Vorgeblättert

Martina Hefter: Zurück auf Los. Teil 1

25.02.2005.
1.

Die Rezeption eines Hotels ist ein unentschiedener Ort, ohne rechte Bestimmung. Gäste betreten ihn und holen sich die Zimmerschlüssel. Sie melden sich und teilen kurz mit, daß sie am Leben sind. Für ein, zwei Minuten treten sie in ein anderes Leben ein, wühlen das Leben des an der Rezeption Diensthabenden auf, bevor sie den Schlüssel in der Jackentasche verschwinden lassen und aus dem schnell angetasteten Dasein eines anderen wieder herausgehen, mit einem leisen Schritt zur Seite. Stören Sie mich nicht, das ist es, was meine Haltung hinter dem Rezeptionstresen mitteilt, nehmen Sie den Schlüssel und hauen Sie ab.

Morgen wird Raimund aus meinem Haus ausziehen. Obwohl er die ganzen Jahre über seine eigene Wohnung besessen hat, sagen wir beide: Er zieht bei mir aus. Immerhin steht in der Stube ein Sessel, den wir gemeinsam bei einem Möbeldiscounter in der Kreisstadt gekauft haben, außerdem im Schlafzimmer ein Computer, der vorher in Raimunds Wohnung im Arbeitszimmer gestanden hat. Raimund brachte ihn im letzten Januar zu mir, weil mein Laptop für einige Zeit nicht funktioniert hatte, ein sehr alter Computer, die Kabel waren ineinander verdreht und ihre Enden schleiften im Schnee, als Raimund das Gerät über den Vorplatz ins Haus trug. Ein wahrer Strom aus Kabeln ist es gewesen, weshalb fällt mir das jetzt wieder ein? Raimund wird den Computer samt dem Kabelverhau morgen nicht mitnehmen, er brauche ihn nicht, hat er gesagt; dabei brauche ich ihn auch nicht mehr. Aber wie ist es, was den Computer betrifft, an jenem Tag weitergegangen? Aus irgendeinem Grund glaube ich, es müsse damals einen besonderen Zwischenfall gegeben haben, irgendeine Unterbrechung beim Einstecken und Verschrauben der Stecker auf der Rückseite von Gehäuse und Bildschirm, ich bin mir nicht mehr sicher. Vielleicht ist es ein Streit zwischen Raimund und mir gewesen oder ein komplettes Versagen des endlich angeschlossenen Geräts, eine kleine Schwierigkeit auch bloß bei der Zuordnung einer Buchse, eine leichte, winzige Verwirrung, oder eine Mißstimmung, ein Wort, das verärgert hingeworfen worden ist, ausgelöst bzw. hervor­gelockt von den Kabeln, vom Durcheinander der Kabel, ich weiß es nicht mehr genau. In einer Frauenzeitschrift habe ich einmal gelesen, solche Unklarheiten in der Erinnerung, wenn der andere geht, seien völlig normal, man brauche sich deswegen nicht zu schämen. Es soll Leute geben, die sich, in den Stunden, bevor sie vom anderen endgültig verlassen werden, kaum einer Einzelheit aus der gemeinsam verbrachten Zeit entsinnen. Nur noch große, unzusammenhängende Erinnerungsbrocken bringen sie zustande, man kann sagen, sie hätten vor der Trennung eine Art Blackout gehabt, eine Trotz- und Schutzreaktion des Körpers zugleich, um das Abstoßen des anderen zu erleichtern und sich vor übermäßigem Schmerz zu bewahren. Wie Fieber bei einer Erkältung, hieß es in der Zeitschrift.
Vielleicht vermute ich die Mißstimmung oder die Panne beim Aufbau des Computers nur deswegen, weil es, angesichts des Kabelverhaus, etwas Naheliegendes ist. Mit einem solchen Wust von Leitungen und Drähten kann diese Stunde doch gar nicht glatt verlaufen, es muß etwas schief gegangen sein, woher kommt es, daß ich mir immer das Schlimmste ausmale?

Aber wie wird der Tag später aussehen, nach Raimunds Auszug? Ein in einer Felsnische am Neunerköpflegipfel liegengebliebener Schneerest wird gegen Mittag im Sonnenlicht aufscheinen, wie schon den ganzen Monat über. Der Abend wird kommen, Einbruch der Dunkelheit gegen­­ einundzwanzig Uhr, die Lichter in den Häusern werden angeknipst, die Straßenlaternen flammen auf. Das soll das Gerüst des morgigen Tages sein, an das ich mich halte, wie jeden Tag? Das Aufleuchten, Aufflammen und Anknipsen der Lichter zu bestimmten Uhr­zeiten? Es sind bloß Irrtümer, diese Bildausschnitte, von mir nur falsch hervorgebrachte Ansichten vom Tag.

Heute abend werden Paul und seine Freundin für ein paar Tage kommen, ich werde sie an der Rezeption empfangen und ihnen einen Zimmerschlüssel geben wie den anderen Gästen auch. Paul wird seiner Freundin das Hotel zeigen, in dem er aufgewachsen ist und das fünfundzwanzig Zimmer hat, das ist also das Hotel, wird er sagen, und irgendwo anfangen.

Raimund hat auf meinem Sofa gesessen, als ich ins Hotel aufgebrochen bin. Da Raimund seine eigene Wohnung bereits vor einer Woche räumen mußte, wird er auch diese­ letzte Nacht in meinem Haus verbringen. Ich habe ihm, wie an den Abenden zuvor, eine Decke auf das Sofa gelegt, und Raimund hat sie auseinandergefaltet und sorgfältig auf dem Sofa ausgebreitet. Er hat sich auf die Decke gesetzt, genau in die Mitte, und die beiden Enden über den Beinen zusammengeschlagen, dann das rest­liche Deckenstück bis unter die Brust gezogen und den an einer Seite überstehenden Zipfel hinter den Saum gesteckt. Es macht dir doch nichts aus, wenn ich heute abend nicht da bin, habe ich gesagt, und Raimund, vertieft in das Befestigen des Deckenzipfels, sagte, er wolle sich sowieso einen Film im Fernsehen ansehen. Es ist das Letzte, was ich von Raimund gesehen habe: wie er sich in die Decke hüllt, wie er ein Haus innerhalb meines Hauses baut. Um die auf dem Fernsehgerät liegende Fern­bedienung erreichen zu können, wird er wenig später aufgestanden sein, vielleicht gerade, als ich aus dem Haus gewesen bin, und die Deckenenden werden sich bei dieser Bewegungsfolge wieder aus ihrer Verschlingung gelöst haben. Das Einwickeln in die Decke wird also vergeblich gewesen sein, eine der vielen kleinen, einer großen Handlung vorausgehenden Aktivitäten; die Handgriffe werden geringer, vager im Umfang, bis sie einer nur noch in ­Gedanken vollzogenen Geste gleichen. Aber was, wenn Raimund so sitzen geblieben sein wird, von der Decke umschlungen auf seinem Platz auf dem Sofa, und sich nicht rührt, nicht fernsieht? Dann wäre Raimunds Stillsitzen eine Folge aus allen Handlungen, die dem Ein­wickeln in die Decke einmal vorausgegangen sind, und somit ein Anfang, ein Größerwerden der Bewegung, ein Start.

Ich hätte mit Raimund ein letztes Mal reden können. Nach den Tagesthemen reden, oder nach dem Ende des Spätfilms, in die (da kein Licht eingeschaltet gewesen ist) plötzliche Dunkelheit des Wohnzimmers eine erste, zaghafte Silbe kommen lassen, über das Knistern hinweg, mit dem der Bildschirm schwarz geworden wäre. Ich hätte meiner Mutter sagen sollen, daß ich nicht an der Rezeption aushelfen könne, heute nicht, da Raimund morgen ausziehen werde. Er wird in sein vollbepacktes Auto steigen und unter den Berghängen über den Wiesenpfad davonfahren, hätte ich sagen können, auf der Bundesstraße, an der großen Kreuzung am Ortseingang Richtung Norden abbiegen wird er, und du fragst, ob ich heute abend arbeiten könne. Aber ich habe, wie immer, die notwendigen Sätze viel zu spät im Ohr gehabt, sie sind ein Echo dessen gewesen, was jemand anderer nur im Traum ausgesprochen hat.

Teil 2