver körperlicher Züchtigung aus, die für sich genommen schon schlimm genug ist. Doch wenn, wie geschehen, die künstliche Selbstbeherrschung zusammenbricht, führt das zu einem Verhalten, das kein mas­turbierender, hurender Durchschnittssünder auch nur in Betracht ziehen würde, ohne dass es ihn vor sich selbst grauste. Wir haben es hier nicht mit einigen wenigen Delinquenten unter den Schäfern zu tun, sondern mit dem Ergebnis einer Ideologie, die dem Klerus die Macht zu sichern suchte, indem sie sich die Kontrolle über den Sexu­alinstinkt, ja über die Sexualorgane der Menschen anmaßte. Wie der Rest der Religion hat auch dieser Aspekt seinen Platz in der angst­geschüttelten Kindheit unserer Spezies. Auf Iwans Frage, ob er Baumeister eines solchen Gebäudes sein wolle, antwortet Aljoscha leise: "Nein, ich wür­de es nicht wollen". Angefangen beim Angebot, den schutzlosen jungen Isaak auf dem Scheiterhaufen zu opfern, bis hin zu den Missbräuchen und Repressionen heutiger Tage, muss auch unsere Antwort Nein lauten, wenn auch deutlich vernehmlicher.

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(4) Maimonides Einlassungen zur Beschneidung sind zitiert in Leonard B. Glick, Marked in Your Flesh: Circumcision from Ancient Judea to Modern America, New York 2005, S. 64 ff


Mit freundlicher Genehmigung des Karl Blessing Verlages
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