Vorgeblättert

Salomon Malka: Emmanuel Levinas, Teil 2

15.03.2004.
Von der Habilitation zum "Adieu"

Wahl leitete das "College philosophique" zwanzig Jahre lang, doch Levinas sah man dort bis zum Beginn der sechziger Jahre nur selten.
Nach 1947 beschäftigte er sich vorwiegend mit dem Judentum. Er vertiefte sein Verständnis der Texte und studierte bei seinem erst spät entdeckten Lehrer Schuschani den Talmud. Zur gleichen Zeit betrieb er eine systematische Lektüre der Werke Hegels. Er schrieb damals nichts oder nur sehr wenig. In diesen Jahren reifte "Totalität und Unendlichkeit" heran, sein großes Werk, dessen Ursprünge Jacques Rolland zufolge in "Vom Sein zum Seienden" und in "Die Zeit und der Andere" zu finden sind.
Gerade in dieser Phase hat sich Jean Wahl für ihn eingesetzt und ihn ermuntert, seine Habilitation zu schreiben. Das Resultat wurde 1961 an der Sorbonne zum Ereignis, da es völlig aus dem Rahmen der damals üblichen soziologischen oder marxistisch beeinflußten Arbeiten herausfiel. Man hatte das Gefühl, Neuland zu betreten. "Wir beurteilen heute eine Habilitationsschrift", sagte Wahl, "über die man später andere Habilitationsschriften verfassen wird." - "Das beweist sein gutes Urteilsvermögen", kommentiert Tilliette, "er hat sich nicht geirrt." Der Philosoph Andre Jacob, der in der Rue d` Auteuil Levinas` Nachbar und in Nanterre sein Kollege war und der ebenfalls bei der Verteidigung anwesend war, erinnert sich an eine weitere Einschätzung Wahls: "Das ist kein Werk, das ist ein Meisterwerk!"
"Totalität und Unendlichkeit" ist Marcelle und Jean Wahl gewidmet. Das Buch erschien 1963, begrüßt vor allem durch einen hymnischen Artikel von Jean Lacroix im Feuilleton von 'Le Monde'. Lacroix schrieb: "Der Eindruck des Seltsamen und Fremden, buchstäblich Bewundernswerten, den man bei der Lektüre dieses Buches hat, rührt sicherlich von seinem gleichermaßen modernen wie traditionellen Charakter her. Eine religiöse Strömung, als Inspiration wirkend, durchzieht das gesamte Werk, ohne sich je als solche zu enthüllen. Die kartesianische Reflexion und die Kantsche Reflexion werden hier in ihrem Kern erfaßt und in Existenzbegriffe übersetzt. Die Rede vom Glanz des Daseins, die uns manchmal schon wie langweiliges Wortgeklimper anmutet, wird hier immer wieder unterstrichen und durch die doppelte Leidenschaft für den Menschen und für das Transzendente mit Leben erfüllt. Diese Philosophie hat Stil, wenn Stil die perfekte Entsprechung von Gehalt und Form ist."
Zehn Jahre später sollte Lacroix beim Erscheinen von "Jenseits des Seins" mit derselben Überzeugung, hier einer neuen Sprache zu begegnen, noch einmal zur Feder greifen.
Wahl war somit der Entdecker, der Anstachelnde und der Fährmann. Obwohl er durchaus als jemand galt, der sich leicht für eine Person begeistern, diese aber ebenso leicht wieder fallenlassen konnte ("Ich weiß nicht genau, ob ich gerade gut mit Gabriel Marcel stehe", sagte er einmal), machte der schwer einzuordnende, Levinas diametral entgegengesetzte Philosoph diesen zu seinem Protege. Obgleich Gandillac meint: "Wahl hat vielleicht Levinas beeinflußt, aber ich weiß nicht, ob Levinas Wahl beeinflußt hat", ist eine solche Beziehung wohl kaum ohne Gegenseitigkeit denkbar. Die Zuneigung des alten Lehrers hat der junge Philosoph immer mit Dankbarkeit zu erwidern gewußt. Dankbarkeit aber ist ein Levinas höchst gemäßes Thema und eine ihm höchst gemäße Haltung. Als Wahl 1974 starb (er hatte sich dem Tod anheimgegeben, indem er eine Operation am grauen Star verweigerte und es vorzog, seine letzten Jahre in seinem Zimmer in Morgenmantel und Pyjama quasi eingeschlossen zu verbringen), hatte er sich für seine Beerdigung einen Priester, einen Pastor und einen Rabbiner gewünscht. Ein Rabbiner kam nicht, dafür hielt Emmanuel Levinas eine Ansprache an seinem Grab.
Zwanzig Jahre später begab sich das bereits sehr geschwächte Ehepaar Levinas - ein erneuter Akt ihrer Treue - zu Wahls Tochter Beatrice nach Hause, um dem verstorbenen Dichterphilosophen ihre Reverenz zu erweisen.

Clochard und Prophet

Obwohl ich weder den Philosophen noch den Talmud-Gelehrten gekannt habe, erstaunte mich jedesmal die äußere Ähnlichkeit der beiden Fährmänner, die das Leben von Emmanuel Levinas so stark beeinflußt haben: Jean Wahl und Mordechai Schuschani. Das zerzauste Aussehen, die schief sitzende Krawatte, der zerbeulte Hut. Doch welche weiteren Parallelen wären zu ziehen? Die beiden Männer gehörten zwei völlig verschiedenen Welten an. Gerade zu dieser Zeit aber berührten sich diese beiden Welten.
Levinas war nie sehr auskunftsfreudig, wenn man versuchte, ihm etwas über Schuschani zu entlocken. Er hatte ihn gleich nach dem Krieg durch Dr. Nerson kennengelernt, hatte ihn bei sich aufgenommen, ihm ein Zimmer in der ENIO, unmittelbar über seiner Wohnung, vermietet und nahezu drei Jahre nächtelang unter seiner strengen Einleitung studiert. Man weiß nicht viel über ihn. Nicht einmal sein Name ist bekannt: Schuschani war nicht sein wirklicher Name. Man kennt weder seine Herkunft noch seinen Geburtsort, noch die Orte, an denen er aufwuchs, an denen er studierte. Was man aber weiß, und was alle bezeugen, die ihm begegnet sind, ist, daß er über das außergewöhnlichste Gedächtnis verfügte, daß er enzyklopädische Kenntnisse sowohl auf dem Gebiet des Judentums und der jüdischen Quellen wie auch der Mathematik, der Physik, der Philosophie, der Sprachen und Künste besaß. Er lebte sein ganzes Leben lang ohne festen Wohnsitz, wie ein Clochard, von einer Stadt zur anderen ziehend, von New York nach Straßburg, von Straßburg nach Paris, dann nach Jerusalem und schließlich nach Montevideo in Uruguay, wo er als völlig Unbekannter starb. Auf seinem Grabstein steht: "Seine Geburt und sein Leben sind geheimnisumwoben".
Wo immer er hinkam, sammelten sich um ihn kleine Gruppen von Schülern, die er gegen Kost und Logis und manchmal ein wenig Geld mit seinem reichen Talmud- und Bibelwissen überschüttete. Überall auf der Welt hinterließ er bei seinen Anhängern - darunter der Schriftsteller und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel - den Eindruck sagenhafter Gelehrsamkeit. Unvergleichlich war das, was er lehrte.
Wer also war dieser Mann, dessen Leben dem Lauf eines Meteors glich und den alle seine Schüler - verstreut in alle Winde - noch heute wie einen jüdischen Pico della Mirandola beschreiben?
Ich versuchte vor kurzem in einem bescheidenen Essay diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, mit dem Schuschani sich, seine Herkunft und sogar seinen Namen gerne umgab. Der israelische Philosoph Schmuel Wygoda warf mir vor, mit meinem Buch zu sehr auf das Rätsel der Person anstatt auf den Inhalt seiner Lehre einzugehen und durch meine Untersuchung mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet zu haben. Ich gebe zu, er hat recht. Traurig war nur, daß sich meine Erwartungen, durch die Veröffentlichung dieses Werkes weitere Augenzeugenberichte zu erhalten, nicht erfüllt haben. Ich bekam nichts, was geeignet gewesen wäre, meine Vorstellung von dieser seltsamen und in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Gestalt zu konkretisieren - und das bei Hunderten von Briefen aus Frankreich, Belgien, Uruguay, Israel, Griechenland und sogar aus Japan, die alle nur das wiederholten, was ich schon tausendmal gehört hatte. Manche vertieften gar noch das Geheimnis. Einer schickte mir per e-mail ein langes Schreiben, um mir von einer Begegnung 1942 in Terrasson und Schuschanis extremer Hellsichtigkeit in bezug auf alles, was in Europa vor sich ging, sowie von einer langen, großartigen Unterhaltung über Kunst zu berichten. Eine junge Frau von 20 Jahren wies mich darauf hin, daß in Henry Millers "Plexus" auf der und der Seite ein Doppelgänger Schuschanis portraitiert wird. Ich schlug nach und sah mich erneut auf einer falschen Spur. Cineasten interessierten sich für die Persönlichkeit. Experten schlugen mir eine graphologische Untersuchung vor. Viele Briefschreiber rieten mir, anders vorzugehen, andere Fragen zu stellen.
In Israel erschien eine lange Rezension von Yoram Brunovski in Ha`aretz, die einige Wirkung zeitigte. Abraham Oren, der in Straßburg geboren ist und heute im Kibbuz Sde Eliahu lebt, hat seine Erinnerungen im Bulletin dieses Kibbuz festgehalten. Er schreibt: "Nur wenige in unserer Gemeinschaft werden sich an einen launenhaften Menschen erinnern, der uns mitten in einem besonders heißen Sommer besuchte. Der Kibbuzsekretär gab sich Mühe, ihm unter den damaligen Umständen (denen der fünfziger Jahre) eine passende Unterkunft zu verschaffen. Er ließ sich schweißbedeckt in einer der Baracken nieder und lehrte einen kleinen Kreis die Tora. Es gelang schließlich, ihn zu überzeugen, daß er einer größeren Zuhörerschaft Unterricht gebe, was er dann an mehreren Abenden anhand des Buches Maleachi tat. Sein Lebensstil war seltsam. Er war peinlich bedacht auf seine Ernährung, sehr hart zu seinen Zuhörern, aber für all diejenigen, denen es gelang, sich auf sein Niveau emporzuschwingen, war es ein unvergeßliches Erlebnis. Der Mann beherrschte perfekt die Bibel, den palästinischen und den babylonischen Talmud, den Midrasch, den Sohar, das Werk des Maimonides ...
Er hörte sich an, wie wir irgendeinen Talmud-Traktat, ganz egal welchen, lasen, und konnte uns bei jeder Seite aus dem Kopf anhand eines Raschi- oder Tossafisten-Kommentars korrigieren. Nach kurzer Zeit verschwand der Mann ebenso plötzlich wie er gekommen war. Er konnte noch einige weitere Studienkreise an anderen Orten Israels gründen, so in Saad und in Beerot Jizchak. Einige wollten ihn mit einer hohen Funktion im Erziehungswesen betrauen. Doch auch hier weigerte er sich, wie überall sonst, seßhaft zu werden, und setzte sein Umherirren durch die Kontinente fort.
Bis zu seinem Tod konnte niemand ausfindig machen, wer denn eigentlich dieser Schuschani war. Ich erinnere mich noch an sein Auftauchen in Straßburg vor dem Zweiten Weltkrieg. Und nach der Schoah, als wir die Überlebenden der Lager bei uns aufnahmen, war er wieder bei uns... Er sprach praktisch alle bei den europäischen Juden gebräuchlichen Sprachen. Seine Kenntnisse in der Literatur, den Wissenschaften, besonders der Mathematik, waren phänomenal."
Was aber war der Inhalt seiner Lehre, seine Vision des Judentums, seine Herangehensweise an die Texte? 

Spuren eines Rätsels

Die einzige Spur von Schuschanis Lehre findet sich in Levinas' Büchern, in seinen Talmud-Lektionen und in seinen Raschi-Stunden. Es sind genau diese Texte, die den Geist seiner Lehre fortsetzen.
Was übernahm Levinas von Schuschani? Etwas, das er gerne als Paradoxon formulierte: Die Bibel sei nur Israel eigen, den Beitrag zum Universalen stelle der Talmud dar.
Was verdankt Levinas Schuschani? Er hat es selbst François Poirie anvertraut: "Ganz gewiß hat die Geschichte des Holocaust für mein Judentum eine viel größere Rolle gespielt als die Begegnung mit diesem Mann. Aber er hat mein Vertrauen in die Bücher wiederhergestellt."
Levinas hat sich nicht zugunsten Schuschanis von Jean Wahl abgewandt. Er traf sich während dieser Zeit mit beiden. Doch das Studium mit diesem fremden Menschen, jene schlaflosen Nächte voller Neuentdeckungen, haben mit Sicherheit sein Leben und sein Werk in eine andere Richtung gelenkt. Nicht jedoch in der Weise, oder wenigstens nicht genau so, wie es oft verstanden worden ist: als eine Rückkehr zum Judentum. Man glaubte, Schuschani habe ihn zu seinen Wurzeln zurückgeführt, von seinem Werk abgehalten, vom weltlichen Leben abgekehrt. Das stimmt so nicht.
Levinas war sein Judentum immer wichtig gewesen, "wie meine eigene Substanz", sagte er. Und er hatte es niemals aufgegeben. Zweifellos kann man für die Zeit zwischen 1923, als er in Straßburg ankam, und 1933, dem für ihn so entscheidenden Datum, eine gewisse Distanz feststellen. Es war die einzige Zeit, in der er weniger jüdische Schriften las, weil er Französisch lernen und sich auf die Ausbildung zum Philosophen konzentrieren mußte. Doch selbst in diesen Straßburger und in den ersten Pariser Jahren kehrte er im Sommer stets nach Litauen zurück, zu seinen Wurzeln, seiner Familie und den traditionellen Büchern seiner Eltern. Es gab also in dieser Periode ein gewisses Abstandnehmen, aber nicht mehr. Es gab niemals "richtige Schnitte und auch keine richtige Rückkehr". Zwei schockartige Einschnitte aber gab es: 1933 Hitlers Aufstieg zur Macht und 1945 die Begegnung mit Schuschani.
Für Jacques Rolland waren die Auswirkungen dieser beiden Ereignisse auf Levinas` Leben keineswegs gleichgewichtig: "Ich bin überzeugt, daß für ihn das entscheidende Datum 1933 gewesen ist. Ich habe dies zu seinen Lebzeiten behauptet und keinen Widerspruch von ihm erfahren, wo er mir doch in anderen Punkten durchaus widersprochen hat. Das war das Grauen. Daß Hitler die Macht erlangen konnte, und was es für die Juden bedeutete, nicht mehr nur wie in den vergangenen Jahrhunderten dem christlichen Antijudaismus ausgesetzt, sondern unlösbar an ihr Judentum gefesselt zu sein, und der Verrat Heideggers ... Wenn man also überhaupt von einer Rückkehr sprechen will, dann hat sie 1933 stattgefunden. 1945/46 hat es sich dagegen nicht um eine Rückkehr gehandelt. Er und einige andere hatten sich vorgenommen, das Judentum in Frankreich spirituell und intellektuell wiederaufzubauen. Und ich glaube, daß ihm genau in diesem Moment die Notwendigkeit, auf den Talmud zurückzugreifen, bewußt geworden ist. Die biblische Erziehung, die er in seiner Jugend erhalten hatte, reichte zur Lösung dieser gewaltigen Probleme nicht aus. Doch ich füge hinzu, was die ersten zwanzig Seiten seiner Einführung zu den "Vier Talmud-Lesungen" - die ja ein Manifest darstellen - schon klar aussprechen: daß es zwischen der Größe der vom Talmud aufgeworfenen Probleme und der Größe der philosophischen Probleme keinen Unterschied gibt; und daß die Notwendigkeit der intellektuellen Strenge in beiden Gebieten genau dieselbe ist."
Wahl und Schuschani, der Poet und der Prophet, der Universitätslehrer und der Rastlose. Zweifellos sind dies auch zwei Seiten von Levinas - vielleicht sogar zwei Versuchungen. Diese beiden Männer haben für sein Leben viel bedeutet: Der eine, weil er ihm durch unablässigen Zuspruch zu seiner Universitätskarriere verhalf, der andere, weil er seinen Blick auf die hebräischen Quellen seiner Kindheit lenkte und ihm dadurch neue Wege eröffnete. Zwischen der Gestalt des Juden ohne jüdische Identität und der des tiefverwurzelten Juden, zwischen dem Philosophen auf der einen und dem Talmudisten auf der anderen Seite, war Emmanuel Levinas berufen, seinen eigenen Weg zu finden, der vielleicht die beiden Inspirationsquellen vereinigen würde.

Teil 3