Vorgeblättert

Stefan Müller-Doohm: Adorno, Teil 3

04.08.2003.
Prägte der Schock, im Exil als "enemy alien" behandelt zu werden, den Grundton der Texte? In ihrer Summe bringen die Minima Moralia jene Trauer und Verzweiflung zum Ausdruck, die der Autor selbst auf seine eigene Erfahrung der Heimatlosigkeit zurückführte. Nicht umsonst hatte er im ersten Teil der Aphorismen einen Satz aus dem Roman Der Amerikamüde (1855) des österreichischen Dichters Ferdinand Kürnberger vorangestellt: "Das Leben lebt nicht". Amerikamüdigkeit spricht aus dem Aphorismus mit dem Titel "Schutz, Hilfe und Rat", in dem Adorno registrierte, daß durch Vertreibung und Exil die "Kontinuität des gelebten Lebens" zerbrochen ist. Der Emigrant "lebt in einer Umwelt, die ihm unverständlich bleiben muß, [. . .] immerzu ist er in der Irre. [. . .] Enteignet ist seine Sprache und abgegraben die geschichtliche Dimension, aus der seine Erkenntnis die Kräfte zog." Als wäre es ein heimlicher Kommentar zu seinem Konflikt mit Bloch, fuhr er fort: "Wer selbst der Schmach der unmittelbaren Gleichschaltung enthoben ist, trägt als sein besonderes Mal eben diese Enthobenheit, eine im Lebensprozeß der Gesellschaft scheinhafte und irreale Existenz. Die Beziehungen zwischen den Verstoßenen sind mehr noch vergiftet als die zwischen den Eingesessenen. "(641) Gerade weil unter den Emigranten die häusliche Sphäre ihre Privatheit eingebüßt habe, zugleich in der Öffentlichkeit die Indiskretion persönlicher Bekenntnisse salonfähig geworden sei, müsse man wachsam sein bei der Frage des persönlichen Umgangs, dürfe sich weder blind an die angeblich Einflußreichen noch an die beflissen hilfsbereiten Personen halten. Aber folge man der Maxime der zurückgezogen bescheidenen Lebensführung, so drohe nichts Geringeres als der "Hungertod [. . .] oder [. . .] Wahnsinn."(642) 
Diese Aphorismen, die abgesehen von Adornos intimen Tagebucheintragungen(643) zu seinen persönlichsten Aufzeichnungen gehören, bringen einerseits zum Ausdruck, daß seine Exilerfahrungen von dem Gefühl beherrscht waren, ausgeschlossen, heimatlos zu sein. In der Fremde schmecke "jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden. "(644) Andererseits hatte die Empfindung des Entwurzeltseins, des Losgelöstseins aus den Traditionen der bürgerlichen Herkunft für ihn ein Moment von Autonomie und Freiheit. Als Marginalisierter lernte Adorno die soziale Zwischenstellung jenes Kritikers der Gesellschaft kennen, der sich in ihr aufhält und doch zugleich nicht ganz integriert ist. Dieser Schwebezustand zwischen drinnen und draußen war aus seiner Sicht der ideale Beobachtungsposten. Ungebundenheit in diesem Sinne war der Erfahrungshintergrund und zugleich der Bezugspunkt moralischer Urteilsbildung. Adorno gelang es, die Blicke auf das gesellschaftliche Leben von dem exterritorialen Bezirk des Niemandslands aus zu richten. Die privilegierte persönliche Situation hielt ihn nicht davon ab zu registrieren, daß das Leben zu einer "zeitlosen Folge von Schocks"'(645) geworden sei, vermittelt durch die täglichen Zeitungsberichte und Wochenschaubilder über denweltweiten Krieg und die Menschenvernichtung. Weder die relative Sicherheit der materiellen Lebensumstände, deren sich Adorno bewußt war, noch der Blick auf die zauberhafte Landschaft und den in der Ferne glänzenden Pazifik haben ihn verführt, sich je über das Zufällige des Entronnenseins zu täuschen. "Noch der Baum, der blüht, lügt in dem Augenblick, in welchem man sein Blühen ohne den Schatten des Entsetzens wahrnimmt; noch das unschuldige Wie schön wird zur Ausrede für die Schmach des Daseins, das anders ist, und es ist keine Schönheit und kein Trost mehr außer in dem Blick, der aufs Grauen geht, ihm standhält und im ungemilderten Bewußtsein der Negativität die Möglichkeit des Besseren festhält."(646)
Die Stimmungslage von Adornos "dialogue interieur" kontrastierte in auffälliger Weise mit den privaten Äußerungen in seinen Briefen. Obwohl er die komfortable Wohnsituation in der South Kenter Avenue persönlich schätzte, diagnostizierte er in einem seiner Aphorismen, man könne heute nicht mehr wohnen, ja, es gehöre zur Moral, "nicht bei sich selber zu Hause zu sein."(647) Als beschriebe er seine eigene Wohnsituation, warf er die Frage auf: "Was bedeutet es fürs Subjekt, daß es keine Fensterflügel mehr gibt, die sich öffnen ließen, sondern nur noch grob aufzuschiebende Scheiben, keine sachten Türklinken sondern drehbare Knöpfe, keinen Vorplatz, keine Schwelle gegen die Straße, keine Mauer um den Garten?"(648) Auch über die amerikanische Landschaft, die er in seinen Briefen bewundernd erwähnte, führte er Klage, weil die Straßen "allemal unvermittelt in die Landschaft gesprengt [sind], und je glatter und breiter sie gelungen sind, um so beziehungsloser und gewalttätiger steht ihre schimmernde Bahn gegen die allzu wild verwachsene Umgebung."(649)
Adornos Beobachtungen registrieren idiosynkratisch die Auflösung der bürgerlichen Welt, so daß die antibürgerlichen Intellektuellen - "die letzten Feinde der Bürger [. . .] und die letzten Bürger zugleich"(650) - in die paradoxe Situation gekommen seien, die Ruinen des Bürgertums gegen seine spätbürgerlichen Feinde zu verteidigen. Aber trotz seiner Kritik an der amerikanischen Massenkultur spielte er keineswegs die vergangenen bürgerlichen Formen von universaler Bildung und höherer Kultur gegen die nivellierenden Konformitätszwänge der Gesellschaft aus, in der er lebte: Die guten Eigenschaften der bürgerlichen Lebensform wie Autonomie und Voraussicht haben ihre Kehrseite enthüllt und sich als Egozentrik und Sturheit erwiesen. "Die Bürger haben ihre Naivetät verloren und sind darüber ganz verstockt und böse geworden."(651)
Die Niederschrift einiger Aphorismen war offensichtlich auch der persönliche Versuch Adornos, seine unglücklichen Liebesbeziehungen zu verarbeiten. Er ordnete sie dem dritten Teil seiner Sammlung zu, dem er ein Motto voranstellte - die letzte Zeile eines Gedichts von Baudelaire: "Avalanche, veux tu m?emporter dans ta chute?" (dt. "Lawine, willst du in deinem Sturz mich mit dir nehmen?").(652) So reflektierte er über das Unrecht, das dem Zurückgewiesenen widerfahre, aber nicht zur Anklage werden dürfe, "denn was er wünscht, kann nur aus Freiheit kommen." Wenn die liebende Zuwendung versagt werde, dann bekomme der Zurückgewiesene "das Unwahre aller bloß individuellen Erfüllung zu spüren. Damit aber erwacht er zum paradoxen Bewußtsein des Allgemeinen: des unveräußerlichen und unklagbaren Menschenrechtes, von der Geliebten geliebt zu werden. Mit seiner auf keinen Titel und Anspruch gegründeten Bitte um Gewährung appelliert er an eine unbekannte Instanz, die aus Gnade ihm zuspricht, was ihm gehört und doch nicht gehört. Das Geheimnis der Gerechtigkeit in der Liebe ist die Aufhebung des Rechts, auf die Liebe mit sprachloser Gebärde deutet."(653)
Diese Aphorismen sind wie Alban Bergs Lyrische Suite ein innerer Dialog mit der Geliebten, der heimliche Botschaften beinhaltetet, ohne daß sie sich unmittelbar an den Adressaten richteten: eine Art Flaschenpost. Dazu gehörte die Schilderung der schlaflosen Nächte, jener qualvollen "Stunden, ohne Aussicht auf Ende und Dämmerung hingedehnt in der vergeblichen Anstrengung, die leere Dauer zu vergessen. [. . .]Was aber in solcher Kontraktion der Stunden sich offenbart, ist das Gegenbild der erfüllten Zeit. Wenn in dieser die Macht der Erfahrung den Bann der Dauer bricht und Vergangenes und Zukünftiges in die Gegenwart versammelt, so stiftet Dauer in der hastig schlaflosen Nacht unerträgliches Grauen."(654)
Jean Pauls Satz "Die Blümlein alle" gab das Motiv, der Erinnerung nachzusinnen, die stets eine Mischung von Vergangenem und Gegenwärtigem sei. "Wer liebte und Liebe verrät, tut Schlimmes nicht nur dem Bilde des Gewesenen, sondern diesem selber an."(655) Hat Adorno an seinen eigenen, mitunter unglücklichen Liebesverhältnissen erfahren, daß die Beziehung zwischen Mann und Frau ganz durch das "Tauschverhältnis" bestimmt sei? Deutlicher konnte die geheime Nachricht kaum sein, wenn er schrieb: "Liebe erkaltet am Wert, den das Ich sich selber zuschreibt. Sein Lieben erscheint ihm als ein mehr Lieben, und wer mehr liebt, setzt sich ins Unrecht. Er macht sich der Geliebten verdächtig, und auf sich selbst zurückgeworfen, erkrankt seine Neigung an possessiver Grausamkeit und selbstzerstörender Einbildung."(656) 
Was Adorno in seinem Brief an Grab über Charlotte Alexander preisgab, spiegelt sich in der aphoristisch gefaßten Einsicht, daß Liebe sich ans Seelenlose verliere, daß sie getragen sei von der "Begierde des Rettens, die nur am Verlorenen ihren Gegenstand hat".(657) Und daß Adorno sich trotz aller Amouren stets zu seiner Frau Gretel bekannte, war für ihn gewiß die "Probe aufs Gefühl, ob es übers Gefühl hinausgeht durch Dauer".(658) 
Während Adorno seine Aphorismen niederschrieb, suchte er, über die regelmäßigen Briefe hinaus, die Nähe zu seinen Eltern und besuchte sie in New York. Nachdem er im Juli 1943 einige ruhige Tage mit Gretel in San Francisco verbracht hatte, fuhr er von dort aus nach New York, um mit seinen Eltern einige Zeit in den Pocono Mountains nördlich von Philadelphia zu verbringen. Im Februar/März 1945 war er neuerlich in New York, wo er überwiegend bei seinen Eltern wohnte. Natürlich war eines der Themen der Kriegsverlauf in Europa nach der Ardennen-Schlacht, der größten Landschlacht, in die die amerikanischen Truppen bis dahin verwickelt waren und bei der sie neunzehntausend Soldaten verloren hatten und vierzigtausend verwundet worden waren. In den USA hängten Familien, die einen Toten zu beklagen hatten, einen goldenen Stern ins Fenster.

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(641) Vgl. Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 35 f.
(642) Ebd., S. 36.
(643) Im Theodor W. Adorno Archiv Frankfurt a.M. sind nach Auskunft der Mitarbeiter handschriftliche Tagebücher von Adorno aufbewahrt, die jedoch noch nicht archiviert und folglich unzugänglich sind. Es ist davon auszugehen, daß diese Tagebuchnotizen zum Teil Grundlagen sowohl der philosophischen Essays von Adorno waren als auch jener Aphorismen, wie er sie in den Minima Moralia zusammengestellt hat. Er hatte die Veröffentlichung weiterer Aphorismen geplant und bereits Texte für ein zukünftiges Buch geschrieben und geordnet.
(644) Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 54.
(645) Ebd., S. 60.
(646) Ebd., S. 26.
(647) Ebd., S. 43.
(648) Ebd., S. 44.
(649) Ebd., S. 53.
(650) Ebd., S. 28.
(651) Ebd., S. 37.
(652) Es handelt sich um die letzte Zeile des Gedichts von Charles Baudelaire mit dem Titel "Le gout du neant" (dt.: "Gefallen am Nichts") aus dem Band
Die Blumen des Bösen (Übersetzung von Friedhelm Kemp, 1986, S. 161).
(653) Adorno, Minima Moralia, GS 4, S. 187.
(654) Ebd., S. 188.
(655) Ebd., S. 190 f.
(656) Ebd., S. 191.
(657) Ebd., S. 194.
(658) Ebd., S. 196.


Teil 4