Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.04.2004. In der Welt diskutieren Gabor Steingart und Paul Nolte über Reformen für Deutschland. Die anderen Zeitungen huldigen in einer Fülle von Geburtstagsartikeln dem demographischen Alterungsprozess.

Welt, 03.04.2004

In der Literarischen Welt diskutieren Paul Nolte ("Generation Reform") und Gabor Steingart ("Deutschland - Der Abstieg eines Superstars"), über die Reformen, die nötig wären, um Deutschland wieder auf die Beine zu stellen, und wie man sie der Bevölkerung erklärt. Letzteres findet Steingart gar nicht so schwierig: "Man muss den Leuten einfach die Wahrheit sagen. Und diese Wahrheit lautet: Ihr müsst auf nichts verzichten. Denn das, woran die Leute jetzt noch glauben und was sie als Versprechung nicht entbehren wollen, das gibt es ja gar nicht. Man muss nicht auf eine hohe Rente verzichten, denn es wird sowieso keine hohe Rente geben, die würde niemals ausgezahlt werden können. Wir leben in einer Wohlstandsillusion, und verzichten müssen wir nur auf diese Illusion. Wenn einem das erst einmal klar ist, dann ist der Verlust auch nicht mehr so groß."

Im Feuilleton denkt der Osteuropaexperte Paul Lendvai über den Antisemitismus in Ungarn nach.

NZZ, 03.04.2004

Joachim Güntner greift die von Salomon Korn ausgelöste Debatte um die Leipziger Rede der lettischen Außenministerin Sandra Kalniete auf, die die Verbrechen von Kommunismus und Nazis "gleichermaßen verbrecherisch" nannte. Korn liest das so, "dass damit der Sowjetunion 'der gleiche rassistische Ausrottungswille' wie den deutschen Nazis zugeschrieben werde", schreibt Güntner. Doch "der Redetext gibt eine solche Lesart nicht her. Kalniete wendet sich gegen die antifaschistische Schönfärberei, die lange genug bereit war, die Sünden der Sowjetunion mit ihren Verdiensten im Kampf gegen Hitlerdeutschland zu rechtfertigen. Da liegt die Stoßrichtung."

Weitere Artikel: Peter Hagmann fragt sich und uns anlässlich von Andrew Parrotts Buch "Bachs Chor" und einiger CDs, ob Bachs Chor nicht solistisch besetzt war. Gabriele Hoffmann besucht die große Rubens-Ausstellung in Lille. Besprochen werden ferner eine Ausstellung über Jacques Tati und die moderne Architektur in München und einige Bücher, darunter Andrew Wilsons Patricia-Highsmith-Biografie und die Robert K. Mertons postume Studie mit dem geheimnisvollen Titel "Travels and Adventures of Serendipity".

In Literatur und Kunst gratuliert Marli Feldvoss dem großen Marlon Brando zum Achtzigsten. Bernhard Fetz (mehr hier) meditiert anhand der Bücher des vergessenen österreichischen Expressionisten Hans Flesch und Philip K. Dicks über Science-Fiction und Kriminalroman, die er gern in einem "zukunftsträchtigen Genre-Zwitter" vereinigt sähe. Tilmann Buddensieg (mehr hier) greift Nietzsches Kritik der "Fabrikwaare" auf, die ebenso wie seine Kritik des luxuriösen Tands seherisch sei.

Außerdem werden eine Menge Bücher besprochen, darunter Undine Gruenters Roman "Der verschlossene Garten", Prosagedichte von Farhad Showghi, Gedichte von Helmut Krausser und Bernard Williams' Studie "Wahrheit und Wahrhaftigkeit". (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.)

SZ, 03.04.2004

Jens Bisky stellt im Aufmacher die neue Dauerausstellung im Dresdner Hygienemuseum vor, die den Leib nun auch als gebrechlichen in den Blick nimmt: Leichter "hat man nie ein Gefühl dafür gewinnen können, wie es ist, wenn der Leib sein Werk nicht mehr treibt, der Körper nicht mehr funktionieren will. Brillen liegen da herum, die dem Besucher die Sehkraft nehmen. Kunststoffrohre vermitteln, wenn sie sachgerecht umgeschnallt werden, eine Erfahrung der Schwerhörigkeit. Wie Riesenschrubber sehen die Untersätze aus, auf denen man das Gehgefühl Gebrechlicher erkunden kann." Eine These, eine Dramaturgie allerdings vermisst Bisky.

Außenpolitisches: Wer Tschechien verstehen will, muss seine Geschichte kennen, meint in der Europa-Reihe 15 + 10 ein Autor, von dem die SZ behauptet, er heiße Vaclav 1 ak. Carlos Widmann berichtet, wie Brasilien seiner zwanzigjährigen Militärdiktatur gedenkt: leidenschaftslos. Reinhard J. Brembeck versucht zu erklären, warum die Plattenindustrie sich von Slogans wie "Klassik ist geil" Erfolg verspricht. Alex Rühle stellt den Künstler Santiago Sierra vor, dessen jüngstes Werk in Bregenz am Bodensee zu bewundern ist (und ein bisschen auch hier). Gustav Seibt freut sich, dass das Berliner Zeughaus jetzt wieder für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Ulrich Kühne weiß zu berichten, was dank neuester Technik das Joghurt und der Kühlschrank einander zu sagen haben.

Weitere Artikel: Gratuliert wird zwei Ikonen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten, beiden zum Achtzigsten: Doris Day, kurzer Text, großes Foto und Marlon Brando, längerer Text, vier Fotos. Siegfried Kracauer stellt einerseits Friedrich Wilhelm Murnaus jüngsten Film vor und dann das französischen Kino der dreißiger Jahre, abgedruckt aus seinen filmkritischen Schriften, die jetzt gesammelt erscheinen. Besprochen wird Frederic Beigbeders "Window on the World", ein Au-Weia-Buch (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Die SZ am Wochenende macht mit einer launigen Geburtstagsrede Kurt Kisters zu Gerhard Schröders sechzigstem Geburtstag. Benjamin Henrichs schreibt eine kleine Geburtstagsdramolette obendrauf. Georg Kleins Erzählung "Liebste Lesung" beginnt so: "Ein alter, erfolgsverwöhnter Schriftsteller gab meiner Frau und mir unlängst die Ehre seines Besuchs. Rüstig und redelustig ist er auf dem Weg durch sein letztes Autorenquartal - wie er die Jahre, in denen er Greis werden wird, zu nennen beliebt." Willi Winkler stellt Deutschlands erfolgreichsten Dichter vor, Lothar Habler. Er ist Kartentextdichter von Beruf. Juan Moreno macht auf Bilder im Louvre aufmerksam, die keiner sieht, weil sie neben der Mona Lisa hängen. Im Interview spricht Gabriela Herpell mit dem Schauspieler Viggo Mortensen über Cowboys. Und über Mate-Tee.

TAZ, 03.04.2004

Detlef Kuhlbrodt feiert den Frühling. Jürgen Berger porträtiert ausführlich Marguerite Duras, die morgen neunzig Jahre alt geworden wäre, und ist dafür auf ihren Spuren ins Mekongdelta gereist. Wie von selbst nimmt deshalb "Der Liebhaber" den meisten Platz ein (und die Filme gar keinen). Im Interview wettert der Historiker Hannes Heer gegen Jörg Friedrich, Ulla Hahn, Guido Knopp und eine neue alte Erinnerungskultur, die Deutsche als Opfer in den Mittelpunkt stellt. Ulf Erdmann Ziegler schreibt den Nachruf auf den Fotografen Dirk Reinartz.

Die tazzwei besteht aus einem langen Interview mit Dieter Hildebrandt und Wigald Boning zum Grimme-Preis, wobei ersterer sagt, wie's läuft: "Unter den Juroren ist immer einer, der sagt: Hildebrandt, dieser Idiot! Und ein anderer fragt: Warum soll das blöde Arschloch einen Preis kriegen? Am Ende gibts dann eine hauchdünne Mehrheit."

Man gratuliert seit nicht allzu langer Zeit auch in der taz zu runden Geburtstagen. Aber immerhin geschlechterpolitisch ausgewogen. So gibt es im tazmag genau 294 Zeilen sowohl für Marlon Brando (von Egbert Hörmann) wie für Doris Day (von Reinhard Krause). Grand-Prix-Experte Jan Feddersen gedenkt unterdessen des historisch bedeutsamen 30. Jahrestages des ersten Abba-Sieges mit "Waterloo".

Besprochen werden Bücher, darunter der neue Roman von Nicholson Baker (mehr wie immer in unserer Bücherschau ab 14 Uhr.)

Schließlich Tom.

FR, 03.04.2004

Auch in der FR die Geburtstagscombo. Daniel Kothenschulte über Doris Day: "Doris Day hätte uns Männern nie das Herz gebrochen, eher schon hätte sie es noch zusätzlich verarztet, wenn wir es uns anderswo ramponiert hätten. Sie war zu gut für die Welt, was sie - zumindest in deren Selbstverständnis - mit den meisten ihrer Anhängerinnen verband. Pech in der Liebe und ein verlorenes Vermögen trugen ein Übriges dazu bei." Und Peter W. Jansen über Marlon Brando: "Bei uns kennt man ihn nur zur Hälfte. Denn wir kennen seine Stimme kaum. Wenn Charlie Parker oder Miles Davis sprächen, statt Saxophon oder Trompete zu spielen: So ähnlich müssten ihre Stimmen klingen, wie die von Vito Corleone im Der Pate oder die von Kurtz in Apocalypse Now."

Weitere Artikel: Reinhart Wustlich berichtet von städteplanerischem Wandel am Saum Manhattans. Bei einem Vortrag an der American Academy über den Urbizid hat Jörg Friedrich, weiß Thomas Medicus zu erzählen, nur "Kopfschütteln und verwunderte Fragen" geerntet. Rene Zucker nimmt nach ihrer dreimonatigen Reise Abschied von Indien.

Besprochen wird die Ausstellung der Fotografin Diana Thater im Museum für Gegenwartskunst in Siegen und der Kunsthalle Bremen. Im Magazin streiten sich Wolf Singer und Julian Nida-Rümelin, ob wir Marionetten unserer Neuronen sind.