Vorgeblättert

Lutz Seiler: Kruso. Teil 3

01.09.2014.
Krombach lächelte. Keine Spur von Ironie oder Zynismus in seinem glatten, glänzenden Gesicht. »Mirko, promoviert in Soziologie, er kommt wie du, Edgar, aus Halle an der Saale und wird hier bei uns Cavallo genannt. Und hier, vom gleichen akademischen Grad, sein Freund Rimbaud, unser Philosoph - hab schon fast vergessen, wie du wirklich heißt, mein Lieber, einmal geheißen hast, meine ich ...« Einen Moment lang stockte seine Hand auf ihrer Wanderung. »Kruso kennst du inzwischen, Schirmherr dieses Eilands, möchte man sagen, und auch Koch-Mike aus Samtens auf Rügen, mit dem du deine ersten Tage gearbeitet hast, ich habe darüber nur Gutes gehört. Rolf, unser fleißiger Smutje. Und dort, zu deiner Linken, sitzen Karo und Rick, das heißt Karola und Richard, unser Tresenehepaar, tatsächlich ein Paar! Sie und ich, wir haben, wenn ich das sagen darf, eine gemeinsame Vergangenheit, eine Hauptstadt-Vergangenheit, nicht wahr, sagen wir eine Palastgeschichte! Rick jedenfalls ist der, an den du dich wenden kannst in allen Fragen, er ist Chef der Bar und Chef des Service. Und rechts von dir René, unser Eisverkäufer, mein Schwiegersohn.«
     Allein die letzte Mitteilung des Direktors wirkte seltsam gepresst. Das Auf und Ab seiner weichen, auf Kopfhöhe erhobenen Hand und ihr Weiterrücken im Halbkreis von Stuhl zu Stuhl erinnerte Ed an die Erteilung des Segens. Schon während der Vorstellung hatte sich der Eisverkäufer angewidert abgewandt, weshalb Ed seinen Kopf zunächst gesenkt hielt, um ihm nicht ins Gesicht blicken zu müssen.
     »Vergessen wir nicht, dass wir alle auf irgendeine Weise Schiffbrüchige sind ...« Der Direktor hob beide Hände, als wollte er den Erdkreis einbeziehen in seinen Segen, seine Stimme wurde wieder leiser. Dann sah es so aus, als tauche er seine Hände in eine unsichtbare Wand oder in Wasser oder jedenfalls in etwas, das sich zwischen ihn und den Rest der Welt geschoben hatte.
     Ed war nervös. Der rednerische Aufwand machte ihn verlegen, zu viel für einen Abwäscher, einen Nachrücker zumal, und es fiel ihm schwer, sich auf Krombachs Predigt zu konzentrieren. In der Ecke über Koch-Mikes schwitzendem Walrossschädel hingen Fotos der Belegschaften vergangener Jahre. Bei einigen war der Jahrgang mit Filzstift auf den Rahmen geschrieben, 1984, 1976, 1968. Auf einem der Bilder, es war das von 1968, hoben alle Männer und Frauen gleichzeitig eine Bierflasche an den Mund. Die Aufnahme wirkte obszön, sie beeindruckte Ed. In einer zweiten Gruppe, praktisch übereck, den alten Besatzungen gegenüber, hingen die Bilder berühmter Gäste, von denen Ed nur Billy Wilder und Thomas Mann sofort erkannte, dann entdeckte er noch Lotte Lenya. Neben ihr eine winzige Reproduktion des Abendmahls von Leonardo. Darunter eine stilisierte Darstellung König Hedins, eine Gestalt aus der Edda, soviel Ed wusste. Das Bild zeigte zwei Männer im Kampf, eng umschlungen, dabei war nicht zu entscheiden, ob es um Tod oder Liebe oder vielleicht um beides ging. Die Bildunterschrift hieß »Hedin auf Hedinsey«. Berühmtheiten und Belegschaften waren so platziert, dass sie sich praktisch in die Augen sehen mussten. Über allen aber, schon knapp unter der Gaststubendecke und wie eine Ikone auf der Spitze des Altars, thronte die Fotografie Alexander Ettenburgs im Mönchsgewand, begleitet von einem Esel und einer Katze, »begreifen wir als das Vermächtnis des Urklausners ...« in diesem Punkt kannte Ed die Rede. Die neueste Fotografie war noch nicht gerahmt, nur mit Nadeln angesteckt, eine Aufnahme vom Saisonbeginn im April. Ed entdeckte den Mann, der Speiche sein musste. Er war groß und ausgesprochen schmal. Sein schiefes Lächeln zeigte eine Lücke zwischen den Schneidezähnen. Zuerst hatte ihn Ed an seiner Brille erkannt; warum hatte er seine Brille zurückgelassen?
     »... und die Insel hier unsere Rettung war, als uns nicht etwa das Meer oder ein Fisch, sondern das Land ausgespuckt hat ...« Während Krombach über »die weiteren Aufgaben des Klausners« sprach und ihn erneut »unsere Arche« nannte (offensichtlich war die Belegschaft entschlossen, das Gasthaus auf der Steilküste in diesem Jahr wenigstens bis Heiligabend, vielleicht auch den Winter über geöffnet zu halten und »hier oben beieinanderzubleiben«, wie Krombach es sagte, als ginge es um den Zusammenhalt einer Familie in schwieriger Zeit), träumte Ed, Teil der obszönen Besatzung von 1968 gewesen zu sein. Unauffällig sah er zu Kruso, um zu prüfen, ob auch er ein 68er war.
     Krusos Gesicht war jetzt starr, wie versteinert, und es sah aus, als würde er beten. Koch-Mike wischte sich das Wasser von der Stirn und knetete sein Schweißtuch zu einer kleinen Pyramide. Der Kellner, den Krombach Cavallo genannt hatte, atmete schwer und blickte nervös auf den Hof hinaus. Der Ventilator an der Decke machte ein feines Geräusch. Die nikotingelben, mit flockigem Schmutz verklebten Geräte waren ein Überbleibsel aus den zwanziger Jahren, der Ausstattung Emil Hirsekorns, eines Berliner Händlers von Herrenstoffen, »feinsten Stoffen«, wie es Krombach in seinem Abriss der Geschichte betonte, jedenfalls war es so in Eds Ohr geflossen oder an seinen Ohren vorübergeströmt. Das Schrappen der Ventilatoren versetzte den Klausner in eine südlichere Gegend, die in diesem Fall auch nördlich oder westlich liegen konnte, irgendwo im offenen Meer. Ihr unablässiges Wirbeln verstärkte die Drift; wie phantastische Propeller hoben sie den Persotisch mit seiner Frühstücks-Besatzung weit hinaus in den Raum, weiter noch, als er ohnehin schon von Land und Staat entfernt zu sein schien ...
     Als Ed wieder auftauchte aus seinem Traum, sah er, dass Krombach ihm seine Segenshand entgegenhielt, quer über den Tisch. Ed sprang auf, überrascht griff er nach der Hand und deshalb etwas zu hastig. Und Krombach drückte sie länger, als vielleicht nötig gewesen wäre. Wie man es Ed von Kindsbeinen an beigebracht hatte, blickte er dem Direktor dabei in die Augen. Auch Krombach sah ihn an, aber Ed spürte den Blick nicht. Er sah nur die glänzende, wie immer frisch gecremte Haut, von der das Auge eingefasst war, dann den wässrigen blauen Knopf mit dem schwarzen Punkt in der Mitte. Als hätte irgendeine Erschöpfung oder Krankheit das Sehen stumpf gemacht oder als käme das Sehen nicht mehr recht heraus aus den Augen des Direktors, der so fürsorglich und ernst wie ein wirklicher Kapitän gesprochen hatte. Tatsächlich ging kein Angeschautwerden von ihm aus, es war, als erblicke er nichts Bestimmtes - oder alles. Alles, was ihn und Ed und Kruso betraf, auch das, was noch kommen würde, ja, Krombach durchschaute ihn. Er konnte sehen, dass Ed die unausgesprochene Voraussetzung nicht erfüllte, dass er im Grunde ungeeignet war.
     »All hands on deck!« Alle hoben ihre Kaffeetassen, das Frühstück war beendet. »Prost Mahlzeit!« René schmetterte seine Tasse auf den Tisch und rülpste. Ohne weiteres drehte Krombach sich um und verschwand in seinem Kabuff. Ed gehörte zur Besatzung.


Die Christkiefer

Irgendwann in der Nacht verstummte das Rauschen. Die Brandung stand still. Der Wald stand still. Das Nebelhorn tönte.
     »Beim letzten Ton des Zeitzeichens ...«
     Ed tastete zur Dienstbodentreppe. Der Himmel war klar, ein unfassbares Gewölbe. Die Kiefern hatten ihn bereits erwartet; sie waren seine Freunde, mit ihnen konnte man reden. Alle zwanzig Sekunden streichelte der Fächer des Leuchtturms ihr Geäst.
     Es gab einen großen einsamen Baum, sehr weit vorn, schon am Rand der Schlucht - für einen Augenblick stand er vollständig im Licht, wie ertappt. Ein Flüchtling vor dem Abstieg ins Meer. Von den Esskaas wurde der Baum »unsere Christkiefer« oder auch nur »die Leuchtkiefer« genannt. Drei Tage zuvor hatten sie sich um ihren Stamm versammelt und dem Horizont zugeprostet - frohe Weihnachten und alles Gute für die kommende Saison. Es war einer ihrer Bräuche geworden. Zur Begründung hieß es, sie wollten das Fest mit ihren Nächsten teilen, ihrer »Familie«. Im Winter wäre man wieder allein, ohne einander. Sie hatten auch gesungen. Stille Nacht, heilige Nacht und O, du fröhliche. »Mein drittes Weihnachten auf der Insel«, sagte Rimbaud, der neben Ed auf der Terrasse stand. Einige Esskaas waren verkleidet, ein paar trugen Kerzen auf dem Kopf. Sie feierten das Fest zum Termin der Sommersonnenwende. Am Ende wanderten sie zum Essen ins »Karl Krull«, wo man Ente und Rotkohl servierte. Das Ganze glich einer Provokation, »aber sie meinen es nicht so«, erklärte Rimbaud.
     Rimbaud wohnte in der Bienenhütte, einer kleinen Baracke im Wald, ein Nebengelass, nicht weit vom Klausner. Er hatte dort sein eigenes Reich, und er empfing eigene Gäste. In wöchentlichem Wechsel waren das der Imker, der frische Königinnen auf die Insel brachte, und ein Mann, den er den Buchdealer nannte. In einem speziellen Tragegestell, das ihm wie die Kiste eines Kohlenträgers auf dem Rücken saß, schleppte der Buchdealer (er war Vertreter beim Verlag der Kunst) seine Ware ins Hochland des Dornbuschs, wertvolle Drucke, Prachtausgaben, aber auch die kostbaren Titel anderer, unerreichbarer Verlage, für die Rimbaud ihn mit Insel-Übernachtungen bezahlte.
     Ed fröstelte. Noch immer hatte er eine Hand an der Weihnachtskiefer; im Licht des Leuchtturms schimmerte ihre Rinde wie die Haut eines prähistorischen Tiers. Er trat nah an die Abbruchkante heran und lauschte in die Tiefe. Feines, leises Sieden. Wasser wurde ins Geröll geschoben und dann wieder zurückgezogen. Das schwere, asthmatische Atmen der Ostsee. Er beugte sich etwas nach vorn. Seine Fallsucht war noch da, vielleicht war sie schon immer da gewesen. Ed begriff, dass man das eigene Leben immerzu verteidigen musste, einerseits gegen das, was dauernd geschah, andererseits gegen sich selbst und die Lust, aufzugeben.
     Vom Personal waren ihm Kruso, Koch-Mike und das Tresenehepaar die Liebsten. Karola und Rick hatten ihn von Anfang an gut aufgenommen. Die Kellner bildeten eine eigene Gesellschaft. Chris erschien harmlos und gutmütig, aber mit Cavallo und Rimbaud war es anders; er konnte ihren Jähzorn spüren. Rimbaud wirkte gepflegt und in fast altertümlicher Weise auf männliche Ausstrahlung bedacht. Er war der Einzige, bei dem der Kellnerfrack wirklich saß. In seiner dicken, helmähnlichen Mähne glänzten ein paar silberweiße Strähnen, gleichmäßig verteilt und wie sauber hineingestrichelt.
     Cavallo und Rimbaud wurden öfter verwechselt von den Gästen, was wegen fehlender Ähnlichkeit allein mit der Tatsache begründet werden konnte, dass beide einen Schnauzbart trugen. Dabei war Cavallos Schnauzer viel schmaler, im Grunde nur ein feiner Strich auf seiner Oberlippe; Rimbauds Bart hingegen glich einem dichten, sorgsam beschnittenen Büschel, auf das er beim Reden oder Rezitieren gern den kleinen Finger legte. Trotzdem gab es immer wieder Kundschaft, die fragte, ob sie nicht Geschwister seien - »bei dieser Ähnlichkeit ...« Es war, als würde man Dalí und Nietzsche verwechseln. Sicher, diese Gäste wollten nur freundlich sein und aufgeschlossen (oder ihren Urlaubstag krönen durch ein Gespräch mit einem der Kellner des legendären Restaurants auf der Steilküste von Hiddensee, etwas, wovon man zu Hause gut erzählen konnte), wurden aber fortan nicht mehr bedient, weder von Cavallo noch von Rimbaud. Unter diesen Umständen war es gut, dass es Chris gab.
     Abgesehen davon, waren Cavallo und Rimbaud tatsächlich befreundet. Während der Arbeit spielten sie Schach, ihr Brett war immer aufgebaut, auf dem kleinen KellnerPausentisch, direkt vor dem Tresen. Blieb keine Zeit für den Pausentisch, riefen sie sich ihre Züge zu, quer über die Köpfe der Gäste. Für Ed glichen sie alten Tataren, die stundenlang nebeneinander durch die Steppe reiten und dabei ganze Spiele absolvieren konnten, nur auf Zuruf, ohne Figuren. Ab und zu hatte Ed auch René, den Eisverkäufer, am Pausentisch gesehen, der aber nicht spielte, nur das Brett bewachte. Der Eisverkäufer redete viel, machte Witze und lachte hohl in seine Eiskübel hinein.
     Trotz allem gerieten Cavallo und Rimbaud öfter in Streit, entweder ging es um Philosophie oder Politik, manchmal auch um Frauen. »Es geht nur um den Tagessieg«, erklärte Rick und stellte die dazugehörigen Getränke bereit.
     Vor einem Stützpfeiler mitten im Gastraum thronte die Kasse. Wann immer Rimbaud an das ungewöhnlich hohe Pult herantrat, fasste er das Foto seines Namenspatrons ins Auge und flüsterte die Frage.
     »Ruhm, wann kommst du?«
     Es handelte sich um die schlechte Reproduktion eines Jugendfotos, aus einer Zeitschrift gerissen und auf Pappe geklebt. Am Tag seines Dienstantritts hatte Rimbaud das Bild auf der Kasse platziert und sich damit seinen Namen erworben. Ed war bereit gewesen, das Ganze für eine der zahlreichen Geschichten zu halten, die über Rimbaud im Umlauf waren, aber dann hatte er es selbst gesehen - der erhobene Kopf, die Bewegung des Schnauzbarts.
     »Ruhm, wann kommst du?«


Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags

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