Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.10.2004. In der SZ findet der Publizist Arkadij Waksberg eine an Lenin angelehnte Formel für die neuen Zustände in Russland: "Putinismus = Sowjetmacht plus KGB im ganzen Land". Die NZZ schlendert über die reizvolle Wolga-Promenade der Stadt Samara. Die FAZ bereitet uns schon mal auf die Bücher der Saison vor. Die taz fürchtet, dass eine Deutschquote den privaten Radios schaden könnte. In der Welt stellt der Historiker David Schoenbaum die Berliner Philharmoniker als Vorbild für ganz Deutschalnd hin.

NZZ, 01.10.2004

Rolf-Bernhard Essig schlendert durch Samara, eine Stadt an der Wolga, etwa 1000 Kilometer von Moskau entfernt. "Insgesamt wirken die Samaraer wohlhabender als noch vor zwei Jahren. Die Masse der kleinen Marktstände an den Straßen hat sich verringert, auf über hundert Metern wurden sie mit hohen grünen Plasticflächen überdacht. Es gibt mehr Neuwagen, und immer mehr kleiden sich chic, eigenwillig, elegant. Nabelfreiheit und Hängehosen fehlen fast vollständig, der europäische Stil überwiegt. Am Wochenende ziehen zwei Flaniermeilen die Massen besonders an: die kilometerlange Triumph-Promenade zu Ehren der Rüstungsarbeiter des Zweiten Weltkrieges und die weite, reizvolle Wolga-Promenade." (Mehr über Samara hier und hier.)

Weitere Artikel: Marc Zitzmann besucht den von Le Corbusier entworfenen Pavillon Suisse in der Cite internationale universitaire de Paris - dem Gebäude wurde gerade von Ivan Zaknic eine umfangreiche Monografie gewidmet. Claudia Schwartz war bei der Vorstellung des Magazins Der Freund, das Christian Kracht und Eckhart Nickel mit freundlicher Unterstützung des Springer Verlags herausbringen, und meint: "Das neue Berlin ist in die Jahre gekommen." Urs Schoettli schreibt zum Tod des indischen Schriftstellers Mulk Raj Anand. Besprochen wird die Aufführung von Luigi Nonos "Intolleranza 1960" in Saarbrücken.

Auf der Filmseite resümiert Geri Krebs das Filmfestival von San Sebastian. Besprechungen widmen sich Ursula Meiers Videofilm "Des epaules solides", Patrice Lecontes Spielfilm "Confidences trop intimes" und Winfried Pauleits Buch "Filmstandbilder" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf der Medien-uind Informatikseite warnt "ras." in einem Kommentar, dass Medien sich zusehends zu einem Instrument der Terroristen machen lassen, besonders wenn sie Bilder von Entführten oder gar Köpfungen zeigen: "Die Abbildung von flehenden Geiseln bedeutet keine relevante Tatsachendarstellung, sondern ist ein bloßer Reflex einer auf Reizmaximierung fixierten Medienindustrie."

FAZ, 01.10.2004

Der Herbst ist unweigerlich ins Land gezogen. In zwei parallelen Aufmachern stellen Richard Kämmerlings und Eberhard Rathgeb die ihrem Eindruck nach wichtigsten belletristischen und Sachbuch-Neuerscheinungen der Saison vor, ohne auf die große Literaturbeilage der nächsten Woche vorzugreifen. Kämmerlings nennt unter anderem die neuen Romane von Dieter Forte, Antje Ravic Strubel und Terezia Mora und erkennt als gemeinsames Muster die Höllenfahrt: "Höllenwanderungen, Schattenreiche, Grubenfahrten in die Stollen der Erinnerung - in diesem Herbst, in dem die Deutschen im Kino mit dem Führerbunker das dunkelste Verlies ihrer Geschichte betreten, ist auch die Belletristik voller Abstiege ins Inferno, allerorten Erkundungen dunkler Geschichtsflecken."

Rathgeb nennt in seinem Artikel unter anderem Bücher, die der Symptomatik der neurologischen Wende in den Geisteswissenschaften zuzurechnen sind. Dazu zählen die "Genialen Gehirne" des Wissenschaftshistorikers Michael Hagner und "Der Schleier der Erinnerung" des Historikers Johannes Fried, der seine Disziplin glatt auf "neurologische Füße" stellen will.

Weitere Artikel: Hans-Dieter Seidel schreibt eine eindringliche, ihre leise Enttäuschung nicht verhehlende Kritik der neuen "Heimat"-Staffel von Edgar Reitz. "Ri" meditiert in der Leitglosse über die Dialektik gut gemeinter Quotierungen aus sozialen Motiven, die dazu führen können, dass sich alle einer Minderheit und niemand mehr der Allgemeinheit angehörig fühlen. Tilman Spreckelsen führt in unbekannte Erzählungen G.K. Chestertons ein, die ab heute in der FAZ als Feuilletonroman abgedruckt werden. Christian Schwägerl freut sich, dass der Rostocker Demograph James Vaupel nun ein "Rostocker Zentrum zur Erforschung der Ursachen und Konsequenzen des demographischen Wandels" gründen kann. Gerhard R. Koch schreibt zum Tod des Dirigenten Heinz Wallberg. Andreas Rossmann gratuliert dem Komparatisten Franz Norbert Mennemeier zum Achtzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Jürg Altwegg, dass der Waffenfabrikant und Medientycoon Serge Dassault die komplette Spitze des Figaro gefeuert hat, weil die Redaktion des Blatts nicht mit der gewünschten Willfährigkeit auf sein Wüten im Publizistischen reagiert hatte.

Auf der letzten Seite resümiert Götz Leineweber ein Symposion über die Musik der schrumpfende Städte - tatsächlich haben Städte wie Detroit, Manchester oder Berlin ihren Bedeutungsverlust nicht selten durch die Erfindung neuer Spielarten populärer Musik wie Disco, House, Punk, Rave, Techno kompensiert. Patrick Bahners hat einem Vortrag der ehemaligen New Yorker Staatsanwältin Mary Jo White über "Die Spannung zwischen dem Krieg gegen den Terrorismus und den bürgerlichen Freiheiten" vor der American Academy in Berlin zugehört. Und Andreass Platthaus schreibt eine kleine Hommage auf den Illustrator Nikolas Heidelbach, der seine Zeichnungen zu Andersens Märchen vorstellte.

Besprochen werden Verdis selten gespielte Oper "Stiffelio" in Zürich, Kleists "Hermannschlacht" im Deutschen Theater und Sachbücher.

SZ, 01.10.2004

Der russische Autor Arkadij Waksberg macht zu den neuen Verhältnissen im Land eine einfache Gleichung auf: "Lenins berühmte Formel 'Bolschewismus = Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes' muss neu gefasst werden. Heute lautet sie: 'Putinismus = Sowjetmacht plus KGB im ganzen Land'. Olga Kryschtanowskaja, die Leiterin des Zentrums zur Erforschung von Machteliten im Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, hat berechnet, dass mehr als ein Drittel der höchsten Beamten auf föderaler Ebene und 61 Prozent der entsprechenden Gestalten auf regionalem Niveau aus der sowjetischen Nomenklatur stammen - mit anderen Worten: aus dem Zentralkomitee der sowjetischen kommunistischen Partei. Der Rest des Machtapparates wird im Großen und Ganzen von Funktionären des ehemaligen KGB besetzt."

Weitere Artikel: In der Reihe "Kunstsammler im 21. Jahrhundert" porträtiert Jörg Häntzschel den "Arzt, Leser, Sammler, Essayisten, Gründer der deutschen Marcel-Proust-Gesellschaft" Reiner Speck. Petra Steinberger berichtet von den Anti-Bush-Aktivitäten des Milliardärs George Soros, und von den wüsten Beschimpfungen, die er sich deshalb von Republikanern gefallen lassen muss. Gemeldet wird, dass der Bundesrat ein "totales Klonverbot" fordert. Im Interview äußert sich der Theaterregisseur Jürgen Gosch zu seiner "Peer Gynt"-Inszenierung.

Besprechungen: "Bemerkenswert" findet Tim Staffel die Berliner "Bloomsday"-Aufführung der Gruppe Lose Combo. Eva-Elisabeth Fischer hat in Paris ein "ungemein berührende" Choreografie von Jerome Bel erlebt. Tom Kühnels Inszenierung von Kleists "Herrmannschlacht" am Deutschen Theater findet Christopher Schmidt "langweilig" und gelegentlich auch unfreiwillig komisch. Wolfgang Schreiber lobt ein Konzert der Münchner Philharmoniker unter dem Dirigenten Andrey Boreyko.

Außerdem: Errol Morris, Regisseur des Films "The Fog of War", im Interview über seinen Protagonisten, Kennedys Verteidigungsminister Robert McNamara: "Das ist richtig deprimierend, dass über diese Welt unausdenkbares Übel kommt von Leuten, die überzeugt sind von ihrer eigenen Rechtschaffenheit und Korrektheit." Susan Vahabzadeh bespricht den Film und bewundert ihn dafür, dass er "Emotionen herzaubert". Fritz Göttler meditiert über amerikanische-asische Kinobeziehungen.

Die Literaturseite: In einer neuen Reihe "Wie kommen Schriftsteller zu den Namen ihrer Figuren?" bekennt Umberto Eco, einen Fehler gemacht zu haben: "Ich bereue, dass ich den Mönch aus 'Der Name der Rose' William von Baskerville genannt habe. Bei William dachte ich an William Ockham, was mir dazu verhalf, die Romanfigur mit einer bestimmten philosophischen Weltanschauung in Verbindung zu bringen. Baskerville aber beschwor für jeden Leser geradewegs Sherlock Holmes herauf. Das war zu viel." Vom 4. Internationalen Literaturfestival in Berlin berichtet Martin Z. Schröder. Besprochen werden Robert Harms' Sachbuch "Das Sklavenschiff" und auf einer ganzen Seite neue Kinder- und Jugendliteratur (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

TAZ, 01.10.2004

Heute nochmal taz-Kultur im Zeichen der Deutschquote. Andreas Merkel war auf der Pressekonferenz der versammelten Quotenbefürworter und anschließend bei der Anhörung im Bundestag. Hans-Jürgen Kratz, Vizepräsident und Vorsitzender des "Fachbereichs Hörfunk im Verband Privater Rundfunk und Telekommunikation e. V.", hatte dabei ein ganz anderes Argument als die Feuilleton-Leitartikel der letzten Tage: "Kratz ... malte die wirtschaftlichen Folgen für die privaten Radios an die Wand, denn 'hier geht es knallhart ums Geschäft'. Tenor seiner Rechnung: Wenn man gezwungen würde, das zu spielen, was keiner hören wolle, gingen nach allen Regeln der freien Marktwirtschaft bald die Lichter aus. Die Privaten müssten dichtmachen, Arbeitsplätze gingen verloren." Der Musiker Maximilian Hecker, der die Petition unterschrieben hat, sieht das im Interview nochmal anders: "Das Hauptanliegen ist einfach Chancengleichheit. Man hört schon sehr viele nichtdeutsche Künstler im Radio, und ich habe nichts dagegen, wenn die Leute zwischendurch auch mal mich zu hören kriegen. Ich sehe das ganz egoistisch."

Weitere Artikel: Der Produzent Wesley Pentz alias Diplo lebt in Florida und hat sich der "Feier des Bass" verschrieben. Uh-Young Kim hat ihn besucht und stellt ihn und sein neues Album "Florida" vor. Harald Fricke bespricht neue Soul-CDs, unter anderem von Joss Stone und Ben Harper.

Für die zweite taz macht Klaus Raab einen Rundgang übers Oktoberfest und verscheucht antibajuwarische Gedanken: "Nüchtern betrachtet sieht die Theresienwiese von hier aus wie ein betonierter Platz, über den sehr viele angetrunkene Menschen in Lederhosen und Dirndl wanken. Nüchtern betrachtet muss allerdings dazugesagt werden: Wer auf der Wiesn Dirndl oder Lederhosen trägt, ist wahrscheinlich Tourist oder zugereist." Jan Feddersen verabschiedet sich vom Quelle-Katalog. Henning Kober ist auf seiner USA-Reise in Brooklyn, New York angekommen und sieht erst mal einen Film: "Der Mann, der vom Himmel fiel".

Schließlich Tom.

Welt, 01.10.2004

Der amerikanische Deutschland-Historiker David Schoenbaum rät pünktlich zu unserem Nationalfeiertag, nicht immer nur auf das zu schauen, was nicht funktioniert und eher nach Vorbildern für die Rettung des deutschen Nachkriegsmodells zu suchen: "Für ein Vorbild braucht man nur auf die Berliner Philharmoniker zu schauen, ein altbewährtes deutsches Dienstleistungsunternehmen, 1882 gegründet. In einer Branche, die anderswo an allen Ecken ächzt, haben sie sich in einem Maße verjüngt, die selbst New Yorker neidisch macht. Ihr Programm haben sie gründlich und fantasievoll einem neuen Jahrhundert angepasst. Sie haben Frauen und Ausländer angeworben und integriert. Risiken haben sie nicht gescheut..."

Auf der Forum-Seite denkt der Europa-Theoretiker Larry Siedentop über die Legitimationskrise der Europäischen Union nach und findet sie in einem unvollkommenen Machttransfer begründet: "Den meisten Europäern ist wahrscheinlich nicht bewusst, wie viele Bestimmungen unseres wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens mittlerweile in Brüssel verabschiedet werden und nicht in den nationalen Parlamenten. Doch spüren sie deutlich, dass Macht von den Nationalstaaten abgezogen wurde. Dieses Empfinden trägt zur weitaus größten Gefahr bei, die mit der europäischen Integration einhergeht: In den Nationalstaaten werden vorhandene politische Kulturen geschwächt, ohne dass sie an anderer Stelle ersetzt werden."

FR, 01.10.2004

Kulturschutz als Staatsziel ist ein Unding, meint Burkhard Müller-Ullrich in der Kolumne Times mager, denn: "Kultur ist etwas völlig anderes als das, was sich diese Politiker darunter vorstellen. So wie das Leuchten und das Donnern nicht besondere Eigenschaften des Blitzes sind, die man mehr oder weniger fördern könnte, so ist die Kultur eben keineswegs jene Industrie, mit der sie oft und immer öfter verwechselt wird. Kultur ist überhaupt nicht herstellbar, schon gar nicht auf gesetzlichen Befehl." Die Sache ist in Wahrheit viel einfacher: "Gemeint ist denn auch etwas anderes, nämlich: 'Der Staat schützt und fördert den Kulturbetrieb.' Doch das hinzuschreiben, wäre schwerwiegender als eine Gänsefeder."

Weitere Artikel: Gemeldet wird der Tod des Dirigenten Heinz Wallberg. Christian Thomas hat sich in der Münchner Pinakothek der Moderne das Zeichnungs- und Kupferstichkonvolut des Architekten Alessandro Galli Bibiena angesehen und bewundert vor allem ein theatralisches Kerkerblatt: "Wie konnte es sein, dass ausgerechnet ein so hermetischer Raum wie ein Kerker der Menschheit die Darstellung des Unendlichen ermöglichte?" Und Elke Buhr bespricht Thomas Meineckes neuen Roman "Musik" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).