Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.10.2002. Die FAZ berichtet über einen Heinrich-Mann-Nachlass, der wiedergefunden wurde, obwohl er gar nicht verloren war. Die SZ beobachtet besorgt, wie der PISA-Schock im Wackelpudding der Kultusministerkonferenz abgedämpft wird. Die FR findet: Daniel Goldhagens neues Buch ist ein Fiasko. Die NZZ macht uns mit den Hijras in Pakistan bekannt: Sie tragen Frauenkleider, sie sind kastriert, sie prostitutieren sich.

SZ, 22.10.2002

Der Sprachwissenschaftler Jürgen Trabant ventiliert die Frage, "was unserer Erziehung wirklich fehlt". Er wundert sich darüber, dass der Pisa-Schock längst "im permanenten Wackeln des Puddings Kultusministerkonferenz untergegangen" sei, und auch dass sich die zuständigen Damen und Herren nicht wie in Japan "öffentlich entleibt" hätten, sondern "alle sechzehn noch im Amt" seien. Seine "gänzlich unfachwissenschaftlich" vorgetragene Anmerkung zu Erziehung lautet: "Im Grunde weiß jeder, wie es aussehen muss, nämlich: education, education, education. Morgens, mittags und abends, also ganztags (...). Und natürlich soll auch etwas geleistet werden, da hat die KMK schon recht. Aber es fehlt, was das Ganze zusammenhält: Es fehlt das Herzstück, es fehlt das Herz. Das Herzstück ist eine generöse Politik sprachlicher Erziehung, und das Herz ist das Herz: die Begeisterung, der Enthusiasmus oder meinetwegen auch die Verzweiflung."

Weitere Themen: Jörg Häntzschel zeigt, was amerikanische Museen machen, denen das Geld ausgeht: sei kaufen einfach gemeinsam ein. Martin Z. Schröder würdigt das Günter-Grass-Haus in Lübeck, findet aber die Ausstellung "Fundsachen für Grass-Leser" in der Berliner Akademie der Künste viel spannender. Siggi Seuss informiert über die Theatermisere in Meiningen ("eine Tragödie in fünf Akten"). Hermann Unterstöger schreibt in der Kolumne "Zwischenzeit" über die Schmierfunktion des Fugen-s, im "Blickwechsel" räsoniert "ott" über des geheimnisvollen Zusammenhang zweier Werbefilme im Kino, und "akis" denkt über das neue Bestattungsgesetz "BestG" nach. Und dann gibt es noch Ereignisberichte: Holger Liebs verfolgte eine Tutzinger Tagung zum Thema "Wer liebt, hat recht", Fritz Göttler berichtet von den 40. Filmfestspielen in Wien, und Harald Eggebrecht resümiert des 1. Celibidache-Festival in München.

Besprechungen: Sehr gelobt wird die Ausstellung "Mare Balticum" über die Kulturgeschichte des Ostseeraums im Nationalmuseum Kopenhagen. Maßvoll gelobt wird Jochen Schölchs Inszenierung von "Cosi fan tutte" im Münchner Gärtnerplatztheater, und sehr differenziert gewürdigt werden die Inszenierung von Abi Morgans Stück "Tiny Dynamite" und eine Dramatisierung von Achim von Arnims "Isabella von Ägypten" am Mannheimer Nationaltheater.

Auch Bücher werden besprochen, darunter die neue Veröffentlichung von Mike Davis, in der er den endgültigen Untergang der Städte voraus sagt und die neue Nummer der "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte", die das Tagebuch eines Antisemiten in Wehrmachtsuniform dokumentiert, der dem Vernichtungskrieg nicht standhielt (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

FR, 22.10.2002

Micha Brumlik geht mit der zweiten Deutschlandtour von Daniel Jonah Goldhagen hart ins Gericht: die Lesereise zu dessen neuem Buch sei schlicht "ein Fiasko". "Sein Frontalangriff auf die katholische Kirche geht trotz wichtiger Argumente und eines beeindruckend zitierten Forschungsstandes ins Leere, weil er nicht als Historiker, sondern als Moraltheoretiker und Theologe auftritt. Damit bietet er seinen Gegnern (...) Blößen ohne Ende, was dazu führen muss, genau das Gegenteil dessen zu erwirken, worum es ihm doch geht: um die historische und moralische Mitverantwortlichkeit der Papstkirche für den Holocaust."

Weitere Artikel: Christian Schlüter kommentiert den Rücktritt Möllemanns ("Die angeblich auf ärztlichen Rat angetretene Kur ist - Sonnenschein und Glück allein - freche Provokation"). Detlef Kuhlbrodt hat sich auf dem Dokumentarfilmfestival Leipzig umgesehen, wo ihm am meisten ein Film über den Tschetschenienkrieg beeindruckt hat. Hans-Klaus Jungheinrich berichtet über die Donaueschinger Musiktage. Dirk Fuhrig lässt uns an der Freude der Lübecker über ihr neues Günter-Grass-Haus teilhaben. Unter der Überschrift "Skepsis und Zuversicht. Salzburger Nachdenken: Schreiben über andere Leben" verbirgt sich bis dato leider nur ein Porträt von Christina Weiss aus der letzten Woche.

Und dann gibt es noch Besprechungen, so die eines "gebetsartigen" Konzerts von Bruce Springsteen in Berlin. Stefan Keim wundert sich über Matthias Hartmann, der am Theater Bochum mit dem "Kaufmann von Vendedig" flopt und "trotzdem das Theater weiterbringt", als "pingelig" gescholten wird dagegen eine Inszenierung von Horvaths "Kasimir und Karoline" am Bremer Theater. Stefan Tolksdorf stellt schließlich noch zwei Ausstellungen aktueller feministischer Kunst im Freiburger Museum für Neue Kunst und in der Kunsthalle Baden-Baden vor.

TAZ, 22.10.2002

Die taz präsentiert ihre Überlegungen zum Rücktritt Möllemanns im vorderen Zeitungsteil unter dem Seitenmotto "Das dröge Thema". Stefan Kuzmany führt dabei ausführlich den Beweis, dass der Skandal lediglich der "Kristallisationspunkt strategischer Geheimaktionen" beziehungsweise "vorläufiger Höhepunkt einer genialen Inszenierung" sei.

Auf den Kulturseiten heute vor allem Besprechungen und Veranstaltungsberichte. Eine schöne Gelegenheit zum vergleichenden Lesen bietet Detlef Kuhlbrodt, der auch für die taz in Sachen Dokumentarfilmfestival Leipzig unterwegs war und es tatsächlich geschafft hat, einen völlig anderen Text als in der FR darüber zu schreiben. Susanne Altmann stellt diverse Kunstprojekte vor, mit denen man in Dresden versucht, städtische Brachflächen zu beleben. Von den Donaueschinger Musiktagen berichtet Björn Gottstein, und Gerrit Bartels enttarnt Bruce Springsteen anlässlich seines Berliner Konzerts ("geheimnisfrei") als "Wurzel aus Rock".

Dann werden natürlich noch Bücher besprochen, darunter die Erinnerungen von Peter-Jürgen Boock an die Entführung und Ermordung von Hanns-Martin Schleyer, eine Biografie des Historikers Theodor Mommsen und in der Rubrik "Bücher für Randgruppen" ein kunstsinniges Kochbuch aus der Schweiz (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und hier TOM.

NZZ, 22.10.2002

Renate Syed schickt eine Reportage aus Pakistan über die Gemeinschaft der Hijras, die dem "dritten" Geschlecht angehören "mit männlichem Körper und weiblicher Seele". Es handelt sich um als Männer Geborene, die sich zusammenschließen, in Frauenkleider kleiden nicht selten der Prostitution nachgehen: "Was macht das dritte Geschlecht aus, frage ich Farrahs Langzeitliebhaber, einen hochgewachsenen Paschtunen mit stachelbeergrünen Augen. Er lacht verlegen und meint, na ja, Hijras seien keine echten Männer, es fehle ihnen das . . . Entscheidende. Er spielt darauf an, dass sich viele Hijras, aber beileibe nicht alle, kastrieren lassen. Dies zeigt, dass viele Hijras den westlichen Transsexuellen verwandt sind, die sich im falschen Körper gefangen sehen und unbedingt Frauen werden wollen. Während im Westen eine operative Angleichung an das Wunschgeschlecht erfolgt, lassen sich Hijras auf eigenen Wunsch von ihrer Guru kastrieren, und auch dies hat eine lange Tradition." Hier ein Fotoessay über die Hijras in Pakistan, den wir auf der Seite ars-rhetorica.net gefunden haben.

Jürgen Tietz plädiert in einem längeren Artikel gegen die deutsche Leidenschaft, deutsche Stadtschlösser, nachdem man sie durch selbstentfesselte Kriege zerstört, dann abgerissen hat, nun der Fassade nach wiederaufzubauen. "Dabei regt sich der Verdacht, die neue Sehnsucht nach den alten Schlössern könnte die Antwort auf jene vierzig Jahre demütig ertragener Bescheidenheit sein, die in beiden deutschen Staaten während der Teilung zähneknirschend erduldet werden musste." Nicht nur in Berlin, sondern auch in Potsdam und Hannover und anderen Städten will man die Stadtschlösser wieder aufbauen, unterrichtet uns Tietz.

Weitere Artikel: Joachim Güntner beklagt, dass in Deutschland Spenden von Unternehmen neuerdings steuerlich nicht mehr geltend zu machen sein sollen - eine Manifestation sozialdemokratischer Kulturfeindlichkeit in der neuen Koalitionsvereinbarung. Von Esther Dischereit wird die Erzählung "Der Mann, der links sagte" abgedruckt. Besprochen werden die Aktion "Kunst auf Rezept", in der Künstler medizinische Rezeptpapiere umgestalteten und der in Siegen eine Ausstellung gewidmet ist, Berlioz' Oper "Benvenuto Cellini" in Zürich, die Dramatisierung von Achim von Arnims Novelle "Isabella von Ägypten" in Mannheim und einige Bücher, darunter Juri Rytchëus Tschuktschen-Saga "Der letzte Schamane".

FAZ, 22.10.2002

Tilman Spreckelsen berichtet über einen Archivbestand, den man wiedergefunden hat, ohne dass er je verschwunden war. Es geht um einen großen Teil des Nachlasses von Heinrich Mann, den man in Prag verloren glaubte, bis die Berliner Archivarin Christina Möller "sich über eine Unstimmigkeit in den Briefen Leonie Manns an das Berliner Archiv wunderte. Die Tochter Heinrich Manns erinnerte sich nach dem Krieg an die Prager Stadtbibliothek als den ersten Aufbewahrungsort des gesamten Konvoluts. Näherliegend, fand Möller, wäre das Literaturarchiv gewesen. Also schrieb sie dorthin, um die Sache aufzuklären - und war zutiefst überrascht, als sie die Nachricht von dem Heinrich-Mann-Bestand erhielt." Der dort seit Kriegsende treu verwahrt und katalogisiert wurde! Die großen Mann-Biografen waren offensichtlich nie auf die naheliegende Idee gekommen. Abgedruckt wird nebenbei ein Fundstück, ein Brief Thomas Manns an Heinrich, der aufsehenerregende Details über die Urlaubspläne Thomas' im Mai 1909 offenbart. Und auf der letzten Seite verweist Edo Reents auf die wenig bekannte Tatsache, dass Heinrich der ältere Bruder Thomas Manns war.

Weitere Artikel: Eduard Beaucamp lobt die großer Bremer Ausstellung der "Felder"-Bilder van Goghs und erinnert an einen Kunststreit, der 1909 ausbrach, als die ersten deutschen Museen anfingen, französische Impressionisten zu kaufen und konservative deutsche Künstler vor "Überfremdung" warnten. Stefanie Peter macht auf eine Generationendebatte in Polen aufmerksam, die durch den Text "Generation Nichts" des Punkrockers Kuba Wandachowicz von der Band "Cool Kids of Death" ausgelöst wurde - man beklagt das Übliche, den Werteverfall im Kapitalismus. Mark Siemons kommentiert die Auseinandersetzungen bei den Grünen, die die Eltern ihres Wahlsiegs schnöde entthronten. Shi Ming konstatiert eine Rückkehr von Klassenkampfparolen in den gesellschaftlichen Debatten Chinas - über ein anderes Vokabular verfügen die Intellektuellen dort einfach nicht, erläutert er (oder sie?) Siegfried Stadler macht auf ein Leipziger Wagner-Denkmal von Max Klinger aufmerksam, das nach dem Abriss einen Kaufhauses möglicherweise ins Stadtzentrum versetzt wird. Jürg Altwegg stellt den französischen Schriftsteller Alexandre Jardin vor, den Erfinder der Bürgeraktion "relais civique": Rentner lesen Jugendlichen vor, welche daraufhin den republikanischen Idealen anhängen.

Auf der letzten Seite berichtet Eberhard Rathgeb über die Eröffnung des Günter-Grass-Hauses in Lübeck und die Göttinger Feierlichkeiten zum 75. Geburtstag des Nobelpreisträgers. Und Verena Lueken stellt uns den Dichter und poete laureate des Bundesstaates New Jersey Amiri Baraka vor, einen zum Islam konvertierten Schwarzen, der nun mit einem antisemitischen Gedicht zum 11. September hervortrat. Auf der Medienseite unterrichtet uns Michael Hanfeld über eine heute anstehende Betriebsversammlung in der Süddeutschen Zeitung und Gerüchte, dass die WAZ-Gruppe die SZ (und die FR gleich mit) kaufen werde. Ferner stellt Alexander Bartl das neue Frauenmagazin woman vor, und Robert von Lucius berichtet über die erste Zeitungsgründung in Dänemark seit Jahrzehnten - Dagen, eine Zeitung für die Generation Golf (sagt die Unterzeile der FAZ).

Besprechungen gelten einem Konzert Bruce Springsteens in Berlin, Niklaus Helblings Dramatisierung von Achim von Arnims "Isabella von Ägypten" in Mannheim und dem Osnabrücker "Open Strings Festival" (mehr hier).