Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Jung Chang, Jon Halliday: Mao. Teil 4

21.09.2005.
Seite 780 bis 786

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Madame Mao während der Kulturrevolution
(1966-1975, 72-81 Jahre)


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Madame Mao war mittlerweile darauf angewiesen, sich bei den Freundinnen ihres Mannes einzuschmeicheln, um Zugang zu ihm zu bekommen. Seit Beginn der Kulturrevolution lebte das Paar in getrennten Residenzen, selbst wenn sich beide in Peking aufhielten: sie im kaiserlichen Palast bei den Fischteichen, er in Zhongnanhai. In den ersten Jahren der Kulturrevolution, als sie aktiv an der Organisation beteiligt war, konnte sie ihn nach Belieben besuchen. Aber als ihre politische Rolle kleiner wurde, schränkte er den Kontakt ein und verwehrte ihr oft den Zutritt zu seinem Haus, weil er seine Frau einfach nicht ertragen konnte. Je mehr er ihr aus dem Weg ging, desto verzweifelter suchte sie seine Nähe, denn sie konnte es nicht riskieren, ausrangiert zu werden. Daher flehte sie Maos Freundinnen an, ein gutes Wort für sie einzulegen, und bestach sie mit Geschenken wie Stoff für ein Kleid oder sogar einer Schweizer Uhr. Einmal schaffte sie es, sich unter dem Vorwand, sie wolle die "Hygiene" kontrollieren, Zutritt zu Maos Haus zu verschaffen. Mao schrie sie an, sie solle gehen, und wies danach die Wachen verärgert an: "Verhaftet sie, wenn sie noch einmal herkommt!"(17)
     Bei Maos 82. (und letztem) Geburtstag am 26. Dezember 1975 durfte seine Frau vorbeikommen und zwei seiner Lieblingsgerichte mitbringen. Allerdings behandelte Mao sie wie Luft, warf ihr nur einen abwesenden Blick zu und richtete nicht einmal das Wort an sie. Schon bald ging sie wieder, traurig und verlassen, während fünf junge Frauen, meist ehemalige Freundinnen, Mao bei seinem Geburtstagsessen Gesellschaft leisteten.(18)
     Diese Freundinnen wurden nicht wie königliche Mätressen behandelt und mit Geschenken und Privilegien überhäuft, sondern Mao benutzte sie, wie er schon seine Frau benutzt hatte. Sie boten ihm Sex und waren seine Dienstmädchen und Pflegerinnen. In seinem letzten Jahr durften ohne ausdrückliche Erlaubnis nur zwei Personen sein Schlafzimmer betreten, weil er Angst vor einem Anschlag hatte; beide ehemalige Freundinnen und mittlerweile Pflegerinnen: Zhang Yu-feng, eine ehemalige Bordbegleiterin in seinem Zug, und Meng Jin-yun, eine frühere Schauspielerin aus der Sing- und Tanztruppe der Luftwaffe. Die beiden wechselten sich mit Maos Pflege ab, waren 20 Stunden am Tag auf den Beinen, rund um die Uhr in Bereitschaft und mussten normalerweise in ihren Kleidern schlafen. Sie hatten praktisch kein Familienleben, keinen Urlaub und keine Wochenenden. Mao weigerte sich, mehr Pflegepersonal einzustellen, weil er nur ihnen vertraute und nur sie in seiner Nähe duldete.
     Meng, die ehemalige Schauspielerin, wollte gehen und bat ihre Kollegin Yu-feng, ein gutes Wort für sie einzulegen; sie sollte sagen, dass sie fast 30 Jahre alt sei und Zeit mit ihrem Mann verbringen wolle, um ein Kind zu bekommen. "Sie soll warten, bis ich gestorben bin, dann kann sie ein Kind haben", antwortete Mao. Yu-feng selbst hatte eine kleine Tochter, die ihre Milch brauchte (zu der Zeit gab es in China keine Babynahrung). Weil sie nicht jeden Tag heimgehen konnte, versuchte sie das Baby zu füttern, indem sie die Milch in einer Flasche sammelte und diese bei Mao in den Kühlschrank stellte, um sie mit nach Hause zu nehmen, wenn sie etwas Zeit erübrigen konnte. Aber das Baby wurde krank von der Milch. Wenn sie manchmal Mao völlig erschöpft etwas vorlas, begann sie, den Namen ihrer Tochter zu murmeln. Doch all das konnte Mao nicht bewegen, ihre Arbeitslast zu verringern.(19)
     Von den vielen Frauen, auf die Mao ein Auge geworfen hatte, wiesen nur wenige ihn ab. Eine davon war offenbar seine elegante Englischlehrerin und Dolmetscherin Zhang Han-zhi. Eines Tages Ende 1972 führte Mao sie, nachdem sie für ihn gedolmetscht hatte, in ein Personalzimmer am anderen Ende des Flurs und rief in höchster Erregung: "Du hast mich nicht in deinem Herzen! Du hast mich einfach nicht in deinem Herzen!" Überrascht von diesem Ausbruch presste sie heraus: "Vorsitzender, wie sollte es möglich sein, Sie nicht im Herzen zu haben? Jeder in China hat Sie im Herzen." Er ließ sie gehen. Sie arbeitete weiter als seine Dolmetscherin, und Mao beförderte sogar den Mann, den sie liebte (und später heiratete) zum Außenminister. Allerdings bestrafte Mao ihn später, indem er ihn einer Denunzierungskampagne durch die Mitarbeiter des Außenministeriums unterwarf.(20)

Einen Menschen liebte Mao wirklich, das war seine jüngste Tochter Li Na, sein einziges Kind mit Jiang Qing. Die 1940 geborene Li Na war an seiner Seite aufgewachsen, als Kind hatte ihr Geplauder ihm geholfen zu entspannen. Sie hatte ihren Vater verehrt, wie aus einem Brief hervorgeht, den sie ihm am 8. Februar 1955 mit 14 Jahren schrieb:

Lieber Papa,
schläfst du? Du musst einen süßen, süßen Schlaf haben.
Du bist bestimmt überrascht, warum ich dir so unverhofft schreibe. Das ist passiert: Als du deinen Geburtstag gefeiert hast, wollte ich dir etwas schenken, aber bevor ich das Taschentuch fertig bestickt hatte, war dein Geburtstag vorbei. Außerdem war meine Stickerei so schlecht, deswegen habe ich es dir nicht geschenkt. Weil ich wusste, dass du nicht böse mit mir sein würdest, denn du bist mein lieber Papa, stimmt’s? Jetzt hat Mami bald Geburtstag, deswegen wollte ich die Gelegenheit nutzen und es wieder gut machen. Dir gefällt dein Geschenk vielleicht nicht, aber ich habe es selbst gemacht. Es ist klein, aber es zeigt meine Gefühle: Ich wünsche, dass mein liebster Papi immer jung, freundlich und froh ist...


Der Brief war unterzeichnet mit "Viele Küsse, deine Tochter, die dich leidenschaftlich liebt".(21)
     Mao wollte, dass seine Tochter für ihn später einmal politisch von Nutzen sein würde, und lenkte sie entsprechend. 1947, als die Kommunisten Yenan räumten, bestand er darauf, dass sie in Hörweite der Granaten und Schüsse blieb, obwohl sie erst sechs Jahre alt war. Madame Mao flehte tränenüberströmt, Li Na zu evakuieren, aber Mao schrie seine Frau an: "Mach, dass du hier wegkommst! Das Kind bleibt. Ich will es hier haben, damit es das Gewehrfeuer hört!"(22)
     Zu Beginn der Kulturrevolution 1966 machte Mao Li Na zu seiner Assistentin. Im Alter von 26 Jahren hatte sie an der Universität von Peking gerade ihren Abschluss in moderner chinesischer Geschichte abgelegt, ein Fach, das sie nicht besonders mochte, aber akzeptierte, denn die Partei wollte mehr Kinder aus Elitefamilien zu Parteihistorikern ausbilden.(23) Ihr Vater schickte sie zur wichtigsten Militärzeitung, wo sie als Sonderreporterin arbeitete und für ihn Informationen sammelte. Maos Ziel war, dass sie die Zeitung kontrollierte, was sie im August 1967 erreichte, nachdem man die Redakteure und Herausgeber der Zeitung ins Gefängnis geworfen hatte. Um Li Na wurde ein Kult aufgebaut. Die Büros der Zeitung (und sogar die Wohnungen der Mitarbeiter) waren mit Plakaten voll geklebt, auf denen sie "gegrüßt" wurde, und bei Versammlungen wurden Parolen gerufen, dass jeder, der sich gegen sie wende, ein Konterrevolutionär sei. Im Gebäude der Zeitung wurde ein Ausstellungsraum eingerichtet, der ihren "großen Verdiensten" gewidmet war; zu den Ausstellungsgegenständen gehörten ihre Teetasse und ihr Fahrrad, was ausdrücken sollte, sie sei eine Heilige, weil sie kein teures Porzellan benutzte und sich nicht in einer Limousine chauffieren ließ.
     In dieser Zeit begann sich ihr Verhalten zu verändern. Zuerst hatte sie bescheiden gewirkt, nun schrie sie ranghohe Mitarbeiter an, sie sollten vor ihr Habachtstellung einnehmen, und kreischte: "Am liebsten würde ich euch erschießen lassen!" Sie erklärte, sie werde die "Herrschaft des Pöbels" durchsetzen, eine obskure Bezeichnung, die sie eindeutig von ihrem Vater hatte. Über 60 Prozent der alten Belegschaft der Zeitung wurden grausam verfolgt, angeblich weil sie sich gegen sie aufgelehnt hatten. Zu den vielen Gefolterten gehörte auch ein früherer enger Freund, der in einer unbedeutenden Angelegenheit anderer Meinung gewesen war.(24)
     Anfang 1968 verließ Li Na die Zeitung, weil ihr Vater auf Wunsch von Lin Biao seine persönlichen Kontakte im Militär reduzierte. Ihre nächste Stelle war aber genauso wichtig: Sie wurde Leiterin des Privatbüros der Kleinen Gruppe. Die Stelle wurde mit einem einfachen Mittel für sie geräumt, das typisch war für Madame Maos Vorgehensweise: Madame Mao beschuldigte den Leiter, ein Spion zu sein, und ließ ihn ins Gefängnis stecken;(25) Li Na übernahm dann seine Position bis zur Auflösung der Kleinen Gruppe 1969.
     Mao hatte für sie ein noch höheres Amt vorgesehen - die Kontrolle über Peking. Doch 1972 erlitt sie einen Nervenzusammenbruch,(26) und danach schwebte sie jahrelang, bis nach seinem Tod, zwischen Wahn und Wirklichkeit. Offenbar bekam Li Na im Gegensatz zu ihren Eltern die Verfolgung anderer Menschen nicht gut. Nach dem anfänglichen Eifer, die Anordnungen ihres Vaters umzusetzen, trieben sie die ständigen Schikanierungen, die man von ihr erwartete, in den Wahnsinn. In einem Fall nahm sie die Unterlagen über die Säuberungsaktion an einem Bekannten und dessen Selbstmord, warf sie aus dem Fenster und schrie dabei: "Gebt mir nichts mehr von diesem Quatsch! Ich habe das so unendlich satt!"
     Sie sehnte sich nach Zuneigung. Ihre Mutter hatte sie als Kind geliebt, doch jetzt beschränkte sie genau wie ihr Vater ihre Beziehung auf politische Angelegenheiten und gab ihr weder Wärme noch Trost. Li Na hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte, als sie auf einen Nervenzusammenbruch zusteuerte und immer höhere Dosen Schlaftabletten brauchte.(27) Als junge Frau hatte sie sich nach einer Liebesbeziehung gesehnt, aber mit Mao als Vater und vor allem mit Jiang Qing als Mutter wagte niemand, ihr den Hof zu machen, und es fand sich auch kein eifriger Kuppler, der Lust auf Schwierigkeiten hatte. Erst mit 31 Jahren, im Jahr 1971, trat sie selbst an einen jungen Diener heran. Als sie ihrem Vater schrieb und um die Erlaubnis zur Hochzeit bat, stellte er dem Boten nur ein paar grundlegende Fragen und schrieb dann einfach auf den Brief: "Genehmigt". Maos Hochzeitsgeschenk war ein Satz bleischwerer Wälzer, die er selbst nie gelesen hatte: die Werke von Marx und Engels.
     Weder ihre Mutter noch ihr Vater kamen zu ihrer schlichten Hochzeit, die Madame Mao nur grollend akzeptiert hatte, denn ihrer Meinung nach stand der Bräutigam als ehemaliger Diener weit unter ihrer Tochter. Am Anfang der Ehe schien Li Na anfällig für Erkältungen und Fieber, was Madame Mao auf die sexuelle Beziehung der beiden zurückführte, und sie ordnete eine für den Schwiegersohn demütigende körperliche Untersuchung an. Mit der Behauptung, er sehe aus "wie ein Spion", schaffte sie es bald, dass er in eine andere Stadt verbannt wurde. Die Ehe ging in die Brüche, und Li Na verfiel in tiefe Depressionen.
     Im Mai 1972 gebar Li Na einen Sohn, was ihr Leben kurz aufheiterte. Aber Jiang Qing mochte das Baby nicht, weil sie den Vater verachtete, und nahm es nicht ein einziges Mal auf den Arm. Mao zeigte wie schon bei seinen anderen drei Enkeln keinerlei Interesse.
     In dieser freud- und lieblosen Umgebung versank Li Na in geistige Umnachtung. Für Mao war sie einfach nutzlos geworden. Er sah sie immer seltener und kümmerte sich nicht um ihre geistige und körperliche Verfassung.(28)*

Auch an seiner anderen Tochter Chiao-chiao verlor Mao das Interesse, weil sie kein politisches Talent zeigte. Jahre zuvor, als sie als hübsche Zwölfjährige, exotisch in einen russischen Wollrock gekleidet und mit Lederschuhen an den Füßen, aus der Sowjetunion zurückkehrt war, Russisch sprach und sich wie eine Russin benahm, hatte Mao sie mit Zuneigung überhäuft und sie "meine kleine Ausländerin" genannt,(29) und sie war überglücklich gewesen. Aber nachdem sie ihren Unterhaltungswert verloren hatte und sich als Erwachsene als politisch nutzlos erwies, musste sie feststellen, dass ihr Zugang zu Mao eingeschränkt wurde. In den letzten Jahren seines Lebens bekam sie ihn nur noch selten zu Gesicht. Mehrmals ging sie zum Tor von Zhongnanhai, aber er weigerte sich, sie vorzulassen.(30) Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und verfiel jahrelang immer wieder in Depressionen.
     Maos ältester Sohn An-ying war 1950 im Koreakrieg gefallen, der einzige überlebende Sohn An-ching war psychisch krank. Mao sorgte dafür, das er ein angenehmes Leben hatte, aber besuchte ihn so gut wie nie und betrachtete ihn nicht einmal als Familienmitglied.(31) Gewöhnlich sagte Mao, seine Familie bestehe aus fünf Mitgliedern: ihm und Madame Mao, den beiden Töchtern und seinem einzigen Neffen Yuan-xin.
     Der Neffe hatte einen Großteil seiner Jugend bei Maos Familie verbracht. Während der Kulturrevolution wurde er, obwohl er erst Anfang dreißig war, zum Politkommissar des Militärbezirks Shenyang befördert und half Mao in dieser Position, die Mandschurei zu kontrollieren, die strategisch wichtige Region im Nordosten an der Grenze zur Sowjetunion.(32) Zu seinen bekanntesten Taten in späterer Zeit gehört der Hinrichtungsbefehl für eine mutige junge Parteiangehörige namens Zhang Zhi-xin, die Madame Mao und die Große Säuberung öffentlich kritisiert hatte. Kurz vor ihrer Erschießung warf man sie auf den Boden ihrer Zelle und schnitt ihr die Luftröhre durch, damit sie bei der Hinrichtung nichts mehr sagen konnte. Diese Grausamkeit war eigentlich überflüssig, denn den Hinrichtungsopfern wurde regelmäßig eine Kordel um den Hals gelegt, mit der man sie würgen konnte, falls sie versuchten, etwas zu sagen.(33)
     Yuan-xin gehörte allein schon wegen seiner Rücksichtslosigkeit zur Familie. Mao machte ihn in seinem letzten Lebensjahr zu seinem Verbindungsmann im Politbüro. Yuan-xins Vater, Maos Bruder Tse-min, war nicht zuletzt deswegen gestorben, weil Mao die Anweisung erteilt hatte, ihn nicht zu retten, als er Anfang der vierziger Jahre im Gefängnis in Xinjiang gewesen war - ein Umstand, der sorgfältig vor Yuan-xin und allen anderen geheim gehalten wurde.
     Mao war auch schuld am Tod seiner zweiten Frau. Kai-hui wurde 1930 hingerichtet, nachdem Mao sie verlassen hatte; die Exekution war eine direkte Reaktion darauf, dass Mao die Stadt Changsha angriff, in der Kai-hui lebte. Der Angriff hatte keinerlei praktischen Nutzen, sondern diente allein seinem persönlichen Machtstreben. Ebenso war er mitverantwortlich für die wiederholten Zusammenbrüche und schließlich den irreversiblen geistigen Verfall seiner dritten Frau Gui-yuan. Sie starb 1984 im Alter von 75 Jahren.
     Im Laufe der Jahrzehnte hatte Mao über nahezu jedes Mitglied seiner Familie Unglück gebracht. Sein letzter Verrat traf seine vierte und letzte Frau Jiang Qing. Sie hatte sich für ihn die Hände schmutzig gemacht, und obwohl er wusste, wie sehr sie gehasst wurde, traf er keine Vorkehrung für ihren Schutz nach seinem Tod. Im Gegenteil, er bot sie sogar der "Opposition", die sich gegen Ende seines Lebens regte, als Faustpfand an. Im Austausch für die Garantie seiner eigenen Sicherheit durften seine Gegner mit Madame Mao und ihren Anhängern, darunter auch Maos Neffe Yuan-xin, nach seinem Tod verfahren, wie sie wollten.(34) Weniger als einen Monat nach Maos Tod kam die ganze Gruppe ins Gefängnis, 1991 beging Madame Mao Selbstmord.(35)

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*) Heute hat Li Na sich erholt und führt ein normales Leben. Ihre Rolle in der Kulturrevolution hat sie offenbar "vergessen".


Mit freundlicher Genehmigung des Karl Blessing Verlages

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