Vorgeblättert

Xu Xing: Und alles, was bleibt, ist für dich. Teil 1

22.03.2004.
Seiten 212-229 

Xi Yong war wie verabredet angekommen. Er saß auf dem Gepäckträger seines Rades und schaute in die Gegend. Am Lenker flatterte der Gepäckschein von der Zugfahrt. Auf dem Bahnhofsvorplatz der kleinen Stadt wimmelte es von Menschen. Imbißverkäufer und Hotelvermittler, die Unterkünfte anpriesen, zwängten sich durch Menschenmassen, menschliche Ausdünstungen, soweit die Nase roch. Wie schön müßte eine Welt sein, in der soviel Geld da wäre, wie es Menschen gibt! Zu Xi Yongs Füßen lag eine Wassermelone. Eine der ersten vom Markt in Peking. Genau das machte Xi Yong so liebenswert: Er glaubte, daß die Wassermelonen an jedem neuen Ort, den ich erreichte, dort einen Tag später reif waren, als am vorigen. Dabei wußte ich längst nicht mehr, wie viele Melonen ich unterwegs bereits verspeist hatte. Natürlich hauptsächlich geklaute. Aber ich wollte Xi Yong meine Dankbarkeit zeigen und warf die Melone krachend auf den Boden, damit sie aufplatzte, und machte mich mit beiden Händen darüber her. Der Saft rann mir die Beine hinunter, ein himmlischer Genuß.
"Du hast recht, es geht wirklich nichts über eine Melone aus Peking."
Das sagte ich eigentlich nur, um Xi Yong zu trösten. In Wirklichkeit war mir sogar meine alte Rostmühle mehr wert als Peking. In diesem Häusermeer mit seinen geschniegelten, aufgemotzten, vor Energie und Talent strotzenden Bewohnern, dem wirklichkeitsfremden Glamour der Neonlichter, bist du nichts als eine elende Kreatur. Selbst unter Mobilisierung all deiner Kräfte läßt sich nicht viel gewinnen. Eine zweifelhafte Freundschaft? Ein wenig affektierte Zuneigung? Vielleicht ein bißchen Mitgefühl? Hier ist jeder jedem etwas schuldig. Jeder ist irgend jemandes Gläubiger, und jeder ist bis über beide Ohren verschuldet. Das hängt davon ab, wem man gerade begegnet. In der stinkenden U-Bahn herrscht nichts als Geschiebe und Gedränge. Auch wenn nur sieben oder acht Leute auf dem Bahnsteig stehen. Wie ein Schwarm Kakerlaken im grellen Sonnenlicht stürzen sie sich in den U-Bahn-Schacht und tun gerade so, als ob sie da unten in vollkommener Sicherheit wären oder der Bahnsteig voller wohlfeiler Mädchen ...
Auch das Hamstern verläuft offensichtlich nicht nach fairen Regeln, man sieht ja, wer dabei fett wird. Deshalb sind sogar Streichhölzer rationiert, genau fünf Schachteln pro Haushalt. Was mir Angst einflößte, waren die leeren, abgestumpften Gesichter der Leute, wie die von Sträflingen, die finstere Pläne aushecken. Um jemanden zu töten, reicht bekanntlich ein Gemüsemesser aus, und um Feuer zu legen, ein Streichholz.
Nachdem wir die Melone verdrückt hatten, machten wir uns auf die Suche nach einem Hotel, um uns mal richtig auszuschlafen und im Morgengrauen unsere Tour fortzusetzen. Xi Yong hatte richtiges Reisefieber, dabei war mir nicht klar, wie er sich unsere Route ausmalte, denn darüber hatten wir nicht gesprochen. Wir fanden ein Hotel, das zwar etwas schäbig, aber annehmbar war. Die Zimmer kosteten von fünf bis fünfundzwanzig Yuan pro Person, und wir entschieden uns für ein Doppelzimmer zu zehn Yuan. Als das Zimmermädchen die Tür öffnete, hielten wir beide, wie auf Kommando, die Luft an: die Bettlaken starr vor Schmutz, an den Wänden Blutschlieren erlegter Bettwanzen. Xi Yong spielte mit dem Gedanken, die Waschschüssel unter dem Bett hervorzuholen, um sich darin das Gesicht zu waschen, aber uns war gleich klar, daß wir erst einmal eineinhalb Tage mit dem Schrubben der Schüssel zubringen müßten, selbst wenn wir uns darin nur die Füße waschen wollten. Da die Zimmer zu fünfundzwanzig Yuan mit Badewanne ausgestattet waren, überlegten wir, wie wir an ein heißes Bad kommen könnten. Wir gingen hinunter und überhäuften das Mädchen am Empfang mit allerlei Komplimenten. Wenn ich mich heute noch an meine Charmeoffensive in ihrem ganzen Umfang erinnern könnte, würde ich auf der Stelle eine Enzyklopädie der Galanterie herausgeben. Sie ließ sich tatsächlich erweichen und verriet uns, daß der Gast von 202 gerade im Kino war. Unter der Bedingung, daß wir uns beeilten und alles sauber hinterließen, machte Sie uns seine Zimmertür auf. Ich war zuerst dran, Xi Yong lief derweil im Flur auf und ab. Ich tauchte in das heiße Wasser, seifte mich ein, tauchte wieder unter. Das letzte heiße Bad hatte ich vor zehn Tagen in Peking genommen. Welch unendliches Wohlbehagen, am liebsten hätte ich die Augen geschlossen und dieses Wohlgefühl noch länger ausgekostet. Aber Xi Yong rumorte wie eine Wanderheuschrecke draußen auf dem Flur herum, schnell trocknete ich mich also ab und ließ ihn herein.
"Aber beeil dich gefälligst, wir sind hier nicht zu Hause." Ich kannte Xi Yong nur zu gut. Er kehrte ganz den welterfahrenen Schwindler heraus, raunte mir, ohne mich eines Blickes zu würdigen, ein "Reg dich ab" zu und verschwand mit einem "Ich war sowieso vor dir da" im Zimmer. Mit einem Knall schloß er die Tür, ganz Herr im eigenen Haus. 
Nachdem ich auf dem Flur eine Zeitlang Wache geschoben hatte, sagte ich mir, daß alles gutgehen würde. Außerdem waren nach diesem angenehmen Bad meine Lebensgeister wieder erwacht, und ich konnte es einfach nicht lassen, mit dem Mädchen an der Rezeption unseren Plausch fortzuführen. Sie war zwar nicht ganz so hübsch, wie ich es ihr eingeredet hatte, aber immerhin groß und schlank. Ich fragte sie, ob sie "fortschrittlich" eingestellt sei, denn dann könne man ja zusammen das Beste draus machen. Über dem Geplauder hatte ich meine historische Mission, für Xi Yong Wache zu schieben, völlig vergessen. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß sie die reine Unschuld war und noch an so lächerliche Dinge wie wahre Liebe glaubte. 
Doch bevor ich mich als Lehrmeister in Sachen Liebe erweisen konnte, erreichte uns vom Flur ein wütender Schrei: "Zimmermädchen!"
Dann ein klägliches Wimmern von Xi Yong. Ich ahnte, daß Unheil im Anzug war und lief nach draußen, wo ein vierschrötiger dunkler Kerl Xi Yong am Ohr durch die Gegend schleifte. Xi Yong kam uns splitterfasernackt entgegen, sein armes schrumpeliges Ding baumelte im fahlen Lampenlicht wie eine dunkle Pflaume hin und her, und er jammerte Unverständliches. Das Mädchen stieß einen spitzen Schrei aus und schlug die Hände vors Gesicht.
"Was geht hier ab?!" fragte der Typ mit bedrohlichem Unterton.
Xi Yong wimmerte in einem fort. Er hatte keine Zeit mehr gehabt, den Schaum abzuspülen, der sich nun auf seiner Haut verflüssigte und am Boden eine Pfütze bildete, die langsam einsickerte.
"Keine verdammten Ausreden jetzt! Was hat dieser Mickerling in meinem Zimmer verloren?"
Ich bot ihm schnell eine Zigarette an. Eine sehr gute Marke, die Xi Yong vor unserer Reise für besondere Gelegenheiten gekauft hatte. Nach kurzem Zögern nahm der Typ sie an und ließ beim Anzünden Xi Yongs Ohr los. Der ergriff augenblicklich die Flucht, schnappte sich seine Kleider und stürmte nach oben. Eine halbe Ewigkeit redete ich auf den Typen ein und konnte ihn schließlich dazu bewegen, in sein Zimmer zurückzukehren. Das ganze Spektakel hatte eine Vorgeschichte: Er war im Kino eingeschlafen und hatte mit seiner lauten Schnarcherei die Leute, die in seiner Nähe saßen, gegen sich aufgebracht. Hatte dann eine Schlägerei vom Zaun gebrochen und war noch vor Ende des Films rausgeflogen. Nun kam er also, immer noch vor Wut schäumend, in sein Zimmer, und was sah er da: in seiner Badewanne saß dieses Würstchen, schrubbte sich genüßlich den Rücken und trällerte vor sich hin "Ich war vor dir da." Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Wie ein hungriger Tiger stürzte er sich auf seine Beute und zerrte Xi Yong aus der Wanne: "Das ist immer noch mein Zimmer, auch wenn du hundertmal vor mir da warst ...!"
Schnell lief ich hinauf, wo sich Xi Yong stöhnend sein Ohr hielt: "Aua ... verdammte Scheiße!"
Als er mich entdeckte, war ich dran: "Wo warst du, verdammt noch mal? Warum hast du nicht aufgepaßt? ... Diese reichen Säcke sind echt das letzte!"
Auf einmal kam mir das Ganze urkomisch vor und ich lachte laut los. Xi Yong brauchte noch eine kurze Karenzzeit, bevor er in das Gelächter einstimmte ...

Unsere Reise ging weiter. Mit Albernheiten und Blödeleien verging die Zeit wie im Fluge, und unversehens waren wir im Süden Zentralchinas angelangt. Die Mücken hier sind noch schlechter erzogen als in Peking. Folglich verbrachten wir die Nächte in unsere Regenmäntel eingewickelt und waren schon nach kürzester Zeit pitschnaß geschwitzt. Alles, was nicht unter den Regenmantel paßte - Hände, Gesicht, Waden, Füße -, fiel den Blutsaugern zum Opfer. Trost fand ich nur in einer klassischen Geschichte aus dem Buddhismus. Die handelt von einem, der sein Leben opfert, um einen Tiger vor dem Hungertod zu bewahren. Im Halbschlaf dämmerte mir, daß ein Tiger sein Opfer wenigstens mit einem Biß erledigen und nicht langsam zu Tode quälen würde, so wie man dies von den reaktionären herrschenden Klassen kennt. Aber Not macht erfinderisch, und so entzündete Xi Yong ein paar trockene Zweige, die er mit einer dicken Blätterschicht bedeckte. Wie viele Mücken dabei an Rauchvergiftung starben ist unklar, wir jedenfalls waren ganz gut durchgeräuchert. Aus der Ferne hätte man uns - zwischen unseren trockenen Zweigen im dicken Rauch sitzend - glatt für zwei überdimensionale Grillwürstchen halten können.

Teil 2