Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Gerhard Schulz: Kleist. Eine Biografie. Teil 1

13.08.2007.
1. Lob des Herkommens

Namen können Glück oder Last, aber manchmal auch beides zugleich sein. So war es eine Ehre ebenso wie eine Bürde, damals in Preußen als ein Kleist geboren zu werden. Die Kleists waren ein weitverzweigtes Geschlecht, das sich einer langen Geschichte rühmen konnte. Sein Ursprung reicht bis ins Mittelalter zurück: aus dem Boden des frucht­baren Koloniallandes von Hinterpommern wuchs der Stammbaum her­vor und verzweigte sich in ein breites Astwerk von "Linien", benannt nach den kleinen Orten und Rittergütern, mit denen die Herren von Kleist belehnt wurden oder die sie sich erwarben. Wenngleich diese Güter die Fundamente adliger Existenz bildeten, blieb doch der teuerste Besitz des Adels der Name. Ein Kleist zu sein schloß eine Verpflich­tung ein, und diese Verpflichtung war hoch angesichts des Alters der Familie, die mit Stolz auf hohe Würdenträger in ihrer langen Geschichte blickte. Generale waren es zu­meist, denn die Dienste des Militärs wurden am nötigsten gebraucht für die Aus­breitung und Sicherung der Macht des Staates in Gebieten, die erst nach und nach kolonisiert und behauptet wurden gegen die angestammten slawischen Besitzer. Später ging es dann um die Verteidigung des eroberten Landes gegenüber anderen, konkurrierenden Staaten des europäischen Kontinents. Wie nötig auch die preußischen Fürsten und Könige ihre Vieh­züchter, Feldbesteller, Kaufleute und Baumeister brau­chen mochten oder wie sehr sie die Philo­sophen und Lehrer schätzten - die Dienste der Heer­füh­rer als Eroberer oder Verteidiger des Eroberten galten ihnen mehr und waren vor allem auffälliger.

Die Familie der Kleists brachte eine ganze Reihe solcher militä­rischer Ideal­figuren hervor: Offiziere, Generale und dann und wann ein Feldmarschall - Vorbilder, an denen sich die anderen Träger des Na­­mens zu messen hatten. Die Fa­mi­lien-Chro­niken haben sie dann entsprechend verklärt: "Hoch empor über die Mitglieder seines Ge­­­schlechts ragt die Heldengestalt des Feldmarschalls Kleist von Nollendorf. Wohl lebt der edle Sänger des Frühlings, der todesfreudige Held, den Lessing seinen Freund, sei­nen Tellheim nannte, im Gedächtniß der Nachwelt, wohl zählt die Familie einen Di­chter zu den Ihren, der die gigantische Gestaltungskraft eines Shakespeare besaß; den Gipfel des Ruhms hat nur Einer erstiegen, nur Einer ein volles Mannesleben ausgelebt, ein Ganzes geschaffen: der Sieger der Schlacht von Kulm und Nollendorf."(1) In den Schatten verwiesen wird also hier - das Loblied stammt aus dem Jahre 1887 - der Dich­ter Ewald von Kleist, der im Siebenjährigen Krieg für König und Vaterland kläglich umkam, und neben ihm eben auch Hein­rich von Kleist. Zurücktreten müssen sie hinter der Licht­gestalt jenes in den Grafenstand und zur Marschallswürde erhobenen Friedrich Heinrich Ferdi­nand Emil von Kleist, dem Sieger in der Schlacht gegen die Franzosen im August 1813 beim böhmischen Nollendorf. Nur ist dieser Kleist heutzutage lediglich noch in größeren Nachschlagewerken, aber gewiß nicht mehr im Gedächtnis der Nation auf­bewahrt. Überhaupt weiß ja doch wohl "kein Mensch" mehr recht, "welche strammen Verdienste um Brandenburg sich die Majore und Generale von Kleist erworben haben, aber das weiß ich, daß es in Gottes weiter Welt nur einen Kleist gibt, und das ist er, der Dichter der Penthesilea, des Michael Kohlhaas und des einen kolossalen Aktes von Robert Guiscard, der einfach zu gut ist, als daß er überboten werden könnte und weitere vertrüge. Ein Quark wäre der Name Kleist ohne ihn, er aber meint, sein geniales Mühen geschehe für den Ruhm seiner Familie und ist von jedem ­Zeichen der Mißachtung, die er von diesen Leuten erfährt, wie von einem Dolchstoß ins Herz getroffen." So Thomas Mann im Jahre 1954.(2) Heinrich von Kleist hat bis in seinen Tod hinein eher die Bürde als die Würde seines Namens empfunden. Seine Familie aber, deren Erwartungen er nicht ent­spre­chen konnte, hat sich seiner nach diesem Tod und gerade deswegen ja eben auf lange Zeit eher geschämt als gerühmt.

An jenem 10. Oktober des Jahres 1777, einem Freitag, als Heinrich von Kleist in Frankfurt an der Oder geboren wurde - das Datum ist allerdings unsicher geblieben, ein Los, das Kleist mit Shakespeare teilt(3) - diente sein Vater Joachim Friedrich von Kleist als "Stabs-Capitain", also Hauptmann, im "hoch­fürst­lich Leopold von Braun­­schweig'schen Regiment" dort, dem In­fan­te­rie­re­gi­ment 24, und brachte es dann drei Jahre später noch zum Major. Das war keine strah­lende Karriere für einen Kleist; man sagt, daß er der längstdienende Major der preußischen Armee gewesen sei,(4) was bedeutet, daß die Gnadensonne seines Landes­herrn, des großen Friedrich, nur schwach auf ihn leuchtete. Ursprünglich hatte er ohnehin nicht die Militärkarriere einschlagen, sondern studieren wollen, weshalb er sich denn 1748 an der Frankfurter Universität, der "Viadrina", "der an der Oder Gelegenen", einschrieb. Der Tod seines Vaters und die damit verbundenen materiellen Sorgen aber waren es vermutlich, die ihn dann in die sicherere Kar­riere beim Militär drängten. Beides zugleich, das Studieren und das Soldat­sein, stand indessen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander; man darf sich dieses Preußen bei aller Dominanz des Militärischen nicht allzu eng und bildungs­feind­lich vorstellen. "So vorzüglich schätzbar der adligen Geschlechter und ihrer Vorahnen Ver­dienste ums Vaterland sind, so wenig stolz sind sie dabey in ihrem Umgange, be­son­ders gegen Gelehrte. Verschiedne widmen sich selbst diesem Stande, oder studiren wenigstens eine Zeitlang, ehe sie auf ihre Güther Wohnung nehmen",(5) heißt es in der Chronik der Kleists. In der Familie von Kleists engstem Freund Ernst von Pfuel zum Beispiel - es war eine der reichsten in Brandenburg - gehörte es sogar zur festen Tradition, die Viadrina zu besuchen und den Doktor der Rechte zu erwerben.(6)

Das kulturelle Profil Frankfurts blieb begrenzt. Die Viadrina, durchaus eine Zierde der Messestadt, mochte tüchtige, beliebte Lehrer haben - Gelehrte von landes­weitem Ruf besaß sie nicht. Sie war 1506 als erste brandenburgische Landesuniversität gegründet worden, aber ihre Tage waren gezählt; 1811 wurde sie nach Bres­lau verlegt. Im 18. Jahrhundert indes war ihre durchschnittliche Frequenz immerhin grö­ßer als die für Frei­burg, Erlangen oder Heidelberg.(7) Die Stadt selbst war mit einer Bürgerschaft von 10000 so­wie einer Gar­nison von 2000 Offizieren und Soldaten klein; das andere, am Main gelegene Frankfurt zählte im­mer­hin 42000 Einwohner, und das nahe Berlin hatte 170000. Bildungsinstitution und Kaserne schei­nen sichin Frankfurt nicht gleichgültig gegen­übergestanden zu haben. Sogab es etwa unter vie­len Stipendien für die Universität auch das Forcadische, das der "eh­ren­voll ver­ab­schie­dete Oberst des hiesigen Regiments Fried­rich Wilhelm von Forcade, welcher im Jahre 1778 starb",(8) gestiftet hatte. Im Jahr zuvor war er es gewesen, der am 27. Oktober, an der Spitze einer Schar von adligen Pa­ten, Heinrich von Kleist in der Frankfurter Gar­ni­sons­kirche aus der Taufe gehoben hatte. Regimentskommandeur und Stadtkommandant zu diesem Zeitpunkt war Her­zog Leopold von Braunschweig, ein Neffe Friedrichs des Großen und jüngerer Bruder der Weimarer Herzogin Anna Amalia; Kleists Bruder Leopold, 1780 geboren, hat seinen Namen ihm zu verdanken. Herzog Leopold, der sich 1775 für seine Kavalierstour nach Italien die Begleitung Gotthold Ephraim Lessings ausbedungen hatte, galt als ein be­­sonderer Menschenfreund. So sei er, wie Frankfurts Stadtchronist und Universitätsrektor Carl Renatus Hausen im Jahre 1800 berichtete, Mitglied der 1776 gegründeten Freimaurerloge "Zum aufrichtigen Herzen" gewesen, "und als ein edler, von der ganzen Stadt verehrter Fürst zernichtete er mit seiner Teilnehmung Vor­urtheile, welche etwa wider ein bisher hier unbekanntes Institut entstehen konnten."(9) Sein hoher Ruf als aufgeklärter, humaner Offizier verursachte allerdings Bedenken bei dem Onkel in Potsdam, und als Leopold im April 1785 zur Zeit des Oder-Hochwassers bei einer Rettungsaktion ums Leben kam, sah dieser darin "zu weit getriebene Menschen­lie­be".(10) Die vielen Toten­klagen, darunter Verse Goethes, drangen offensichtlich nicht bis an Spree und Havel - Dialektik der Auf­klärung!

Herzog Leopold war in Frankfurt Nachbar der Kleists gewesen. Joachim von Kleist nun war fast einundvierzig, als er 1769 die kaum fünfzehnjährige Ca­ro­li­ne Louise von Wulffen heiratete;(11) erst ihr väterliches Erbe und die Einkünfte eines "Compagnie-Chefs" ließen die Gründung einer Familie zu. Was die Part­­ner an­ein­an­der band, was der große Unterschied an Alter und Erfahrung für sie bedeutete, wie man sich den Vollzug einer solchen Ehe vorzustellen hat, entzieht sich jeder Spe­ku­la­tion; da bleibt alle Vergangenheit ein fremdes Land. Zwar weiß man von wüstlings­haften Roheiten unter Offizieren im Umgang mit Frauen, den eigenen und fremden, aber selbstverständlich gab es auch zarte und tiefe Neigungen, denen die Öde der Garnisonen oder die Härte der Feldlager im Kriege nichts anhaben konnten, wenn sie sie nicht gar förderten. Ebensowenig mußten junge Frauen am Ausgang des Kindes­alters die Ehe unbedingt nur als Gewaltakt und schmerzhaften Schock erfahren. Die Nä­he bäuer­lichen Lebens auf den Gütern oder in den kleinen Städten mochte sie auf manches Körperliche vorbereiten und es als selbstverständlich akzeptieren lassen; was aber die Liebe zwischen zwei Menschen anging, so herrschte immerhin auch in Preußen das Zeitalter der Empfind­samkeit. Gefahren drohten den jungen Ehefrauen viel eher von der Natur selbst; den Infektionen und Komplikationen bei der Geburt stand die Medizin weitgehend hilflos gegenüber.

Zwei Töchter wurden Caroline und Joachim von Kleist geboren: Wilhelmine 1772 und dann 1774 Ulrike; es war die Schwester, die Hein­rich hin­gebungsvoll schützend und stützend durch sein Leben begleiten sollte. An ihrer Geburt jedoch starb neunzehnjährig die Mutter. Das war im Mai. Im Januar 1775 hei­ra­tet Joachim von Kleist ein zweitesmal, diesmal Juliane Ulrike von Pannwitz, acht­zehn Jahre jünger als er; sie war die sechste und mithin vermögenslose Tochter eines Erb­herrn von Gütern bei Cottbus. Und nun folgten wiederum Kinder: noch im selben Jahr wurde Friederike ge­boren, dann 1776 Auguste, 1777 Heinrich, 1780 Leopold und 1784 Juliane. Am 1. März 1788 erwarb Joachim von Kleist für seine Familie ein Haus, und zweieinhalb Monate später, am 18. Juni 1788, starb er an der "Wassersucht", ver­mutlich einer Herz­er­kran­kung. Um seinen Sarg standen sieben Kinder zwischen sech­zehn und vier. Sie wur­den fünf Jahre später Vollwaisen, als Juliane von Kleist am 3. Februar 1793 früh 5 Uhr einem "Ent­zün­dungs­fieber" erlag. Beim Tode des Vaters war Heinrich von Kleist zehn Jahre und acht Monate alt, beim Tode der Mutter fünf­zehn Jahre und vier Monate. Da aber war er bereits seit etwas mehr als einem hal­ben Jahr Soldat.

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(1) Kleist, Georg von: Das Leben des Generalfeldmarschalls Grafen Kleist von Nollendorf. Berlin 1887 (Geschichte des Geschlechts von Kleist. Dritter Theil. Fünfte Abtheilung), S. 5.
(2) Mann, Thomas: Heinrich von Kleist und seine Erzählungen. In: Th. M., Altes und Neues. Kleine Prosa aus fünf Jahrzehnten. Berlin 1956, S. 637-656, Zitat S. 642.
3) Ich schließe mich hier den Überlegungen von Horst Häker an: "10. oder 18.Oktober? Ein Plädoyer für Kleist". In: Häker, Kleist, S. 113-118.
(4) Loch, Kleist, S. 421.
(5) Kratz/Kypke, S. 79.
(6) Gersdorff, Pfuel, S. 11.
(7) Eulenburg, S. 153.
(8) Hausen, S. 147.
(9) Hausen, S. 163.
(10) Loch, Rudolf: Die "Lehren eines Vaters an seinen Sohn, der sich dem Soldatenstand widmete". Anmerkungen zu Carl Wilhelm von Pannwitz, Joachim Friedrich und Heinrich von Kleist. In: BKF 1996, S. 34-56, das Zitat S. 49.
(11) Ca­ro­li­ne Louise von Wulffens genaues Geburtsdatum ist nicht zu ermitteln; ob sie zum Zeitpunkt der Eheschließung 14 oder bereits 15 war, muß also offenbleiben.



Teil 2

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