Wer über Weihnachten Lesestoff im Netz sucht, wird hier garantiert fündig: Wir haben für Sie die interessantesten Artikel 2013 aus internationalen Magazinen zusammengestellt.

Musik | Literatur | Essay | Film | Literatur | Jugendkultur gestern und heute | Experimente | Reportagen | Porträts | Überwachung, Big Data | Wirtschaftskrise und Arbeit

Musik

2013 war das Jahr der polnischen Komponisten! Witold Lutoslawski wurde vor hundert Jahren geboren, vor achtzig Jahren Henryk Gorecki und Krzysztof Penderecki. Mit einem ganzen Heft über Lutoslawski stimmte Osteuropa uns bestens ein. Der polnische Autor und Filmkritiker Wojciech Kurczok widmet ihm einige unsortierte, aber sehr enthusiastische Bemerkungen: "Als ich unlängst nach vielen Jahren wieder Lutoslawskis Musique funebre (1958) hörte, begegnete ich mir selbst. Fünfzehn Jahre mochten vergangen sein, aber meine Begeisterung für dieses Werk ist unverändert geblieben: Vierzehn Minuten totaler Musik, wohl der höchste Flug einer polnischen Kompositionsidee, ein Meisterwerk, das für ältere Musikliebhaber das Wesen der elegischen Schönheit darstellt und für jüngere ein Beweis für Witolds souveräne Herrschaft ist. Ein piekfeiner Herr mit grauen Haaren und einer sanften Stimme, einem erstklassigen Intellekt und einem heiteren Gemüt." Das einzige, was Lutoslawski zur Vollkommenheit fehlt, ist die oberschlesische Herkunft, lässt Kuczok durchblicken und hebt zu einer weiteren Hymne an, nämlich auf die Kattowitzer Kompositionsschule mit Szabelski, Gorecki, Szalonek und Grazyna Bacewicz. (Hier der Link, er führt leider nur zum Inhaltsverzeichnis, das muss man zum Artikel runterscrollen)

In The Nation erzählt David Schiff in einem sehr schönen Artikel, wie er 1971 die Generalproben von Pierre Boulez und dem Cleveland Orchestra zu Elliot Carters "Concerto for Orchestra" verfolgte. Die Musiker hassten das Stück und seine Konfliktrhythmen, was sie dem anwesenden Komponisten auch sagten. Boulez war eine noch härtere Nuss: "Während des ersten Durchspielens der Partitur verhedderten sich die Musiker heillos. Spannungen flackerten auf und wurden noch angefacht von Boulez' müheloser, wenn auch mürrischer Beherrschung der Komplexität der Musik. Er konnte die Stimme jedes Musikinstruments präzise singen, in den korrekten Solfeggio-Silben do re mi. Wann immer Musiker melodisch und rhythmisch nicht genau zusammenspielten, stoppte er sie und sang ihnen die Phrase noch einmal vor. Ein beim Ticken der Probenuhr mit wachsender Verzweiflung wiederholtes Frage-und-Antwort-Spiel."

Außerdem lesenswert: Jean Jourdheuil war der Mittler und Übersetzer, der in Frankreich den dort bis heute hoch verehrten Heiner Müller bekannt machte. In Accents, dem "Webmag" des Ensemble Intercontemporain, bringt er einen Text über Müller und die Musik, in dem er alles von Müllers Gang ableitet! Und im ebenfalls französischen Magazin Telerama stellt Anne Berthod eine neue Künstlerszene vor, die das musikalische Erbe der Kapverden bewahren wollen, darunter auch das der bekanntesten Sängerin des Inselstaats, Cesaria Evora.

Literatur

Schönheit und Schrecken hat ein hellauf begeisterter Jonathan Lethem in Thomas Pynchons neuem Roman zum 11. September und den Tiefen des Internets, "Bleeding Edge", erlebt. Er erklärt Pynchons düstere Weltsicht mit Verweis auf Philip K. Dick in der New York Times: "Während gewöhnliche Paranoiker glauben, dass die schlimmsten Fragen monströs einfache Antworten haben, weiß die paranoide Kunst, dass die beängstigenderen (aber unvermeidlichen) Entdeckungen weitere Fragen sind. Der paranoiden Kunst geht es um Deutung, sie entlockt sie ihrem Publikum; sie misstraut sich selbst und wird so zum notwendigen Gegenpart der selbstzufriedenen Kunst. In Pynchons Sicht wandelt sich das System der Moderne mit ihrer Aufklärung und Befreiung - Eisenbahn, Post, Internet, etc. - immer wieder zum Black Iron Prison des Kapitalismus mit seinen Beschränkungen, Monopolen und Überwachungen. Am fließenden Übergang dieses Wandels (oder an seinem 'blutigen Grat') leben wir in unserer ganzen Hilflosigkeit. Pynchons Figuren ernähren sich von den Brocken der Freiheit, die vom Fließband der erbarmungslosen Umwandlungsmaschinerie fallen - wie die Katze beim Fleischer. Für James Joyce ist die Geschichte ein Albtraum, aus dem wir aufzuwachen versuchen. Für Pynchon ist die Geschichte ein Albtraum, in dem wir Träumer mit wachem Verstand werden müssen."

In Quarterly Conversation schreibt die Autorin und Bloggerin Cynthia L. Haven sehr schön und erhellend über Czes?aw Mi?osz, sein Verhältnis zu den amerikanischen Lyrikern Robinson Jeffers, Allen Ginsberg und Walt Whitman und sein Verhältnis zu Kalifornien: "Kalifornien gab ihm Raum und einen Aussichtspunkt am Ende der Welt. Der leidenschaftliche Lyriker sehnte sich nach Distanz, einem objektiveren Ort, von dem aus er auf sich selbst blicken konnte, und fand ihn an der Pazifikküste. Distanz - ob emotional oder geografisch - ist in Polen schwer zu finden. Da war er ein Insider. Niemand ist Insider in Kalifornien."

Außerdem: Lola Huete Machado unterhält sich in El Pais Semanal mit dem mosambikanischen Schriftsteller Mia Couto, der in diesem Jahr mit dem Premio Camoes ausgezeichnet wurde, dem wichtigsten Preis der portugiesischsprachigen Literatur. Und in MicroMega verkündet Umberto Eco feierlich: Nur die Universitäten können Orientierung im Informationsorkan des Internets bieten, und überhaupt - auch Europa wurde an der Uni erfunden.

Essay

Der ukrainische Schriftsteller Mykola Rjabtschuk hat die bisher besten Argumente, warum Europa die Ukraine aufnehmen sollte. In Eurozine verweist er auf eine besondere Ungerechtigkeit: "Innerhalb weniger Jahre riss der enge Zirkel um Präsident Janukowitsch (genannt 'die Familie') alle Macht an sich, zerstörte das Rechtssystem, häufte qua Korruption enorme Ressource an und beschnitt die Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Eigentlich müsste es ein Segen sein, dass diese Leute das Abkommen mit der EU zurückzogen und dass ein Land mit einem solchen Regime nicht von Europa aufgenommen wird. Das Problem ist aber, dass sie schon in Europa sind - mit ihren Villen, dem gestohlenen Geld und den Diplomatenpässen, was die Visafreiheit für den Rest der Ukraine in ihren Augen unnötig macht. Sie profitieren von der Rechtsstaatlichkeit und dem Eigentumsrecht im Westen, während sie diese Dinge in ihrem eigenen Land systematisch unterminieren. Nicht sie, sondern die 40 Millionen Ukrainer werden von Europa ausgeschlossen, während die herrschende Elite la dolce vita in den Resorts des Westen genießt und das verarmte Land bis auf den letzten Tropen aussaugt."

Péter Nádas beschreibt in Elet es Irodalom in einem umfangreichen Essay in 12 Punkten die Stärken und Schwächen des Demokraten: "Seine Gutgläubigkeit und sein Vertrauen in die Vernunft gibt der Demokrat auch in einer noch so verzweifelten Situation nicht auf. Aus diesem Grunde nimmt er jedoch auch Entwicklungen immer zu spät zur Kenntnis, die er schon frühzeitig hätte ansprechen müssen. Wenn die öffentlichen Räume von populistischen Redner und fundamentalistische Ideologen beherrscht werden. Oder ihm schweigende Oligarchen mit Massen von Sklaven bereits an den Hals gehen. Das geliebte Volk, welches die Demokratie wollte, will jetzt diejenigen, die mit starker Hand für Ordnung sorgen im Freudenhaus. Sie werden schon diese schlampigen, trägen und gebrechlichen Nutten von Demokraten maßregeln. Wenn die Mehrheit dies jetzt so will, das Volk seinen eigenen Tyrannen wünscht, dann kann der Demokrat diese großartige Willenserklärung nicht missachten." Auf Deutsch ist der Text in der Lettre zu lesen, online nur in kurzen Auszügen.

Seine Besprechung einer neuen Biografie Simón Bolívars nutzt Enrique Krauze in der spanisch-mexikanischen Zeitschrift Letras Libras zu einigen grundlegenden Feststellungen: "Es ist bedauerlich, wie sehr spätere Lektüren die Originalität von Simón Bolívars republikanischem Projekt verzerrt haben. Bolívar war weder Sozialdeterminist oder Darwinist noch der romantische Prophet eines iberoamerikanischen Nationalismus, der sich aus rassischen und kulturellen Gründen der angelsächsischen Welt (die er bewunderte) entgegenstellte. Er war aber auch kein Vorläufer des italienischen Faschismus oder des Franquismus (die beide versuchten, ihn für sich zu vereinnahmen), und erst recht nicht der Vater der seltsamen revolutionären Theokratie, die in seinem Namen in Venezuela errichtet wurde. Nichts liegt Bolívars republikanischem Ideal ferner. Hugo Chávez trieb den Bolívar-Kult - der seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Venezuela betrieben wird - in ungekannte Höhen. Er behauptete, die Geschichte sei 1830 (im Todesjahr Bolívars) stehengeblieben und erst 1999 wieder in Gang gekommen, als der neue Bolívar - sprich: Chávez - auf den Plan trat. Bei Kabinettssitzungen ließ er stets einen Stuhl neben dem seinen frei, um den Geist des Helden an seiner Regierung teilhaben zu lassen. Wandgemälde in Caracas zeigen häufig Chávez' Bild neben dem von Bolívar und Christus als Heilige Dreieinigkeit der Revolution. Der Republikaner Simón Bolívar wäre ein zweites Mal gestorben (oder hätte einmal mehr zu den Waffen gegriffen), hätte er den Aufstieg eines klassischen Demagogen wie Chávez miterlebt, der zudem genau die Art sozialer Revolution verkörperte, die Bolívar immer gefürchtet und entschieden abgelehnt hat."

Film


Einer der wichtigsten und eindrucksvollsten Filme in diesem Jahr war Joshua Oppenheimers Dokumentation über das Massaker an den indonesischen Kommunisten in den 60er Jahren, "The Act of Killing". Oppenheimer lässt die Täter von damals ihre Taten in theater- und filmartigen Settings nachspielen. Das Vertrauen der in Indonesien im Rang von Volkshelden stehenden Täter zu erlangen, fiel dem Regisseur nicht weiter schwer, erklärt er in Film Comment im Interview mit Nicolas Rapold: "Die Vereinigten Staaten hatten den Völkermord unterstützt - das wussten sie (...) und sie wussten, ich bin ein amerikanischer Filmemacher, und sie lieben amerikanische Filme. Und da ich das Land nach Belieben bereisen und verlassen konnte, wurde einfach angenommen, dass ich automatisch auf der Seite jener Leute stehe, die über solche Finanzmittel und also über ein gewisses Maß an Macht verfügen. Alles was ich tun musste, war, mich ihnen gegenüber so zu verhalten, wie ich es auch jetzt Ihnen gegenüber tue: Nett sein, zugewandt sein, sie wie Menschen behandeln. Und das spürten sie. (...) Alle möglichen Wörter, die nach Völkermord riechen, haben eine heroische und glorreiche Konnotation erfahren. Das Wort 'Ausrottung' etwa, das uns an den Holocaust denken lässt, hat dort eher ein 'Jawoll, ich war an der Ausrottung der Kommunisten beteiligt' zur Folge. Als ob das etwas Großartiges wäre. Das gestattete es mir, sehr, sehr ehrlich zu sein. Ich konnte also sagen 'erzählen Sie mir etwas über die Ausrottung der Kommunisten'. Und so weiter, solange es mir gelang, die emotionalen Reaktionen zurückzuhalten, die sich einstellten, als sie mir diese Geschichten erzählten. Das war schwierig."

In einem klugen Essay in der New York Review of Books befasst sich Mark Lilla mit Claude Lanzmanns Film "Der letzte der Ungerechten" über Benjamin Murmelstein, der als Judenältester von Theresienstadt lange Zeit den Ruch eines Kollaborateurs hatte. Lilla ist sehr beeindruckt von dem Film, aber nicht gänzlich überzeugt, vor allem wundert er sich, dass Lanzmann sein ehernes Gesetz aus Shoah aufgibt, nicht verstehen zu wollen, keine Chronologie anzuerkennen und keine Zwangsläufigkeit: "Am Ende des Films ist Lanzmann völlig eingenommen: 'Sie sind ein Tiger!'... Wäre Lanzmann bei dem durcheinanderwürfelnden, assoziativen Stil von Shoah geblieben, hätte er die moralischen Schattierungen filmisch besser einfangen können, die noch immer diese historische Gestalt umgeben. Stattdessen hält er sich an den konventionellen Stil der dokumentarischen Apologie, die eine klare Lektion erteilt, aber am Ende nicht verstört. Man kann nicht anders, als dies für eine verpasste Gelegenheit zu halten. Indem Shoah alle psychologischen Notausgänge blockierte, zwang uns der Film in ein Erlebnis, das nur wenige Zuschauer jemals vergessen werden. Der letzte der Ungerechten lässt uns entkommen, bevor wir jenes Zentrum der Grauzone erreichen, wo wir nicht nur Benjamin Murmelstein begegnet wären, sondern uns selbst."

Außerdem: In einem zweiteiligen Gespräch (hier und hier) mit Andrew Lampert für The Brooklyn Rail bekräftigt der österreichische Experimentalfilmemacher Peter Kubelka seine These von der materiellen Eigenständigkeit des analogen Filmmaterials und erzählt von seiner Zeit als Judomeister von New York. In Frieze erklärt der mexikanische Surrealist Alejandro Jodorowksy, dessen Filme gerade als Wiederaufführung in deutschen Kinos zu sehen sind, im (gegen kostenfreie Registrierung zugänglichen) Gespräch mit Erik Morse, warum er als Filmemacher, Comicautor, Schriftsteller und Theaterregisseur seiner Zeit 30 Jahre voraus ist: "Im 20. Jahrhundert ordnete sich ein Künstler sklavisch den Rubriken unter. Ein 'Maler' konnte kein 'Schriftsteller', 'Tänzer' oder 'Schamane' sein. Im 21. Jahrhundert liegt die Sache anders."

Jugendkultur gestern und heute


Joshua Sperling unterhält sich für The Brooklyn Rail mit Olivier Assayas, der nach seinem großen Porträt "Carlos" mit "Die wilde Zeit" neuerlich einen Film über die aufgeheizte Stimmung der 70er Jahre gedreht hat. Der Regisseur erklärt, warum ihn diese Dekade filmisch so stark interessiert: "Sie wurde einem bislang entweder als Karikatur oder als Fantasieprodukt verkauft - oder als beides zugleich. Sie ist zugleich ein Bezugspunkt für Mode und die Popkultur - wegen der Musik, den Klamotten, den Frisuren. Und doch wurde sie nie richtig dargestellt. Ich denke, das liegt daran, dass die 70er furchteinflößend sind. Anders als heute handelt es sich um eine Zeit, in der die Leute ihre Ideen in die Praxis umsetzten und dabei ihr Leben ganz schön aufs Spiel setzten. Sie beschlossen, dass es da dieses Paralleluniversum 'Gegenkultur' gebe, mit eigenen Codes, Kommunikationswegen, Werten und Orten, die sich bewohnen ließen. Man trat aus der alten Welt hinaus und in eine parallele hinein, wo man man selbst sein und Dinge tun konnte, die keine andere Generation seitdem getan hatte: mit dem eigenen Leben experimentieren, dem eigenen Schicksal. Und dabei blieben viele auf der Strecke. ... Natürlich war das verrückt, natürlich war das utopisch und hatte beträchlichte Grenzen. Doch zugleich hatte es auch etwas heroisches, beherztes an sich. Und Schönheit."

Peter Pomerantsev ist ein britischer Fernsehproduzent mit russischen Wurzeln, der jahrelang bei russischen Fernsehsendern gearbeitet und einen faszinierenden Blick ins Innere einer postmodernen Diktatur geworfen hat, in der selbst der Anschein von Opposition noch vom Regime organisiert wird. Allerdings bekommt das System Brüche, erzählt er in Eurozine. Putins virtuoser Chefpropagandist Wladislaw Surkow musste im Mai abtreten und die neue Opposition bricht mit dem Nihilismus der jetzigen Medieneliten: "Bei ihrer Suche nach einem moralischen Code, in dem sie sich wiederfindet, greift die neue Opposition auf die Dissidenten der siebziger Jahre zurück: Aus den Witzfiguren der zynischen nuller Jahre sind plötzlich wieder Helden geworden. Die Punkerinnen von Pussy Riot verglichen ihren Prozess mit dem Schauprozess gegen Andrej Sinjawskij in den Sechzigern, zitierten in ihren Schlussstatements Joseph Brodsky und pfefferten ihre Reden mit Siebziger-Jahre-Begriffen wie 'dostojnstwo' (Würde) und 'Sowest' (Gewissen). Teile der neuen Opposition sind auch eifrige Leser der französischen Situationisten. Ernste junge Studenten diskutieren bis spät in die Nacht Guy Debords kürzlich übersetzte 'Société du spectacle', deren Sprache ideal ist, um die virtuelle Realität der gelenkten Demokratie zu beschreiben."

Und in einem sehr interessanten, langen Gespräch in Berfrois mit dem russischen Aktivisten und Kulturkritiker Artemy Troitsky und Oliver Carroll von Open Democracy über die Frage, welche Rolle heute die Kultur in Russland spielt, sagt Pomerantsev: "In der Vergangenheit hat der Kreml oft die radikalsten Kunstprojekte wie zum Beispiel Kyrill Serebrennikows Territorija Festival gesponsort. Sie wollten sicher gehen, dass es keine kulturelle Rebellion gibt, indem sie ihre Sprache vereinnahmt und zum Teil des Systems gemacht haben. Sie wurde sinnlos. In den letzten achtzehn Monaten habe ich gesehen, was Kultur und Sprache angeht, wie die Opposition versucht, eine Miniwelt für sich selbst zu schaffen, einen Ort, der nicht durch die Einmischung des Kremls kontaminiert ist. Ich finde das unglaublich und sehr inspirierend."

Außerdem: Für die London Review of Books liest Ian Penman Richard Weights Buch über die Subkultur der Mods, die ab den späten 50ern mit Jazz, Sartre, Amphetaminen und smarter Kleidung Popkultur und Existenzialismus miteinander verschmolzen: "Die frühen Mods waren Navigatoren, Magellane der Nachkriegs-Freizeitwelt, die man sich überhaupt erst vorstellen, der man diese oder jene Form verpassen musste. Alles war zu haben: Musik und Kleidung, Sex und Sexualität; Wort und Sprache von Verrissen und Hypes und Pop-Fantum; die Verkehrsmittel und Reisemöglichkeiten; Nacht ein, Nacht aus. Tatsächlich alles, was wir für heute als 'Jugendkultur' für selbstverständlich halten. Es war eine berauschende Zeit der Neudefinitionen".

Experimente


In einem sehr anregenden und ermunternden Essay denkt der Verleger Richard Nash - selbst angeregt durch Bücher von Elizabeth Eisenstein ("The Printing Press as an Agent of Change), J. B. Thompson ("The Merchants of Culture"), Ted Striphas ("The Late Age of Print") und Laura Miller ("Reluctant Capitalists") - in The Virginia Quarterly Review über die Vergangenheit des Buchs nach, die auch einiges über seine Zukunftsfähigkeit aussagt. Zunächst einmal bedroht die Digitalisierung nicht die schöngeistige Literatur und Bücher sind auch keine "Gegen-Technologie", im Gegenteil: "Bücher sind die Apotheose von Technologie - wie das Rad oder der Stuhl. [...] Es ist entscheidend zu verstehen, dass Bücher nicht kreischend und um sich schlagend in jede neue Ära des Kapitalismus gezerrt wurden. Bücher sind nicht nur ein wesentlicher Bestandteil des Konsumkapitalismus, sie haben ihn buchstäblich gestartet. Sie sind Teil seines Treibstoffs. Das Wachstum der Ketten im Buchhandel eröffnete dem Leser des 20. Jahrhunderts die Möglichkeit, die Versupermarktung des Buchladens zu beklagen und dabei schlichweg die Tatsache zu leugnen, wie Striphas in 'The Late Age of Print' mit einem Zitat von Rachel Bowlby herausstreicht, dass der Buchladen tatsächlich das Vorbild für den Supermarkt ist: 'In der Geschichte der Ladeneinrichtung waren seltsamerweise die Buchläden die Vorläufer der Supermärkte. Unter allen Ladentypen benutzten nur sie Regale, die nicht hinter der Kasse standen, wo die Ware vom Kunden durchstöbert werden konnte. Als Lebensmittel mit Markennamen und charakteristischer Verpackung noch gar nicht existierten oder sehr selten waren, hatten Bücher schon Cover, die gestaltet waren, um sowohl den Inhalt zu schützen als auch den Kunden anzulocken. Sie waren Markenartikel mit erkennbarem Autor und neuen Titeln.' Es gibt andere Beispiele für signifikante Erfindungen, die durch Verleger angetrieben wurden, der springende Punkt hier ist, dass Bücher nicht grummelnd in der Holzklasse des Fliegers in die Zukunft sitzen. Sie sind im Cockpit."

Für das Magazin Fast Company hat J.J. McCorvey dem in einigen US-Städten bereits testweise ausgerollten AmazonFresh auf den Zahn gefühlt und sich - zur vollsten Zufriedenheit - Bananen und Äpfel aufs Hotelzimmer liefern lassen. Mit dem Angebot hat Jeff Bezos weit mehr im Blick als bloß den Gemüsemarkt, schreibt McCorvey, nachdem sie zuvor Amazons komplexes Warenauslieferungssystem für Lebensmittel genau untersucht hatte: "Tatsächlich handelt es sich um ein "trojanisches Pferd (...). 'Ursprünglich war vorgesehen, dass dies mit dem Rollout der neuen Lieferung am selben Tag einhergehen würde', erklärt Tom Furphy, der von 2007 bis 2009 für Fresh zuständig war. Dies zu bewerkstelligen stellt eine enorme logistische und wirtschaftliche Herausforderung dar. Man nennt es das Problem der letzten Meile. Zwar kann man von den Warenlagern aus ohne weiteres vollgepackte LKW auf die Reise schicken, doch ein einzelnes Päckchen durch ein ganzes Viertel zu manövrieren, um es schließlich an der Tür des Kunden abzuliefern, ist nicht ganz so einfach. Das Frachtvolumen und die Lieferfrequenz müssen die Kosten für Treibstoff und Arbeitszeit überwiegen, sonst wird diese letzte Meile ziemlich teuer. ... Vom Ausbau der Frischwarenlieferung erhofft sich Amazon, Kunden, die sonst nur einmal im Monat etwas bestellen, dazu zu bewegen, wöchentlich - oder vielleicht sogar dreimal die Woche - eine Bestellung aufzugeben. Dies wiederum würde das nötige Bestellvolumen ergeben, um die Investition in eine solche Infrastruktur attraktiv zu machen."

Außerdem: Ziemlich beeindruckt schaut Ashlee Vance für Bloomberg Businessweek unter die Motorhaube der (in Deutschland leider noch immer nicht zugänglichen) Online-Videothek Netflix, die ursprünglich mit Postversand ins Geschäft eingestiegen ist, heute zu den großen Streaming-Anbietern zählt und sich mit eigenproduzierten Serien wie "House of Cards" und "Arrested Development" nun auch als HBO-Konkurrent positioniert. Neue Filmdistributionsmöglichkeiten beschreibt Paul Weedon im Magazin Little White Lies am Beispiel von Ben Wheatleys Entscheidung, seinen neuen, offenbar ziemlich psychedelischen Film "A Field in England" am 05. Juli zeitgleich zur Kinoauswertung auf Video on Demand, DVD und Blu-Ray zu veröffentlichen und im Fernsehen auszustrahlen (sogar eine begrenzte VHS-Auflage ist geplant), während online nach und nach Hintergrund- und Masterclass-Videos freigeschaltet werden.

Reportagen


Über kaum einen Krieg wurde in diesem Jahr so viel gestritten wie über den syrischen Krieg. Soll man Waffen liefern, militärisch eingreifen, die Sache Assad austragen lassen oder rote Linien ziehen? Niemand weiß es. Oder doch? Der amerikanische Reporter Seymour Hersh hat ein paar Fakten zusammengetragen, die er am Ende in keiner amerikanischen Zeitschrift unterbringen konnte, sondern nur in einer britischen, der London Review of Books: Bisher galt als ziemlich sicher, dass Bashar Assad für den Giftgas-Einsatz in Syrien verantwortlich war, denn nur sein Regime habe überhaupt die Mittel dazu besessen. Doch Hersh meldet Zweifel an: Zum einen seien mit wahrscheinlich 350-500 Toten deutlich weniger Menschen als der bisher angegebenen 1400 ums Leben gekommen. Zum anderen hätten auch die syrischen Rebellen Giftgas zur Verfügung gehabt. "Ein hochrangiger Geheimdienstmitarbeiter nannte in einer E-Mail an seinen Kollegen die Behauptung der Regierung, Assad sei verantwortlich, getrickst. Der Angriff gehe nicht auf das gegenwärtige Regime zurück. Ein früherer langjähriger Geheimdienstmann sagte mir, dass die Regierungsstellen Informationen verändert hätten - in Bezug auf Zeit und Reihenfolge -, damit der Präsidenten und seine Berater so tun können, als hätten sie die Informationen, die sie erst Tage nach dem Angriff erhielten, in Echtzeit gesammelt und ausgewertet. Die Verzerrung, sagte er, erinnert ihn an den Vorfall von 1964 im Golf von Tonking." Schließlich fragt Hersh, warum die Geheimdienste, die angeblich schon die Vorbereitungen beobachteten, niemanden gewarnt haben?

Vergewaltigung ist ein Verbrechen. Langsam, sehr langsam, scheint sich das weltweit durchzusetzen. In Indien erregte Anfang des Jahres die brutale Vergewaltigung einer jungen Frau, die schließlich an ihren Verletzungen starb, einen regelrechten Aufstand, der die Verhaftung und Verurteilung der Vergewaltiger erzwang. Outlook India widmete dem Vorfall ein ganzes Dossier. Und in der New York Review of Books stellte Amartya Sen im Oktober fest, dass inzwischen zwar einiges passiert sei, um sexuelle Angriffe auf Frauen - auch in der Ehe - schneller und konsequenter zu ahnden. Beim Frauenhandel, von dem besonders die Armen betroffen sind, habe sich dagegen ebenso wenig getan wie beim Problem des Mädchenmords und der Abtreibung weiblicher Föten. In einer Rolling-Stone-Reportage, die schwer zu verdauen ist, beschreibt Sabrina Rubin Erdely, wie Vergewaltigungen in der amerikanischen Armee geahndet werden: kaum bis gar nicht: "Die Leute sagten unter sich: Echte Vergewaltigungen geschehen fast nie. Ich habe nicht eine echte Vergewaltigung gehabt, das ist doch alles Blödsinn."

Außerdem: "Bones of Contention" - Steine des Anstoßes - überschreibt Paige Williams in einem nur im Englischen funktionierenden Wortspiel ihre ebenso schräge wie hochinteressante Geschichte im New Yorker über den - keineswegs immer legalen - Markt für prähistorische Knochen. Und im Smithsonian Magazine erzählt Mike Dash die filmreife Geschichte der Familie Lykov, auf die Wissenschaftler 1978 rund 240 Kilometer tief in der sibirischen Taiga stießen, wo sie bis dahin 40 Jahre abgeschnitten von der Außenwelt verbracht und dabei unter anderem auch vom Zweiten Weltkrieg keinerlei Notiz genommen hatte.

Porträts


Im März starb einer der meistbewunderten und -gehassten Politiker Lateinamerikas, Venezuelas Hugo Chavez. In The New Republic zeichnet Paul Berman die Entwicklung nach, die Chavez' Einstellung zum Marxismus nahm, und liefert zugleich ein sehr beeindruckendes Porträt des ganzen Mannes. Berman hatte Chavez 2002 bei einer Veranstaltung in New York getroffen und gefragt, was er von den Sandinisten halte. "Chavez war ein kleiner Mann. Ich bin von mittlerer Größe. Er starrte nach oben und in diesem Blick lag dieselbe Intensität und Kraft, die er vor einigen Minuten noch vom Podium nach unten ins Publikum ausgestrahlt hatte, nur dass diesmal ich das ganze Publikum war. Seine Backen besaßen die gleiche prächtige gepanzerte Qualität wie die Brustmuskeln bestimmter Menschen. Er glühte. Er zögerte einen Moment, vielleicht um sein Ohr an die Besonderheiten meiner spanischen Syntax zu gewöhnen. Und dann schien der Bug seines militärischen Torsos nach vorn, in meine Richtung zu branden und er formulierte seine Antwort scharf und analytisch. Er bewundere die Sandinisten, sagte er. Die Sandinisten hätten großartige Dinge getan. ... Aber die Sandinisten hätten einen Fehler begangen. Sie hätten den Marxismus umarmt. Dies habe zu ihrem Untergang geführt. Ich war überrascht. Er erklärte, dass in Nicaragua die Sandinisten in Konflikt mit der Wirtschaft geraten waren. Aber diese Art von Konflikt sei unnötig gewesen. Darin lag der Fehler."

Im April starb eine der meistbewunderten und -gehassten Politikerinnen Europas, Britanniens Margaret Thatcher. In der London Review of Books sucht Iain Sinclair ihre Beerdigungszeremonie nach "Symbolen und Omen" ab und zeichnet dabei ein aasiges Bild: "Selten sah man ein solches Alice-im-Wunderland-artiges Getöse lokaler Stereotype an einer Stelle versammelt. Einige davon (wie Dave und Samantha Cameron) amüsierten sich offenkundig prächtig, mit Lächeln, Witzeleien und niedlichem Händchenhalten für die Fotografen. Wie Spechte verteilten die ersten Reihen Stürme von Judasküssen: Bis aufs Blut verfeindete Parteien, die dazu gezwungen waren, spitze Lippen auf kalte Wangen zu pressen. Zahnlose Füchse, die an toten Hühnern schnuppern."

Im Januar 2013 tötete sich im Alter von 26 Jahren der Internetaktivist und Hacker Aaron Swartz. Er hatte 4,8 Millionen wissenschaftliche Artikel aus dem Zeitschriftenarchiv JSTOR illegal heruntergeladen, wofür ihm bis zu 35 Jahre Haft drohten. Tim Carmody zeichnet in The Verge eines der besten und informativsten Porträts über Aaron Swartz: Er will der Mythenbildung vorbauen, an der Swartz durchaus zum Teil selbst mitgewirkt habe. Am Beispiel des RSS-Codes, den Swartz Anfang des Jahrhunderts als 14-Jähriger mit entwickelte, schreibt Carmody: "Man kann Swartz' Beitrag dazu ebenso leicht übertreiben wie herunterspielen, wenn man nur fragt, ob er RSS 'erfunden' hat. Das hat er nicht. Der Schlüssel zu seiner Geschichte ist aber, dass Aaron schon als Teenager mit führenden Technologen zusammenarbeitete, um offene Standards zu schaffen, die es ermöglichen, im Netz Informationen zu teilen. Schon damals ging es ihm weniger um spezifische Projekte als um Architekturen, die es anderen möglich machten, Projekte zu entwickeln. Meiner Meinung nach ist das viel beeindruckender als das Bild eines Kids, das allein im Keller hockt und im besten Code die Dinge von null auf entwickelt."

Außerdem: Im März wurde der Argentinier Jorge Mario Bergoglio zum Papst gewählt und trägt seitdem den Namen Franziskus. In der New York Times versucht der Schriftsteller Martín Caparrós mit dieser Tatsache fertig zu werden. Im April zündeten die Brüder Tscharnajew beim Boston Marathon eine Bombe, die 3 Menschen tötete und 264 verletzte. Im Rolling Stone zeichnet Janet Reitman ein eindrucksvolles Porträt der Brüder. Lesernachrufe auf Mikhail T. Kalashnikov bei Gawker.

Überwachung / Big Data

2013 ist das Jahr der Whistleblower. Am 6. Juni berichtete Glenn Greenwald erstmals im Guardian über Massenüberwachung in den USA. Ein hochgeheimer Gerichtsbeschluss zwang den Telekomanbieter Verizon, die Metadaten von Millionen seiner Kunden an den amerikanischen Geheimdienst NSA herauszugeben. Das Dokument stammt aus einem riesigen Fundus, den Edward Snowden, Ex-Angestellter bei einer Sicherheitsfirma, die für die NSA arbeitet, geleakt hatte. Snowden stellte sich am 9. Juni in einem Video der Öffentlichkeit vor. Der Guardian hat das bisher veröffentlichte Snowden-Material in einem ausgezeichneten Dossier aufbereitet - man kann hier nach Überwachungsprogrammen und Themen sortiert herumstöbern oder einfach der Timeline folgen. Spannende Weihnachten sind garantiert.

Einer der besten Kenner der NSA unter den Journalisten ist James Bamford. Zwei Wochen nach den ersten Enthüllungen Snowdens veröffentlichte Bamford in Wired ein großes Porträt des NSA-Chefs Keith Alexander, der in den letzten acht Jahren einen gigantischen Überwachungs- und Spionagekomplex aufgebaut hat. Für Alexander ist "die Bedrohung so unglaublich groß", schreibt Bamford, "dass die Nation kaum eine andere Möglichkeit hat, als das ganze zivile Internet unter seinen Schutz zu stellen. Tweets und Emails sollen durch seine Filter laufen und die Regierung den Finger über dem Aus-Schalter haben. 'Wir erleben zunehmende Aktivitäten in den Netzwerken', sagte Alexander kürzlich auf einer Sicherheitskonferenz in Kanada. 'Ich bin besorgt, das dies eine Grenze überschreitet, jenseits derer der Privatsektor hilflos ist und die Regierung einschreiten muss." Ein Teil des privaten Sektors wird es mit Freude gehört haben, denn Überwachung ist inzwischen ein 30-Milliarden-Dollar-Geschäft geworden.

Enthüllungsjournalisten, lernt man im Sommer 2013, leben auch im Westen gefährlich. Die Dokumentarfilmerin Laura Poitras, die neben Glenn Greenwald ebenfalls Zugriff auf die von Edward Snowden geleakten Dokumente hat, wird schon seit Jahren, lange vor den Snowden-Enthüllungen systematisch an Flughäfen festgehalten, durchsucht und verhört, erzählt Peter Maass in einem packenden Porträt über Poitras in der New York Times. Hintergrund ist ein früherer Dokumentarfilm über den Irakkrieg. "Einmal, erzählt Poitras, haben sie ihr Computer und Handy abgenommen und wochenlang behalten. Man sagte ihr, dass ihre Weigerung auf Fragen zu antworten, selbst schon ein verdächtiger Akt sei. Die Verhöre fanden in internationalen Zonen von Flughäfen statt, wo nach Ansicht der Regierung die verfassungsmäßigen Rechte nicht gelten, weshalb ihr die Anwesenheit eines Rechtsanwalts nicht erlaubt wurde."

In einem langen Gespräch über Freiheit kommt der britische Historiker Quentin Skinner bei Open Democracy auch auf das von Edward Snowden enthüllte Überwachungsprogramm zu sprechen, dass seiner Ansicht nach mit keinem Freiheitsbegriff zu vereinbaren ist: "Ich denke es ist sehr wichtig zu sagen, dass die bloße Tatsache der Überwachung uns die Freiheit nimmt. ... Meine Freiheit wird nicht nur verletzt durch die Tatsache, dass jemand meine Mails liest, sondern schon durch die Tatsache, dass jemand die Macht hat, dies zu tun, wenn er es will." John Lanchester, der sich in der London Review of Books Gedanken macht, was uns demnächst mit Google Glass droht, sieht das ebenso. LRB-Autor David Bromwich ist nach dem Snowden-Video im Guardian überzeugt, dass Snowden diese Untergrabung unserer Freiheit erkannt und deshalb die Dokumente geleakt hat: "Das System, wie Snowden schlicht erkannt hat, ist unvereinbar mit dem 'demokratischen Modell' und kann nur praktiziert oder akzeptiert werden von Menschen, die jede Idee einer liberalen Demokratie aufgegeben haben, außer der Vorstellung von allgemeiner Verteidigung und Fürsorge."

Zwei Wochen nach den ersten Snowden-Enthüllungen führt Serena Danna für den Corriere della Sera eines der höchst seltenen Interviews mit Gianroberto Casaleggio, dem geheimnisumwitterten "Guru" von Beppe Grillos Cinque-Stelle-Partei, der durch einige etwas sektenhaft wirkende Videos zur kommenden direkten Netzdemokratie und zu anstehenden Weltkriegen auf sich aufmerksam machte. Er sagt: "Das Netz erlaubt zwei Extreme - die direkte Demokratie mit kollektivem Zugang zu direkt vermittelten Informationen, oder eine Orwellsche Neodiktatur, in der man nur glaubt, die Wahrheit zu kennen und frei zu sein, während man unbewusst den Regeln einer übergeordneten Organisation folgt. Es kann auch sein, dass beide Modelle entstehen werden." Ein Porträt Casaleggios schrieb drei Monate vorher Philippe Ridet in Le Monde.

Zwei weitere Beispiele dafür, wie Big Data heute bereits verwendet wird: In The Atlantic schildert Jonathan Cohn, wie Roboter, Computer, Big Data und das Internet die Medizin revolutionieren. Ebenfalls in The Atlantic untersucht Don Peck, wie Big Data die Einstellungspraxis von Unternehmen verändert. Und in Prospect unterziehen Martin Innes und Dennis O'Connor jüngere Methoden der Polizeiarbeit einer eingehenderen Betrachtung und stellen dabei fest, dass die Polizei sich neben der Aufklärung zusehends für Konzepte zur Verbrechensverhinderung durch prognostische Tools interessiert. Unschuldsvermutung? Das war gestern. Jetzt gibt es nur noch "Falschpositiv" und "Falschnegativ".

Wirtschaftskrise und Arbeit

Darf ein Abkommen, das die Öffentlichkeit scheut, überhaupt unterzeichnet werden? In einem sehr informativen Artikel in der deutschen Le Monde diplomatique erklärt Lori Wallach, Leiter der Washingtoner NGO Public Citizen's Global Trade Watch, warum das Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA hinter verschlossenen Türen verhandelt wird: "In diesem Abkommen wären auf diplomatischer Ebene ausgehandelte Gesetzesvorgaben festgeschrieben, die nach dem Wunsch der Unternehmen auch viele nicht handelsbezogene Bereiche beträfen: etwa die Sicherheit und Kennzeichnung von Lebensmitteln, die Grenzwerte chemischer und toxischer Belastung, das Gesundheitswesen und die Arzneimittelpreise, das Recht auf Privatsphäre im Internet, Energieversorgung und kulturelle 'Dienstleistungen', Patente und Urheberrechte, die Nutzung von Land und Rohstoffen, die Rechte und die Arbeitsmöglichkeiten von Immigranten, die öffentliche Auftragsvergabe und vieles andere mehr." Und das ganze wäre "praktisch irreversibel, weil jede einzelne Bestimmung nur mit Zustimmung sämtlicher Unterzeichnerstaaten geändert werden kann."

Auch die Finanzkrise von 2008 hat dem Trend zur Kapitalakkumulation unter Superreichen nichts anhaben können, beobachtet Andrew Adonis, der in Prospect eine neue Plutokratie heraufdämmern sieht. Dagegen wünscht er sich einen neuen Klassenkampf des 21. Jahrhunderts: "Eine große und zu selten diskutierte Frage ist die nach der Kompatibilität dieser Plutokratie mit der modernen Demokratie. Diese Angelegenheit ist noch drängender als die der zunehmenden Konzentration von Reichtum innerhalb einer Gesellschaft im Großen und Ganzen. Es geht dabei auch um den politischen Status dieser neuen Klasse von Superreichen und deren Fähigkeit, Gesetz und Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen zu formen."

Außerdem: In American Prospect beschreibt Harold Meyerson in einem eindrucksvollen, mit vielen Zahlen gespickten Artikel den Niedergang der amerikanischen Löhne seit 1974. Nicht dass es ihnen viel geholfen hätte, im Dezember 2013 erklärte sich Detroit offiziell für bankrott. Wie sich das auswirkt, beschreibt Matt Taibbi im Rolling Stone am Beispiel der Stadt Camden in New Jersey. Das Magazin n+1 übernimmt Andrej Weselows Porträt des russischen Bergarbeiters und Gewerkschafters Walentin Urusow, der 2008 wegen angeblichen Drogenbesitzes zu sechs Jahren Haft verurteilt wurde: Er hatte in den Diamantenminen des Alrosa-Konzerns in Jakutien einen Hungerstreik der Arbeiter organisiert, zum Unwillen des Managements und ihrer Handlanger in den offiziellen Gewerkschaften. In The Nation untersucht der britische Historiker Mark Mazower die Auswirkungen der Finanzkrise in Griechenland. Und bei nonfiction.fr kann man ein dreiteiliges Interview mit dem Historiker Jacques Julliard lesen, der kürzlich eine Geschichte der französischen Linken vorgelegt hat: "Les gauches francaises: 1762-2012". Darin erörtert er das Verhältnis der Linken zur Utopie.

Schließlich noch etwas Ermutigendes zum Abschluss des Themas hier: Der Ökonom Albert O. Hirschman gehörte zu den wenigen Menschen, die Scheitern als Chance begriffen haben. Justin Fox ist in der New York Times total hingerissen von der 740 Seiten starken Hirschman-Biografie Jeremy Adelmans. Allein sein höchst abenteuerliches Leben hatte Hirschman gelehrt, "dass große Entwicklungstheorien meist schief liegen. Seine Sicht auf die Beziehung zwischen freien Märkten und staatlichem Eingriff war, dass gute Gesellschaften beides brauchen, in verschiedenen Dosen, eben immer abhängig von den Umständen. Er war misstrauisch gegenüber den ganz großen Ideen, sogar seinen eigenen. Eines seiner Bücher hieß 'A Propensity to Self-Subversion'."