Vorgeblättert

Leseprobe zum Buch von Juri Andruchowytsch: Moscoviada. Teil 1

31.07.2006.
auf daß sie auch diesmal
bei uns keine beute machen
Hryhori Tschubaj


Du bewohnst ein Zimmer im siebten Stock, die Wände vollgehängt mit Kosaken und Staatsmännern der Westukrainischen Volksrepublik; vor dem Fenster die Dächer Moskaus und freudlose Pappelalleen; den Fernsehturm von Ostankino sieht man nur von den Zimmern auf der anderen Seite aber du spürst seine Nähe; er strahlt etwas Einschläferndes aus, Viren der Kraftlosigkeit und Apathie, deswegen wachst du morgens einfach nicht auf, wanderst von Traum zu Traum, von Land zu Land. Du schläfst hingebungsvoll, meistens bis elf, also bis der Usbeke hinter der Wand seine betörende orientalische Musik, "bloß zwei Saiten an nem Stecken", voll aufdreht. Leise verwünschst du unsere Geschichte, die Völkerfreundschaft und den Unionsvertrag von 1922, denn eins steht fest: Weiterschlafen ist nicht. Um so weniger, als der Jude hinter der anderen Wand schon von seiner morgendlichen Pirsch durch die Läden zurückgekehrt ist, wo er diesmal, sagen wir, Seidenstrümpfe für seine unzählige alttestamentarische Verwandtschaft aus Birobidschan erstanden hat, für all ihre Glieder. Im Bewußtsein treuer Pflichterfüllung wird er sich jetzt hinsetzen, um neue Gedichte in mittelalterlichem Jiddisch zu verfassen, und er verfaßt sie auch wirklich ganze sieben vor dem Mittagessen und nachmittags noch mal drei. Alle werden in der Zeitschrift "Sowjetisch heijmland" abgedruckt, lebendiger Beweis für die unablässige Sorge des Staates um die Kultur der kleinen Völkerschaften.
     Für dich aber, Hurensohn, ist der Jude hinter der Wand lebendige Mahnung, daß auch du etwas tun solltest Seidenstrümpfe kaufen, Gedichte schreiben. Statt dessen liegst du im Bett und studierst mal wieder das Porträt des Diktators Petruschewytsch, die orientalische Musik hinter der Wand wird immer eindringlicher und einförmiger, sie fließt dahin wie das Wasser im Aryk Kamel- und Elefantenkarawanen, Baumwollplantagen, Hanfmafi a-Blues.
     Und du, der ukrainische Dichter Otto von F., spürst, wie der Zweifel an dir nagt, wie er immer größere Löcher in dich hineinfrißt, bis dich, wenn du eines Tages ganz durchsichtig und löchrig auf den Flur trittst, nicht einmal mehr die Kalmücken grüßen.
     Aber du kommst nicht dagegen an all deine Gedichte sind in den lichten Sphären der Ukraine zurückgeblieben. Die Moskauer Atmosphäre war zu dicht, zu undurchdringlich für ihren Nachtigallenschlag.
     Schon seit einer ganzen Weile laufen Gestalten auf dem Flur hin und her, eigentlich sind es Schriftsteller, und zwar aus "jedem Zipfel" der Sowjetunion, sie gleichen je - doch weniger Autoren als literarischen Gestalten, noch dazu aus der graphomanischen Literatur, gebacken nach den langweiligen Rezepten der großen realistischen Tradition.
     Du kannst ihre Schriftstellerstimmen unterscheiden: jedem von ihnen ist eine wie die an ihren früheren Wirkungsstätten erstellten Referenzen bezeugen "eigene, einzigartige und unverwechselbare Stimme gegeben", diese unverwechselbaren Flurstimmen sprechen miteinander, überkreuzen sich, durchschneiden sich, dringen ineinander ein, sie verkünden, daß das Teewasser kocht, singen "soeinmannsoeinmann", zitieren Wyssozki (Schwanezki), laden jemanden zum Frühstück ein, teilen mit, daß die Schlampe aus dem Abendkurs (dritter Stock, Zimmer 303) heute in Zimmer 727 übernachtet hat usw.
     Eine unauflösliche dialektische Einheit mit den Stimmen bilden die Gerüche ein Bouquet aus Müllschlucker, Alkoholfahne und Sperma. Pfannen zischen, Eimer und Schlüssel klappern, Türen knallen, denn es ist Samstag, vorlesungsfrei, und keine Sau soll versuchen, mich zu etwas zu zwingen, was ich nicht will. Die können mich alle mal.
     Langsam kommst du in der Wirklichkeit an, dir fällt ein, daß es vielleicht kein heißes Wasser gibt, daß die Schlampe aus 303 nicht, wie im Flur fälschlicherweise behauptet, in Zimmer 727, sondern in Zimmer 729 übernachtet hat, daß einer der Tschetschenen (wahrscheinlich aber alle Tschetschenen zusammen) dem Sportorg Jascha im Lift die Fresse poliert hat, daß der russische Dichter Jeschewikin, der am anderen Ende des Flurs wohnt, gestern schon zum fünftenmal im Fernsehen aufgetreten ist, dabei neunmal das Wort "GEISTIGKEIT" gebraucht und sich achtmal mit dem Handrücken den Schweiß von der verkaterten Stirn gewischt hat, daß du mal wieder daheim anrufen könntest, daß am Dienstag die Sitzungsperiode der Werchowna Rada beginnt, daß die ukrainische Übersetzung der "Sonette an Orpheus" die beste ist, die du kennst, daß sich das zweite Jahr deiner Moskauer Biographie dem Ende nähert und du noch immer nicht die Bierbar in der Fonwisin-Straße besucht hast, und während du all diese Dinge denkst, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, und viele andere, bei denen dies noch weniger der Fall ist, schaffst du es, aufzustehen, in Unterhosen gehst du durchs Zimmer, betrachtest die öde Landschaft vor dem Fenster (Pappeln und schwere, dunkle Regen wolken), zwingst dich zu ein paar Kraftübungen eins, zwei bis die Muskeln weh tun, als müßtest du damit deine Anwesenheit in Moskau, mehr noch: deine Existenz auf dieser Welt schlechthin rechtfertigen. Eine ziemlich armselige Existenz übrigens, die ER DA DROBEN einfach ignorieren könnte, wären da nicht ein paar geglückte Zeilen in einigen insgesamt mißglückten Gedichten, was natürlich in keiner Weise ausreicht für die große nationale Sache.

Hier also ein paar der erwähnten Gestalten. Ihre Stimmen haben dich heute früh so genervt, daß du jetzt mit ihnen abrechnen solltest, von F. Kannst ruhig ein bißchen Gift verspritzen, Alter.
     Bitte sehr. Zwei Frauen, zwei Blüten aus den Tiefen der großrussischen Provinz. Zwei Poetessen oder Poetinnen, nein, Entschuldigung, zwei Poeten, denn in ihren Kreisen ist es jetzt üblich, Zwetajewa-Achmatowa (Gorenko?) zu zitieren und zu betonen, daß das Wort "Poet" kein weibliches Geschlecht hat, weshalb ich alter Perversling mir diese ganzen Weiber mit prächtigen Penissen und Hodensäcken an den entsprechenden Stellen denke.
     Aber sei s drum. Zwei Frauen aus zwei tiefsten und von Moskau gleich weit entfernten Rußlanden. Zwei Amseln- Damseln, eine knapp über vierzig, die andere nahe dran. Eine verheiratet, die andere nicht welche, habe ich vergessen.
     So weit der Prolog. Jetzt zur Handlung. Sie haben unglaubliche Opfer gebracht. Beide haben ihr halbes Leben darauf verwendet, es bis hierher zu schaffen. Nach Moskau, für ganze zwei Jahre! Nach Moskau, wo man sie zweifellos endlich entdecken, sie fördern wird! Nach Moskau, um für immer zu bleiben! Um hier begraben (eingeäschert) zu werden! Nach Moskau, wo es Generäle, Sekretäre, Ausländer, Patrioten, Wunderheiler gibt wie Fliegen auf dem Misthaufen! Und vor allem massenhaft Bananen!
     Dieser Traum kommt mit der Geschlechtsreife. Ein mächtiger, lebenslanger Begleiter.
     Um ihn zu verwirklichen, muß man in der verdammten Provinz alle Kreise der Hölle durchschreiten. Intrigieren. Telefonieren. Invitieren. Mit Impotenten pennen.
     Und dann, nach Jahren voller Niederlagen und Verzweifl ung, gelingt es! Wird wahr! Beide reisen fast gleichzeitig an, durchmessen unabhängig voneinander die russischen Weiten. Machen sich ohne den kleinsten Hintergedanken miteinander bekannt, wirklich sehr erfreut, denn sie fühlen sich als Schwestern im Glück. Schon in den ersten Andeutungen werden gemeinsame Neigungen offenbar: Jessenin, nicht Pasternak, Rubzow, nicht Brodsky, jugendliche, eng anliegende Kleider aus Polyester, in den Miedernähten Taschen mit Reißverschluß, am Rükken eine Falte, dazu ein Gürtel als besonderes Accessoire. Noch am selben Tag, im süßen, erregenden Vorgefühl, daß alles sich zum Besten wenden wird, besuchen beide Puschkin, bringen ihm Blumen dar, einfach so, von sich aus. Denn beide lieben Puschkin und halten ihn sogar für den größten aller russischen Dichter und für ihren Lehrer. Puschkin mustert nachdenklich die Spitzen seiner Schuhe. Zu seinen Füßen verprügeln Typen in grauen Uniformen und schwarzen Baretten irgendwelche langhaarigen Kerle, die sich "Demokratische Union" nennen. Empört, wegen Puschkin, fahren die Provinzlerinnen zurück ins Wohnheim, um ihre Zimmer zu beziehen.
     Wie sich herausstellt, ist der Kommandant zwar Tschutschmeke, genauer, Daghestani, aber zum Glück noch recht jung: gut gebaut, breite Schultern, die Brust zweifellos dicht behaart, vierunddreißig Jahre alt, er zwinkert beiden zu, ohne daß die jeweils andere es merkt; schöne Zähne, braune Augen, Ramasanow Murtasa oder vielleicht auch umgekehrt Murtasajew Ramasan.
     Ramasan (Murtasa?) bietet ihnen Zimmer im siebten Stock an. Sie haben freie Auswahl. Es gibt Zimmer mit Blick auf den Schnapsladen und andere mit Blick auf das Gemüsegeschäft. Mit neuem Parkettfußboden. Mit zerbrochenem Fenster. Direkt neben der Toilette. Jedes hat seine Vorzüge.
     Aber da ist eine Variante, bei der beide sofort zugreifen. Ein sogenannter "Stiefel", zwei benachbarte Zimmer, vom Rest der Welt durch einen gemeinsamen kleinen Vorraum abgetrennt. Perfekt! Sie ziehen ein und laden sich gleich gegenseitig zum Tee ein. Reden bis tief in die Nacht über Puschkin, Jelzin, rezitieren eigene Verse, tauschen Lob aus, dann Gedichtbände, die in regionalen Verlagen auf zusammengespartem Papier erschienen sind. Und nicht der kleinste lesbische Hintergedanke.
     Womit wir beim Kulminationspunkt angelangt wären.
     Und die Auflösung? Langsam dämmert den beiden, daß sie eine fürchterliche Dummheit begangen haben. Der "Stiefel" wird zur Falle. Eine Falle für dumme Kühe, die sich diesen Schlamassel, Gott weiß warum, selbst eingebrockt haben. Ihr größtes Problem ist, daß Gruppensex für sie nicht in Frage kommt. Deshalb wird kein General verführt, nicht einmal der Daghestani. Sie belauern sich gegenseitig, leben, ihre Wut zähneknirschend unterdrükkend, ihr Nonnenleben, und die frühere einzigartige Verbundenheit verwandelt sich immer offensichtlicher in bodenlosen, schwarzen Haß.

Teil 2