Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.04.2003. In der SZ outet Dustin Hoffman das Universum als "verdammt harten Ort". In der taz warnt der Soziologe Klaus Hurrelmann vor einem Abflauen der Friedensproteste wegen notorischer Kurzatmigkeit der Egotaktiker. In der FAZ appelliert ein verzweifelter Ingo Metzmacher an die Kulturnation. In der NZZ polemisiert Gernot Böhme gegen Karl Otto Hondrichs "Weltgewaltordnung". Und die FR braucht vier Minuten.

SZ, 01.04.2003

In einem Interview erläutert Dustin Hoffmann unter anderem, warum er an einen göttlichen Plan für alles glaubt und das Universum trotzdem für einen "verdammt harten Ort" hält. Die "Physik" hinter dem Irak-Krieg sei reichlich simpel: "Da gibt es eine einfache Erklärung, die kann man bei Thomas L. Friedman lesen, der hat die Theorie des Goldenen Bogens entwickelt - das ist das Symbol von McDonald?s. Die Theorie besagt, dass keine zwei Länder miteinander Krieg führen, in denen es McDonald?s gibt. Der US- Regierung geht es darum, andere Länder so zu kolonisieren und unter Kontrolle zu bringen, dass sie dann auch ihren McDonald?s bekommen."

Mitte Mai steht am Münchner Haus der Kunst ein Leitungswechsel an. Aus diesem Anlass verabschiedet Gottfried Knapp das "diplomatische Genie" Christoph Vitali, und würdigt dessen Elan, der "den schwer kontaminierten, aber räumlich ergiebigen Nazi-Tempel in kürzester Zeit an die Spitze der deutschen Ausstellungs-Institute" getragen habe. Holger Liebs stellt seinen Nachfolger Chris Dercon vor, der das Haus "noch stärker als bisher auf Gegenwartskunst - und hier insbesondere auf gattungsübergreifende Ansätze zwischen Fotografie, Film, Theater, Tanz oder Medienkunst - verpflichten" wolle.

Weitere Artikel: Um die "Idee des Radios" ging es auf einer Berliner Tagung, die Ralf Berhorst resümiert. Marten Rolff informiert über die gemeinsame Kulturstiftung von Bund und Ländern, die nun von 2004 an tätig werden kann. Gottfried Knapp gratuliert dem Münchner Bildhauer Rudolf Wachter zum 80. Geburtstag. Auf MTV hat "zri" die jüngsten Auswüchse "origineller Versuche der Gehirnwäsche" durch die USA entdeckt, und in der Kolumne Zwischenzeit denkt Claus Heinrich Meyer über Nachkriegsrituale und Ordenssammlungen nach. Schließlich gibt es noch eine Auswahl von Ausstellungen, die im April zu sehen sind.

Besprochen werden eine Inszenierung von Paul Claudels "Der seidene Schuh" am Theater Basel und ein als "intellektuelles Minigolf" apostrophierter "Oblomow" am Wiener Burgtheater, ein nur durch den Dirigenten geretteter "Siegfried" an der Dresdner Semperoper, eine Werkschau des dänischen Malers Vilhelm Hammershoi in der Hamburger Kunsthalle, ein Münchner Schubert-Liederabend mit Angelika Kirchschlager und ein offenbar markerschütterndes "Nachtrock Spezial" mit unter anderen Whitehouse und Aphex Twin an der Berliner Volksbühne. Und natürlich Bücher, darunter ein "böser Ost-West-Berlin-Roman" von Andre Kubiczek, eine philosophische Untersuchung zum "Selbstgefühl" und eine Studie über die Parkinson-Krankheit (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

NZZ, 01.04.2003

Der Philosoph Gernot Böhme ist schwer enttäuscht von Karl Otto Hondrichs Plädoyer für eine "Weltgewaltordnung" (NZZ vom 22.3.03): "Nach dem 11. September hatte er sich noch für Recht und gegen Gewalt ausgesprochen, damals eine der besonnensten Stimmen: 'Verbrechen soll man bekämpfen, nicht bekriegen.' Die Ereignisse des 11. September hatte er zu einer Chance der Weltmoral hochstilisiert ... Nun, einen Schritt weiter, lässt Hondrich seine Hoffnung auf Moral fallen und bekehrt sich als politischer Denker zur großen Tradition von Machiavelli, Hobbes, Carl Schmitt." Die aus dem Absolutismus bekannte "Befriedung durch Gewaltmonopol", habe Hondrich nun einfach auf die globale Ebene hochgerechnet, dabei aber die "Frage der Legitimität der Macht vergessen". Wenn die USA nicht beginnen, sich für "universale Interessen" einzusetzen, wird die "gegenwärtige amerikanische Regierung ... innenpolitisch wie außenpolitisch an der mangelnden Legitimität scheitern", meint Böhme.

Weitere Artikel: Joachim Güntner zeichnet ein Bild des Schreckens von der Kulturpolitik in Hamburg und Köln: "Der Geldmangel ist nicht das größte Problem", viel schlimmer sei die "neue Anspruchslosigkeit" von Kulturpolitikern, die subventionieren, "was ohnehin gefällt", statt "Hirn und Herz" zu fordern. Derek Weber beschreibt die "Umbau-Probleme" des kleinen Salzburger Festspielhauses aufmerksam.

Samuel Herzog macht auf die wahrlich expressive Ausstellung der Fondation Beyeler in Riehen aufmerksam. Man könnte "Expressiv!" auch als "eine Coffee-Table-Ausstellung ansehen", wobei "die Schnittchen allerdings, die hier gereicht werden", aus den "besten Bäckereien der Welt" stammen. Weiter werden besprochen: Eine Ausstellung zeitgenössischer mexikanischer Architektur in Paris, "Die Kopien" von Caryl Churchill an der Berliner Schaubühne in der Inszenierung von James Macdonald und Bücher, darunter "Das Orakel von Oonagh", der Debütroman der 14jährigen Flavia Bujor und das jüngste Werk des Pop-Poeten Andreas Neumeisters, "Angela Davis löscht ihre Website" (siehe auch unsere Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 01.04.2003

Was treibt ausgerechnet die "Egotaktiker" derzeit auf die Straße? Der Bielefelder Sozialwissenschaftler Klaus Hurrelmann, Mitherausgeber der Shell-Jugendstudie 2002, sieht im taz-Interview diese Klassifizierung angesichts zahlreich protestierender Jugendlicher keineswegs widerlegt: "Das ist ja gerade ein Bestandteil dieses egotaktischen Verhaltens, dieser Mentalität, auch bei politischen Themen von ganz ursprünglichen Bedürfnissen und Wünschen auszugehen. Wir haben ja in der Shell-Studie festgestellt, dass das Interesse der Jugendlichen für die etablierte Politik, für Parlament und Parteien, eher klein ist. Das ändert sich deutlich, wenn es um punktuelle Ereignisse geht, die emotional ansprechen. Und genau das ist passiert." Allerdings prognostiziert er ein baldiges Abflauen, schließlich sei "langfristige Orientierung nicht die Sache der Egotaktiker".

Auf den Kulturseiten schreibt Sellim Nassib an seinem Kriegstagebuch über die Berichterstattung des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira weiter: "Die zwei großen rivalisierenden Strömungen, welche die arabisch-muslimische Straße bewegen, die vom arabischen Nationalismus inspirierte und die islamistisch beeinflusste, sie könnten versucht sein, ihre Stimmen in Gleichklang zu bringen. Denn es geschieht ja nicht alle Tage, dass man die Gelegenheit bekommt, mit einem Sprengstoffgürtel um die Hüfte dem Imperalismus oder (wahlweise) dem großen amerikanischen Satan entgegenzutreten."

Mehr zum und über den Krieg: In einem ausführlichen Porträt von al-Dschasira beschreibt Julia Gerlach die tägliche Gratwanderung der Redaktion "zwischen politischem Druck und neuer Konkurrenz". Detlef Kuhlbrodt kommentiert die aktuelle Demo-Kultur und deren "schiefe Slogans", und auf der Medienseite lobt Anja Maier den Kinderkanal für seine gut verständliche tägliche Nachrichtensendung "Logo" und sein anschauliches Irak-Lexikon, das auch ein Diskussionsforum bietet (Beitragsbeispiel: "Bush ist voll der Gammler").

Ansonsten berichtet Alexander Haas von Anstrengungen, aus Köln wieder eine relevante Theaterstadt zu machen, "Unterm Strich" wird ein kleiner Ausblick auf das Programm der diesjährigen Biennale in Venedig (mehr hier) geliefert, und es gibt Rezensionen, darunter der neue Roman von Wilhelm Genazino, ein Band über die "Faszination Wolf", Baruch Kimmerlings Analyse von "Ariel Sharons Krieg gegen das palästinensische Volk" und eine Studie über "Chinas Außenpolitik" (siehe auch unsere Bücherschau ab 14 Uhr)

Und hier TOM.

FAZ, 01.04.2003

Ingo Metzmacher verlässt seinen Posten als Generalmusikdirektor in Hamburg und geht nach Amsterdam. Eleonore Büning hat ihn noch mal getroffen, und er macht keinen Hehl aus seinem Ärger über die Kulturpolitik in Deutschland: "Gerettet werden muss seiner Meinung nach vor allem die Möglichkeit, dass auch Neues, an der Kasse nicht sofort Wirksames, produziert wird. 'Das ist doch die große Stärke in Deutschland: unser kreatives Potenzial. Die vielen kleinen Häuser sind nicht nur Quantität, sie bieten auch qualitativ vielen die Chance, das Alte neu zu denken, etwas neu zu erfinden. Diese Freiheit müssen wir bewahren. Und in diesem Punkt wünschte ich mir von den Kulturpolitikern mehr Offensive. Es geht um viel mehr als nur um den Standortfaktor, das Selbstverständnis des deutschen Staates als Kulturnation steht auf dem Spiel.'"

Weitere Artikel: Mark Siemons versucht, die Beweggründe hinter Angela Merkels Befürwortung des Krieges zu verstehen. Oliver Tolmein weist darauf hin, dass die USA nach einem Sieg im Irak "Saddam Hussein und seinen einflussreichsten Unterstützern den Prozess machen" wollen. Niklas Maak skizziert das Programm der nächsten Biennale in Venedig. Dieter Bartetzko gratuliert dem Architekten Mario Botta zum Sechzigsten, Franz Siepe freut sich, dass die berühmte mittelalterliche Madonnenstatue aus Salzwedel, die die letzten Jahre im Tresor verbrachte, nun in einer Vitrine ausgestellt wird. Gustav Falke resümiert ein Symposion über Helmuth Plessner in Krakau

Auf der letzten Seite nimmt der Grammatikprofessor Horst Haider Munske Stellung zu den jüngsten Kompromissvorschlägen der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung zur Rechtschreibreform, die für ihn den "Weg vom scharfen Protest zum Verhandlungsangebot" gegangen sind. Dietmar Polaczek schildert einen hässlichen Familienstreit um das Erbe des Schriftstellers Giorgio Bassani. Und Ilona Lehnart porträtiert Annemarie Jaeggi, die neue Direktorin des Bauhaus-Archivs in Berlin.

Auf der Bücher-und-Medien-Seite publiziert Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einen Essay über das Schicksal von Büchern und Bibliotheken aus jüdischem Besitz unter den Nazis. Auf der Medienseite schildert Jürg Altwegg die Kriegsberichterstattung der französischen Sender und hat einen Eindruck, den wir in Deutschland auch haben: "Die Kriegsreporter tun gar nicht mehr so, als würden sie etwas wissen. Aber sie sind vor Ort, und wir sind dabei." Dietmar Polaczek informiert über die Personalquerelen im italienischen Staatssender RAI. Heike Hupertz berichtet über eine erste fiktionale Zurichtung des 11. September in einem Fernsehfilm über das Leben von Rudy Giuliani mit James Wood. Nur in einer Meldung wird das Internetportal Qantara vorgestellt, welches sich dem Dialog mit der islamischen Welt verschreibt und zur Zeit eine interessante Informationsquelle zum Krieg darstellt.

Besprochen werden die große Parmigianino-Ausstellung in Parma ("ein Triumph ohnegleichen", schreibt Dirk Schümer), Jan Bosses Inszenierung von Kleists "Familie Schroffenstein" in Zürich, ein Konzert mit Technomusik in der Berliner Volksbühne, James Macdonalds Inszenierung von Caryl Churchills "Kopien" an der Berliner Schaubühne und Peter Ruzickas "Celan"-Musiktheater in Mainz.

FR, 01.04.2003

Vorbemerkung in eigener Sache und für eilige Nutzer unseres Dienstes: die Online-Ausgabe der FR wird immer lahmer! Bis zu vier (!!) Minuten dauerte vergangene Nacht jeder einzelne Seitenwechsel! Das ist entschieden zuviel! Die für den Dienstag zuständige Perlentaucherin macht deshalb heute entnervt Dienst nach Vorschrift und kündigt bei gleichbleibenden Bedingungen für nächste Woche einen Warnstreik an.

Im Aufmacher wird die zweite sächsische "Nachwende-Generation" porträtiert, die derzeit die Kunstwelt erobert. Als einziger Textbeitrag zum Irak-Krieg wird das Kuwaitische Tagebuch fortgesetzt, das der seit einem Jahr in Kuwait lebende Texaner Brian Bolt per E-Mail an Berliner Freunde schickt. Wir lesen einen Bericht über den Moskauer Streit um die Rückgabe von Kulturgütern an die Bremer Kunsthalle, erinnert wird überdies an den 1.4.1933, den Tag, als der Boykott jüdischer Geschäfte begann.

Alexander Schnackenburg berichtet in Times mager über einen heftigen Streit, der in Bremen um den Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon entbrannt ist, und im zweiten Teil der Serie "Neues aus der Zone" lässt Michael Tetzlaff sein ehemaliges Nachbarschaftskollektiv Revue passieren.

Besprochen werden das Klondrama "Die Kopien" von Caryl Churchill an der Berliner Schaubühne, der Debüt-Roman von Anna Gavalda und Jean-Philippe Rameaus Oper "Les Boreades" im Pariser Palais Garnier.