Vorgeblättert

Salomon Malka: Emmanuel Levinas, Teil 1

15.03.2004.
II GESICHTER
1. DER FÄHRMANN UND DER METEOR

Levinas, Jean Wahl und Schuschani 

Emmanuel Levinas' Lebensweg wurde auch von Begegnung zu Begegnung, von Dialog zu Dialog, von Debatte zu Debatte durch Gesichter - oder, wie er gerne sagte, "Antlitze" - , in die er blickte, durch Eigennamen (wie eines seiner Bücher heißt) und ihn prägende Personen bestimmt. Unter denen, die ihm nahestanden, als er noch keine akademische Laufbahn eingeschlagen hatte, spielten insbesondere zwei Persönlichkeiten eine entscheidende Rolle: Der Metaphysiker Jean Wahl und der Talmudist Mordechai Schuschani. Beide wirkten gleichermaßen frei und rätselhaft, wenngleich auf völlig verschiedene Weise. Und beide inspirierten - jeder auf seine Art - Levinas und sein Werk so sehr, daß er, wenn auch bisweilen nur andeutungsweise, stets bereit war einzugestehen, was er ihnen verdankte.
1947, als "Vom Sein zum Seienden" erschien, lud Jean Wahl Emmanuel Levinas zu einer Vorlesungsreihe ins "College philosophique" ein. Levinas, der unter den schwierigen Bedingungen der Nachkriegszeit Direktor der ENIO geworden war, hatte zu dieser Zeit de facto auf eine Universitätskarriere verzichtet. Damals galt es, für sich, seine Frau und die 1935 geborene Tochter Simone den Lebensunterhalt zu verdienen. Vor allem aber hatte Leon Brunschvicg, dessen Vorlesungen er eine Zeitlang gehört und der an der Sorbonne das Sagen hatte, ihm den Gedanken an ein Staatsexamen ausgeredet. Laut Maurice de Gandillac, dem Weggefährten aus Davoser Tagen, soll Brunschvicg sich dem jungen Philosophen gegenüber sogar folgendermaßen geäußert haben: "Mit Ihrem Akzent kommen Sie niemals durch die mündliche Agregationsprüfung!" Damit war also die Karriere vorbei. Nichtsdestotrotz schrieb Levinas weiter und veröffentlichte in Fachzeitschriften. Er besuchte die Soireen bei Gabriel Marcel - Seminare, die der Autor des "Metaphysischen Tagebuchs" jeden Freitag bei sich abhielt. Der christliche Philosoph, der auch fürs Theater geschrieben und sich in der Malerei versucht hatte, verkörperte zu dieser Zeit im Unterschied zu Sartre einen an Glaubensfragen ausgerichteten Existentialismus. Darin Martin Buber nahestehend, hatte er eine Philosophie der Beziehung, vor allem der zwischenmenschlichen Beziehung entwickelt, die Levinas nicht gleichgültig lassen konnte. Der junge Direktor der ENIO begegnete bei dem alten Meister in der Rue de Tournon einem eher antikonformistischen Milieu, in dem man, unbelastet von den Zwängen der Universität, einem freien Zugang zur Philosophie den Vorzug gab.
Levinas besuchte auch die Vorlesungen Alexandre Kojeves in der "Ecole pratique des hautes etudes". Hier ging es um anderes. Der russische Denker, der zunächst einige Zeit in Deutschland verbracht und dann die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, faszinierte damals ganz Paris. Die Vorlesungen dieses Mannes, der Hegel auf eine ganz andere Weise zu lesen lehrte, Vorlesungen, die später von Raymond Queneau anhand von Mitschriften herausgegeben wurden, zogen so verschiedene Persönlichkeiten wie Sartre, Caillois, Bataille und Lacan in ihren Bann. Seine geistreichen, von Marx und Heidegger ausgehenden Variationen über die Dialektik von Herr und Knecht sollten Generationen von Studenten beeinflussen. Sein Seminar wurde für viele zum unvergeßlichen Erlebnis. Durch seine Teilnahme bewies Levinas, wieviel Wert er noch Jahre nach Davos darauf legte, über die Ereignisse der philosophischen Welt unterrichtet zu bleiben, während er sein eigenes Denken im Umgang mit seinen Zeitgenossen weiterentwickelte.
Schließlich arbeitete er auch in der "Societe francaise de philosophie" mit, wo er oft mit Jean Wahl zusammentraf. Zwischen den beiden Männern, die sehr verschieden waren und unterschiedlichen Generationen angehörten, entstand gleichwohl eine enge Freundschaft.
Der Jesuitenpater Xavier Tilliette, der am "Institut catholique" in Paris und an der Gregoriana in Rom lehrte und seine Habilitation über Schelling bei Jean Wahl geschrieben und verteidigt hatte, hat beide gekannt. Im Gespräch entwarf er ein köstlich ironisches Portrait seines alten Lehrers, "mit seinem obligatorischen Schal, dem langen, bis zum Boden reichenden Mantel, dem verbeulten Hut, dem Eulengesicht. Man hätte ihn für einen Clochard halten können." Im "College philosophique", das Levinas mehrmals besuchte, stellte Wahl, über Papierstöße gebeugt, einige kurze Fragen, so wie eine Wespe mit ihrem Stachel zusticht, und murmelte, ohne die Antwort abzuwarten, sein ständiges "Ouais, ouais!" (Ja, Ja!). 

Der poetische Metaphysiker

Jean Wahl, eine leicht exzentrische Persönlichkeit, Philosoph, Philosophiehistoriker und bisweilen auch Dichter, genoß in der französischen Universitätslandschaft eine Sonderstellung. Er stand ein wenig abseits vom Existentialismus, gehörte jedoch durchaus dazu, war von künstlerischem Temperament und man konnte ihn als Besucher surrealistischer Ausstellungen und Verfasser von französischen und englischen Gedichten erleben. Als Wegbereiter Kierkegaards in Frankreich hielt er Vorlesungen über Heidegger und hatte nach Brunschvicg den Lehrstuhl für Metaphysik und den für Allgemeine Philosophie an der Sorbonne inne.
"Obwohl siebzehn Jahre Altersunterschied zwischen ihnen lagen", berichtet Tilliette, "war die Freundschaft zwischen Levinas und Wahl eine gleichberechtigte und sehr herzliche." Levinas besuchte Wahl sehr oft zu Hause. Tilliette erinnert sich sogar, es sei einmal von Hebräischunterricht die Rede gewesen, den Levinas ihm erteilt habe: "Madame Wahl wollte unbedingt, daß ihr Mann eine Religion praktiziere, welche auch immer. Wenn er nicht katholisch oder evangelisch sein wolle, so mache das nichts, dann solle er eben ein guter Israelit werden. Sie wollte, daß er Hebräisch lernte. Doch es klappte nicht. Wahl war störrisch." Wahl, der viele Sprachen beherrschte, der die Tragödien des Sophokles und Aischylos im Original las und ebenso fließend englisch wie deutsch schrieb und sprach, war allergisch gegen das Erlernen der Sprache der Bibel.
Nichts jedoch zeigt den exzentrischen, um nicht zu sagen rebellischen Charakter Jean Wahls besser als sein Verhalten während des Krieges. Es gleicht einem Heldenepos. Er verhielt sich unbotmäßig und unvernünftig. Zunächst weigerte er sich, den gelben Stern zu tragen. Als er aus dem Amt gejagt und von der Universität verwiesen worden war, lehrte er auf seine Weise weiter. Er versammelte junge Leute in einem Hotelzimmer in der Rue des Beaux-Arts und studierte mit ihnen Texte, unter anderen auch von Heidegger.
Dann, im Juli 1940, beschloß er, sich in den Rachen des Löwen zu werfen und stellte sich eines schönen Morgens der Gestapo. Man ließ ihn warten. Da wurde er wütend, schritt einfach in das Büro und schmetterte einen Stoß Bücher so provozierend auf den Tisch, daß ihm dies die sofortige Verhaftung und eine mehrwöchige Inhaftierung in Drancy eintrug.
Gandillac zufolge, der an der Sorbonne sein Kollege war, wurde Wahl auf Betreiben eines ehemaligen Philosophieprofessors namens Gillet, der eine Zeitlang Mitglied im Kabinett Marschall Petains war, wieder freigelassen. Wahls ehemaliger Schüler Pierre Boutang, der eigentliche Initiator dieser Intervention, brachte ihn anschließend in Marokko unter und half ihm später bei der Flucht nach Amerika.
Über seine Befreiung aus Drancy im Herbst 1941 berichtet Tilliette, was er seinerseits von Jankelevitch erfahren hat: nachdem es schließlich nicht ohne Mühe gelungen war, Wahl aus dem Lager herauszuholen, bereitete er sich auf seine Flucht in die USA vor. Seine Freunde waren zusammengekommen, um ihn zu feiern, da flüsterte einer seiner Schüler ihm bewegt zu: "Herr Professor, wie glücklich Sie sein müssen!" Da habe er sanft und lakonisch geantwortet: "Ja, so ziemlich!"
Nach dem Krieg kehrte Wahl - inzwischen verheiratet und mit drei Kindern - aus Amerika zurück. Damals gründete er eine Institution, die den Kreis fortführen sollte, den Marie-Madelaine Davy vor dem Krieg ins Leben gerufen hatte. Die Professorin für Geschichte der Philosophie und Mystik des Mittelalters hatte Vorlesungen im Quartier Latin organisiert, zu denen sie junge Leute in die Rue Cujas gegenüber der Sorbonne einlud. 

Im "College philosophique"

Wahl fand bald einen Namen und einen Ort für diese Zusammenkünfte. Das "College philosophique" - so seine Bezeichnung - traf sich in einem gemieteten Saal gegenüber der Kirche von Saint-Germain-des-Pres. Es sollte ein lebendiges Forum für Philosophen, Schriftsteller und Künstler sein. Die Form war jedoch nicht besonders originell: Ein Vortragender sprach zu seinem Publikum.
Die Einführungen zum jeweiligen Thema hielt Wahl selbst, aber auf seine eigene ungewöhnliche Weise: sich in Einzelheiten verzettelnd, assoziativ, die Genera vermischend. Die Sitzungen fanden ein Mal pro Woche statt und dauerten zwei Stunden. Michel Butor kassierte am Eingang den Eintritt. In den ersten Jahren gaben sich hier Gabriel Marcel, Jean-Paul Sartre, Alexandre Koyre, Francis Jeanson, Vladimir Jankelevitch, Jacques Lacan und andere die Klinke in die Hand. Manchmal erschien niemand oder kaum jemand. An anderen Tagen, wie zum Beispiel 1946 zu Sartres Vorlesung "Der Existentialismus ist ein Humanismus", war der Saal zum Bersten voll.
Levinas wurde zu einem Zyklus von vier Vorlesungen eingeladen, aus dem der Band "Die Zeit und der Andere" hervorgehen sollte. "Das Ziel dieser Vorlesungen", sagte er einleitend, "besteht darin, zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamen Subjektes, sondern das Verhältnis des Subjektes zum anderen ist." 
Tilliette, ein treuer Besucher dieser Vorlesungen, erinnert sich: "Levinas war bis dahin bloß ein Name. Man erwartete nicht, daß er einmal bedeutende Bücher schreiben und ein berühmter Philosoph werden würde. Er hatte das Buch über die Anschauung bei Husserl geschrieben, das sehr französisch, sehr klar und ganz anders geschrieben war als seine späteren Schriften, bis hin zu dem überladenen Stil von "Jenseits des Seins". Er war, in der Stille wirkend, einer jener französischen Philosophen, die eine Randexistenz führten, da sie nicht am universitären Leben teilnahmen. Letztlich wie Brice Parain und Maurice Blanchot."
Die Tatsache, daß Levinas damals keine Universitätslaufbahn beschieden war, wirft ein anderes Licht auf seine sozusagen in völliger Einsamkeit erreichte Reife. Nicht nur das Denken, sondern auch die Sprache mußte gezwungenermaßen aus sowohl biographischen wie philosophischen Gründen gesucht und gefunden werden.
Daher haben diese ersten Vorlesungen bei Tilliette auch keine unauslöschlichen Erinnerungen hinterlassen. "Er kämpfte mit seiner schwachen Stimme und der ungenügenden Artikulation, aber es gelang ihm dennoch, das Publikum zu fesseln. Als Professor war er im allgemeinen nicht besonders brillant, außer, gegen Ende seines Lebens, in einer Vorlesung über den Tod, von der mir Freunde berichtet haben. Bei diesen Anlässen hingen wir alle an seinen Lippen, es gab Formulierungen, die beeindruckten, aber es war schwer, ihm zu folgen. Seine Art zu sprechen war außergewöhnlich. Letztlich war es eine künstliche, ein wenig wunderliche Sprechweise, hinter der man das Russische, das Deutsche, das Hebräische erahnte. Etwas Schroffes und Künstliches, noch dazu mit seltsamen Betonungen. Auch seine Schreibweise ist ziemlich einzigartig. Wenn Sie so wollen, eine artifizielle Art zu schreiben, wie in Molltonart geschrieben, en mineur. Doch ich glaube, daß diese Sprache, die er geschaffen hat und die sich sehr von der Sprache Blanchots unterscheidet - Blanchot schreibt ganz anders - , in allen seinen Lebensphasen hochinteressant ist. Sie ist von seiner Philosophie nicht zu trennen."

Teil 2