Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2005. Die NZZ fragt, warum es dem laizistischen Frankreich nicht gelingt, vier Millionen Moslems zu integrieren. Die SZ versucht sich einen Reim auf die Jugendlichen zu machen, die konservativer auftreten als all ihre Vorfahren zusammen. Die FAZ deckt Kontinuitäten zwischen der Architektur der Nazis und der leicht schwebenden Moderne der Nachkriegszeit auf. In der taz porträtiert Gabriele Goettle die ehemalige Ballerina Marina Schubarth, die heute ehemaligen Zwangsarbeitern hilft.

NZZ, 28.02.2005

Jürgen Ritte beklagt, dass Frankreich es in seiner Einwanderungspolitik meist bei der republikanischen Rhetorik belässt, im Zweifel aber eher Polizisten als Pädagogen in den Schulen schickt. "Nach hundert Jahren staatlichen Laizismus, nach einem halben Jahrhundert der massiven Einwanderung aus Nordafrika hat Frankreich seine muslimische Bevölkerung nicht wirklich integriert. Bestenfalls als Komiker (die den kleinen 'banlieuesard', den dummen Vorstädter abgeben) und als Fußballstars haben Franzosen muslimischer Abstammung eine soziale Aufstiegschance. Anders als in England oder den USA sieht man hier nie einen schwarzen oder braunen Nachrichtensprecher im Fernsehen. Junge Muslime fühlen sich in Frankreich nicht zu Hause, nicht ernst genommen -es sei denn als 'Problemfall' für die wenigen und miserabel bezahlten Sozialarbeiter."

Markus Jakob porträtiert die Kulturbauten der Madrider Architekten Mansilla und Tunon (Bilder), die paradoxerweise durch die Zurücknahme einer persönlichen Handschrift zu einer der auffälligsten Archtiketurfirmen Spaniens geworden sind: "Es wäre unser Ideal, wenn das Gebaute gar nicht gesehen würde."

Besprochen werden die Ausstellung "Contemporary Voices: Works from the UBS Art Collection" im New Yorker MoMA, die Rossini-Oper "Il Barbiere die Siviglia" am Theater Basel sowie das Stück "1979" nach Christian Kracht, mit dem sich der scheidende Bochumer Intendant Matthias Hartmann im Schauspielhaus Zürich vorstellt ("Gar nicht so schlimm" findet Alexandra Kedves, was Hartmann aus dem literaturästhetisch umstrittenen Buch gemacht hat: "eine popmoderne, multimediale Bühnenproduktion und (trotzdem) richtig gut").

Gemeldet wird außerdem, dass Clint Eastwood der große Gewinner der Oscar-Nacht war. Sein Boxer-Drama "Million Dollar Baby" bekam einen Preis für den besten Film des Jahres und er selbst den Regie-Oscar. "Der Untergang" mit Bruno Ganz ging leer aus, stattdessen wurde Amenabars "Mar adentro" zum besten nicht englischsprachigen Film gekürt (alle Gewinner finden Sie hier).

TAZ, 28.02.2005

Gabriele Goettle besucht Marina Schubarth, eine ehemalige Ballerina, die jetzt Zwangsarbeitern hilft, ihre Ansprüche in Deutschland geltend zu machen. Für den Antrag nötig sind Beweise, die oft nur mit detektivischer Hartnäckigkeit zu bekommen sind. Wie etwa in Weißenburg. "Dann ging ich ins Archiv der Stadt, fragte nach alten Postkarten und Bildern aus den 40er-Jahren und auch, ob sie Unterlagen über Zwangsarbeiter haben. 'Nein, leider nicht!' Man gab mir aber einen großen Ordner mit alten Aufnahmen, und als ich die durchgehe, fällt eine dicke Mappe aus dem Ordner raus, ich mach sie auf und das war ein Schock: Es waren Namenlisten von den Zwangsarbeitern. Ich gehe sie mit dem Finger durch, und bei tausendfünfhundertnochwas steht ihr Name plötzlich da. Der junge Archivar war sehr erstaunt und sagte: 'Nach dem Krieg wollte man vielleicht nicht, dass es jemand findet.'"

Wladimir Kaminer berichtet in der Agronauten-Reihe vom bunten russischen Süden, wo Einwanderer Tradition haben. "Die Neuankömmlinge wurden natürlich von den Einheimischen geprüft, die Versuchung auf leichte Beute stirbt auch im Kaukasus nie aus. Bei den Kosaken aus Tschetschenien ging es ganz schnell. Die einheimischen Nachbarn kamen eines Abends, um den Neuen ihre Jagdgewehre zu präsentieren. Die Kosaken zeigten ihrerseits stolz, was sie aus Grosny mitgebracht hatten: AK 74, Vollautomatik, 600 Schuss pro Minute. Sie redeten noch ein wenig über das Wetter und die Aussichten auf eine gute Ernte, schließlich wünschten sie sich gegenseitig ein friedliches Leben und gingen auseinander."

Im Gespräch mit Jan Feddersen fordert die Menschenrechtsaktivistin Seyran Ates eine Verschärfung des Strafrechts, um türkische Frauen vor weiteren "Ehrenmorden" zu schützen. "Die Linken und Liberalen sind immer nur ratlos und veranstalten Tagungen und suchen den Konsens - das ist zu wenig." Katharina Rall schreibt, dass die Internationale Bibelgesellschaft christliche Erbauungsliteratur in den vom Tsunami betroffenen muslimischen Gebieten verteilt. Dort heißt es unter anderem, dass sie Gott "ungehorsam gewesen und somit dem Satan verfallen" seien. Die taz-Redaktion verbietet wie die WHO das Rauchen im Büro, und Stefan Kuzmany versucht, darüber zu scherzen. Auf der Medienseite meldet "UH", dass die irakische Journalistin Raeda al-Wasan erschossen aufgefunden wurde.

Und Tom.

FR, 28.02.2005

Anke Dürr hat in Andreas Kriegenburgs "King Lear" am Hamburger Thalia Theater viele Szenen "reinstes, schönes Theater" erlebt. Nach der Pause kippt der Abend aber. "Im Raum hängt nun eine überdimensionale Pauke, die bei Bedarf auch als symbolträchtiges Pendel hin- und herschwingen kann, oder als Schaukel dient, auf der Lear müde-resigniert hockt - mehr Kriegenburgs Mondfahrt als düstere Tragödie. Von oben fallen bunte Papierschnipsel auf den König herunter, die den Rest des Abends die Spielfläche zumüllen, und Lear darf ein bisschen in ein Mikro pusten. Das ist schon der ganze Sturm."

Weiteres: Christian Thomas resümiert den Urban-Future-Kongress in Frankfurt, auf dem die Zukunft des Wohnens verhandelt wurde. Michael Rudolph nutzt Times mager, um von seiner Nacht im selbstgebauten Iglu im heimischen Garten zu erzählen. Günther Frech schildert auf der Medienseite die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen in der Filmbranche, unter anderem wegen der Arbeitsmarktreform nach Hartz. Besprochen werden Doris Dörries' Affen-"Rigoletto" in der Bayerischen Staasoper und ein von Karl Ameriks und Dieter Sturma herausgegebenen Sammelband in dem moderne Philosophen "Kants Ethik" kommentieren (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr)

SZ, 28.02.2005

Gerhard Matzig versucht sich einen Reim auf die Jugendlichen zu machen, die konservativer auftreten als all ihre Vorfahren zusammen. Um sich von den ewig progressiven Eltern abzugrenzen. "Dass die altersgemäßen Zuschreibungen als natürliche Bio-Sphären in einer entgrenzten All-Age-Gesellschaft, in der Kinder immer früher erwachsen werden und Erwachsene immer später alt werden, scheinbar beliebig zur Disposition stehen, erklärt das Phänomen der jugendlichen Neocons also auch abseits ökonomischer Zusammenhänge. Neocons sind folglich - zum einen - die Antwort auf unsichere Verhältnisse und einen, wenn nicht geistig-kulturellen, so doch allerorten ästhetisch auffindbaren Neo-Biedermeierstil der Gesellschaft; zum anderen verdankt sich ihre Existenz jenen Erwachsenen und Alten, die beides nicht sind: erwachsen beziehungsweise zurechnungsfähig." Die LBS liegt mit ihren Spießer-Wochen da voll im Trend.

Weiteres: Christine Dössel hätte sich von der Uraufführung von Theresia Walsers schon im vergangenen Jahr in Konstanz geprobten, aber nach Meinungsverschiedenheiten abgesetzten Stück "Die Kriegsberichterstatterin" mehr erwartet. Regisseur Florian Boesch "inszeniert nie mehr als das, was vordergründig im Text steht, erfindet nichts hinzu, lotet aber auch nichts aus, schon gar nicht den latenten Schrecken, der in Walsers Sprache lauert. Boeschs brave Bilder- und Horror-Vermeidungsstrategie führt dazu, dass er in die Tiefenschichten des Stückes gar nicht vordringt, sondern nur oberflächlich die Komödiantik bedient."

Im Aufmacher des Feuilletons beobachtet Andrian Kreye eine Renaissance der totgesagten Ironie in den Vereinigten Staaten. Tobias Timm bemerkt auf dem Frankfurter Urban Future Forum, wo über die Zukunft der Stadt und des Wohnens debattiert wurde, einen Hang zur Vergangenheit. Alex Rühle schreibt zum Tod von Peter Benenson, Gründer von Amnesty International. Eva-Elisabeth Fischer gratuliert dem Licht- und Klangkünstler Walter Haupt zum siebszigsten Geburtstag. Tomas Avenarius stellt auf der Medienseite den neuen arabischsprachigen Dienst der Deutschen Welle vor, der heute gestartet wird.

Besprochen werden Peter Konwitschnys Version von Richard Strauss' "Elektra" als "alltägliches Familiendrama der Moderne" am neuen Kopenhagener Opernhaus, James Macdonalds Inszenierung von Shakespeares "Troilus und Cressida" an der Berliner Schaubühne, Sabiha Sumars "bewegendes" Spielfilmdebüt "Silent Waters", und Bücher, darunter vier neue Bände der Patricia-Highsmith-Werkausgabe bei Diogenes sowie David Markischs "antibiographischer" Roman über Isaak Babel (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Welt, 28.02.2005

Rainer Haubrich führt zwei parallele Interviews mit den Architektur-Streithähnen David Childs und Daniel Libeskind. Childs, der den Wiederaufbau von ground zero leitet, scheint demnach keinerlei Verwendung mehr für Libeskind zu haben: "Ich denke, dass der Masterplan sein wichtigster Beitrag war". Für Libeskind ist dagegen alles in Butter: "Es war David Childs, der in eine Zusammenarbeit mit mir gezwungen wurde. Es scheint generell große Missverständnisse darüber zu geben, was es heißt, Ground Zero wiederaufzubauen. Es geht nicht um ein paar Gebäude, es geht nicht um eine bestimmte Ästhetik. Im Kern geht es um eine kulturelle Antwort auf die Angriffe gegen New York, um einen Gesamtentwurf, der räumliche, soziale und ökonomische Aspekte vereint. Und in diesem Sinne - entgegen all der vielen Dinge, die darüber geschrieben wurden - ist der Plan, der jetzt ausgeführt wird, genau das, was ich vor zwei Jahren vorgeschlagen habe."

FAZ, 28.02.2005

Seltsame Kontinuitäten zwischen der finster-plumpen NS-Architektur und der leicht schwingenden Moderne der Nachkriegszeit entdeckt Niklas Maak in der Ausstellung "Architektur der Wunderkinder - Aufbruch und Verdrängung in Bayern 1945-1960" in München. Zum Beispiel Wilhelm Kreis: "Kenner der Architektur des ehemaligen Generalbaurats Wilhelm Kreis trauten ihren Augen nicht, als sie 1954 den Entwurf des Architekten für den Neubau der Bonner Beethovenhalle sahen. Kreis hatte ein leichtes, gläsernes, freundlich zwischen Bäumen liegendes Haus gezeichnet; das Dach tänzelte auf hochhackigen Stahlbetonstilettos einher, alles in diesem Entwurf war gläsern und schwebend. Nun waren solche Bauten nicht unüblich für das Europa der Nierentisch-Ära; unüblich war nur, dass der Entwurf aus dem Büro von Wilhelm Kreis stammte - von dem Mann, der einige Jahre zuvor noch für Hitler düsterste Pathosbunker entworfen hatte, ein Weltkriegsmuseum und eine gigantische, fensterlose 'Totenburg' für die deutschen Gefallenen."

Weitere Artikel: Lorenz Jäger kommentiert das Scheitern eines Versuchs, das Hakenkreuz in ganz Europa zu verbieten und plädiert statt eines Verbots für "historische Aufklärung über ein Symbol". In der Leitglosse empfiehlt Christian Geyer einen "Discount-Planer 2005", der Schnäppchenjäger über den Rabattierungskalender der Supermarktketten informiert. Der Bevölkerungsforscher Herwig Birg setzt seinen "Grundkurs Demografie" mit einer Lektion über die "Mängel der Sozialversicherung" fort. Henrike Rossbach stellt am Beispiel der Stadt Bremerhaven einen beunruhigenden Seitenaspekt des demografischen Problems dar, eine neue Migrationsbewegung: Gerade junge qualifizierte Deutsche verlassen zusehends das Land. Andreas Platthaus stellt eine Hommage von 19 Comiczeichnern auf ihr großes belgisches Vorbild "Will" alias Willy Mataite vor.

Auf der Medienseite gibt Heinrich Wefing dem Perlentaucher ermunternde Worte für den Start seines englischsprachigen Dienstes signandsight.com mit, der morgen startet. Karen Krüger besichtigt neue Kulissen für die "Big Brother"-Show. Und Nina Rehfeld stellt die US-Serie "Town Haul" vor, für die ganze Kleinstädte renoviert werden.

Auf der letzten Seite berichtet Hans-Christoph Buch von der Buchmesse in Kuba, die von den europäischen Ländern wegen der Inhaftierung zahlreicher Dissidenten weitgehend boykottiert wurde, und er erzählt, dass Fidel Castro allen Hoffnungen auf Tauwetter eine Absage erteilte: "Zwar wolle er seinem Außenminister nicht in den Rücken fallen, aber er werde sich keiner Erpressung beugen und nicht zu politischem Wohlverhalten zwingen lassen -ein deutlicher Hinweis auf die in Genf anstehende Sitzung der UN-Menschenrechtskommission, wo mit einer Verurteilung Kubas zu rechnen ist." Jordan Mejias stellen die neuen Quill Awards vor, Literaturpreise, bei denen das amerikanische Lesepublikum mitbestimmten darf. Und Jürgen Kaube porträtiert den selbsterklärten Indianer Ward Churchill, der den 11. September rechtfertigte und damit in den USA zu einer Medienfigur avancierte.

Besprechungen gelten der Uraufführung von Theresia Walsers "Kriegsberichterstatterin" im Münchner Marstall, Strauss' "Elektra" an der Oper von Kopenhagen, Tankred Dorsts Stück "Die Wüste" am Theater Dortmund und ein Auftritt Susan Cowsills und ihrer Band in Oberursel. Auf der Sachbuchseite geht's um eine Geschichte Königsbergs von Jürgen Manthey eine neue Biografie über die Journalistin Margret Bovery und ein Büch über exzentrische Naturforscher.

Die FAZ-Online meldet die Oscars.