Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.08.2002. In der FAZ macht V.S. Naipaul die Prinzen Saudi-Arabiens für den Terror verantwortlich. Die NZZ und die SZ kommentieren neue Enthüllungen über Marcel Reich-Ranickis Vergangenheit in der polnischen Stasi unterschiedlich. In der FR schreibt Claus Leggewie über den langen Weg der Türkei nach Westen.

NZZ, 13.08.2002

Mit Marcel Reich-Ranickis Geheimdienstkarriere beschäftigt sich Andreas Breitenstein und kommt zu dem Schluss, dass dieser seine damalige Rolle herunterzuspiele. Immerhin habe er es innerhalb kurzer Zeit zum Hauptmann gebracht. "Wenn er an frühen Verbrechen des kommunistischen Regimes Volkspolens auch nicht selber mitwirkte, so dürfte er sie doch aus beträchtlicher Nähe miterlebt haben. Für einen Publizisten, der sich selber als Aufklärer begreift, müsste diese Zeitzeugenschaft eigentlich eine moralische Verpflichtung darstellen." Die Personalakte "Marceli Reich" des Ministeriums für öffentliche Sicherheit ist jetzt freigegeben worden, die Welt hatte gestern exklusiv berichtet.

Über Ost und West, über Trabis und Ferraris plauscht Sieglinde Geisel mit Frank Schneider, dem Intendanten des Berliner Konzerthauses. Der macht sich Sorgen über die DDR-Akademiker, die jetzt arbeitslos sind "Was machen die wohl? Das sind abgebrochene Lebensläufe. Und die wählen jetzt wahrscheinlich alle PDS."

Weiteres: Andrea Köhler fasst die geharnischte Antwort der amerikanischen Intellektuellen an ihre deutschen Kollegen zusammen, während Timo John zwei Ausstellungen über die gerade 75 Jahre alt gewordene Weißenhofsiedlung in Stuttgart besucht hat und sda den Tod des tschechischen Collagekünstlers und Schriftstellers Jiri Kolar meldet.

Außerdem gibt es eine Leseprobe zu Angela Krauss' Prosaband "Weggeküsst", der im September erscheint. Womit wir bei den Büchern wären, wo unter anderem Jacques Derridas "Seelenstände der Psychoanalyse" und Dagobert Gilbs "Holzschnitte von Frauen" besprochen werden.

FAZ, 13.08.2002

Tobias Döring und Hubert Spiegel unterhalten sich mit Nobelpreisträger V.S. Naipaul, der kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag in Deutschland weilte. Er spricht auch über die weltpolitische Lage und macht in deutlichen Worten Saudi-Arabien für den Terror verantwortlich: "Wir dürfen einem kleinen, ungebildeten und zurückgebliebenen Volk nicht allein aufgrund seiner Ölreserven erlauben, an so vielen Orten der Welt Unfrieden zu stiften, bis hin zum Blutvergießen. Dies wäre falsch. Wir dürfen das nicht länger zulassen." Die hübscheste Passage aber handelt vom Schreiben. "Heute schreibt niemand mehr Erzählungen, das ist lange vorbei", merkt Naipaul an." Doch doch, die jungen deutschen Autoren schreiben Kurzgeschichten, antworten die Interviewer. "Ach, tatsächlich? Ihre jungen deutschen Autoren schreiben wie Kleist?"

Michael Jeismann sieht angesichts des nun schon zweitägigen Regens die Klimakatastrophe herannahen: "Alles deutet darauf hin, dass wir auch hier an einer Epochenschwelle stehen: Die Unwetter, die wir seit Tagen erleben, gehorchen nicht mehr jenen Regeln, die in hundertjährigen Kalendern festgehalten werden konnten."

Weiteres: Michael Allmaier resümiert das Filmfestival von Locarno und findet die Entscheidung für den deutschen Film "Das Verlangen" von Iain Dilthey immerhin interessant. Dazu gehört ein kleines Interview mit dem Ludwigsburger Filmhochschulabsolventen. Hans-Peter Riese schreibt zum Tod des Collagekünstlers und Schriftstellers Jiri Kolar. Jürgen Richter klagt über den Zustand des Schlosses Wilhelmsthal in Thüringen, welches sich als trauriger Pflegefall erweise. Jordan Mejias setzt sich mit dem Stand der Ermittlungen im Fall der Milzbrandbriefe auseinander. Dietmar Polaczek macht uns mit italienischen Sommerlochdiskussionen über das Turiner Schweißtuch bekannt, von dem sich die Kirche immer mehr zu distanzieren scheint.

Auf der Medienseite berichtet Heike Hupertz, dass die Firma Nielsen, welche die statistischen Erhebungen für das amerikanische Fernsehen vornimmt, seit kurzem einen neuen demographischen Durchschnitt zugrundelegt, was Auswirkungen auf die Quoten bekannter Fernsehsendungen hat. Für die letzte Seite besucht Renate Schostak das in den bayerischen Alpen gelegene, nur durch mühsame Klettertouren zu erreichende Königshaus Schachen, wo Ludwig II. seine Geburtstage feierte. Jürg Altwegg schreibt ein Profil des neuen französischen Kulturministers Jean-Jacques Aillagon. Und Christoph Albrecht berichtet über die Replik amerikanischer Intellektueller, die den Krieg gegen den Terror befürwortet hatten ("What we're fighting for") auf eine Petition deutscher "Top-Moralisten".

Besprochen werden eine medizinhistorische Ausstellung im Landesmuseum für Technik und Arbeit von Mannheim und der Auftritt von Robert Gernhardt in Salzburg.

SZ, 13.08.2002

Franziska Augstein findet das Stochern in der Vergangenheit Marcel Reich-Ranickis in der polnischen Stasi zweifelhaft: "In Polen mag die Vergangenheit Marcel Reich-Ranickis, der nach seiner Befreiung aus dem Ghetto Kommunist war, .. eine Bedeutung haben. Hierzulande hingegen kann die Wahrheit, die da zu Tage kommen soll, nur auf die Deutschen selbst zurückfallen."

Weiteres: Frank Ebbinghaus fragt im Aufmacher, was uns frühere Depressionen über die heutige Wirtschaftskrise lehren. Fritz Göttler stellt das Episodenwerk "11 09 01" vor, in dem der 11. September filmisch verarbeitet wird. Ein namenloser Autor berichtet über einen Dichterstreit bei der Ruhr-Triennale, der aber in Wirklichkeit keiner sei. Christian Kortmann untersucht das Verhältnis von Politikern und Popmusikern in Wahlkämpfen.

Besprechungen gelten Werner Herzogs "Fliegender Holländer"-Inszenierung in Erfurt, zwei Florentiner Ausstellungen über die Kunst in der großen Zeit der Stadt, dem Barockmusik-Fest in Beaune, einer Fotoausstellung über die Regisseurin Ruth Berghaus in Berlin und einer CD von Misha Alperin.

TAZ, 13.08.2002

Jenny Zylka hat sich nach Leipzig auf den zweiten "Fabulous SixtiesSkaSoulSurf'n'Beat-Weekender" begeben und gemerkt, dass alles irgendwie vergänglich ist. "Wie Secondhand-Sachen stinken können bei Regen! Als ob sich die Feuchtigkeit mit dem Muff aus tausend Jahren verbindet, und was vorher hot und fab und dedicates-follower-of-fashionlike war, wird plötzlich ein olles, gebrauchtes Polyesterding, das man aus Angst vorm Einlaufen lieber nicht gewaschen hatte, nachdem man es für wenig Penunzen aus dem Secondhand-Shop errettete."

Dan Richter erzählt von seinen Zeitarbeitserfahrungen, die sich zumindest im Rückblick amüsant anhören, etwa wenn er einen Text übersetzen soll, wo es um Spritzbeton geht. "Natürlich versagte ich. Mr. Miller war erstaunt. Eben war ich noch der beste Englischsprecher Deutschlands gewesen. Und jetzt, wo ich den Text sogar ablesen durfte, klappte es nicht."

Außerdem: Anke Leweke freut sich über den Goldenen Leoparden für den deutschen Beitrag "Das Verkangen" in Locarno, und Brigitte Werneburg blickt in die Zeitschrift Die Aktion, wo die Frage verhandelt wird, ob das Attentat auf das WTC ein surrealistisches war. Bücher gibt es auch noch, unter anderem bespricht Jenny Friedrich-Freska den "Traum meiner Mutter" von Alice Munro.


FR, 13.08.2002

Nicht religiöse Differenzen sind für einen EU-Beitritt der Türkei hinderlich, meint Claus Leggewie: "Vielmehr müssen die Menschenrechte in der Türkei stärker respektiert werden und demokratische Verhältnisse herrschen, im Einklang mit der europäischen Idee, die autoritäre Militärdiktaturen nicht duldet und auch nicht zulassen kann, dass in einem Mitgliedsstaat die Opposition unterdrückt und ethnischen Minderheiten wie den Kurden die kulturelle Autonomie verweigert wird."

Weiteres: In ihrer Serie zur documenta 11 verteidigt heute Diedrich Diederichsen die Kunstschau gegen ihre Kritiker. Daniel Kothenschulte befindet anlässlich des Sieges von "Das Verlangen" beim Fimfest von Locarno, dass deutsches Elend wieder exportfähig sei. Hans Wolfgang Hoffmann berichtet über die eigenwillige Sanierung eines Berliner Mietshauses durch den Architekten Wolfram Popp, Holger Ehling besuchte die Internationale Buchmesse in Zimbabwe, Helmut Ploebst entdeckte "Perlen und Blockbusters" im zweiten Teil des Wiener Festivals "Impulstanz" und in der Kolumne Times mager kommentiert thm die jüngsten Veröffentlichungen in der Welt über Marcel Reich-Ranickis Agententätigkeit in den Jahren von 1944 bis 1950.