Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.07.2006. Die NZZ ist fasziniert von den Antihelden des Mangaautors Yoshihiro Tatsumi. In der FAZ antwortet Wilhelm Genazino auf Veronica Ferres und beschuldigt sie eines für die plötzlich eintretende Wahrheit seines Theaters blinden Moralismus. In der taz spricht Gabriele Goettle mit Antje Simnack, die sich um die Opfer rechtsextremistischer Gewalttäter kümmert. Die SZ findet den Bayreuther Siegfried Stephen Gould ein wenig lyrisch.

NZZ, 31.07.2006

Christian Gasser porträtiert den japanischen Manga-Autor Yoshihiro Tatsumi, der mit seinen dramatischen Gekiga einen düsteren Kontrapunkt im Nachkriegs-Japan gesetzt hatte: "Kleine Angestellte und Arbeiter, Arbeitslose oder Gelegenheitskriminelle - das sind Tatsumis Antihelden, erbärmliche Verlierer, von ihren Frauen verachtet, von ihren Vorgesetzten ausgenutzt, von den Arbeitskollegen gedemütigt und selbst von Prostituierten verspottet. Wenn sie sich nicht resigniert in ihr Schicksal fügen, wehren sie sich mit einem Ausbruch von sinnloser oder mörderischer Gewalt. 'Helden?' - Tatsumi, ein freundlicher Mann von 71 Jahren, lächelt: 'Helden haben mich nie interessiert. Helden müssen immer gewinnen!'"

Weiteres: Nach drei von vier Abenden mit Tankred Dorsts und Christian Thielemanns "Ring" steht für Marianne Zelger-Vogt fest: "Der Bayreuther 'Ring' des Jahres 2006 wird weder szenisch noch aufgrund seiner Sängerbesetzung Geschichte machen, sein eigentlicher Regisseur heißt Christian Thielemann." Marc Zitzmann schreibt zum siebzigsten Geburtstag von Yves Saint Laurent. Silvia Stammen hat sich in Salzburg Martin Kusejs Nestroy-Inszenierung "Höllenangst" und Dimiter Gotscheffs "Tartuffe" angesehen.

FR, 31.07.2006

Nach "Walküre" und "Rheingold" findet Stefan Schickhaus den Vorfwurf gegen Bayreuth unhaltbar, "sängerisch längst nicht mehr aus der obersten Liga genährt zu werden". Seiner Ansicht nach schwächeln nur die Heldentenöre ein wenig: "Dagegen gab es Exzellentes zu hören von Adrianne Pieczonka als junge, ganz natürlich klingende Sieglinde, ebenso von Michelle Breedt als Fricka und von Mihoko Fujimura als Erda, den beiden resoluten Mächten, denen Wotan hier ausgesetzt ist. Er selbst, gesungen von Falk Struckmann, zeigte sich stimmlich äußerst präsent über die ersten drei Ring-Teile hinweg, seinen großen Monolog in der Walküre klar deklamierend und klug haushaltend, ein lässiger, lachender Speerträger und Spötter über seine Welt."

Peter Michalzik bricht über Dimiter Gotscheffs "Tartuffe" in Salzburg in Begeisterungsstürme aus: "Die unerträgliche Schönheit der Bilder macht schaudern. Chic, frozen, shocking, eine der besten halben Stunden in letzter Zeit."

Weiteres: Stefan Raulf berichtet vom Fantasy Filmfest in Frankfurt. In Times mager spießt Judith von Sternburg den alten Streit zwischen Salman Rushdie und Germaine Greer auf, der gerade einen neuen Ausbruch erlebt.

TAZ, 31.07.2006

Gabriele Goettle lässt Antje Simnack von Utopia e.V. erzählen, einem Solidaritätsprojekt für Opfer rechter Gewalt in Frankfurt/Oder. "Also, es gibt hier zum einen die klassischen Glatzköpfe, aber schon seit ein paar Jahren gibt es auch diese Jugendlichen mit gutem Haarschnitt, solariumbraun, gute Klamotten, wo die Gesinnung nicht auf Anhieb zu sehen ist. Die wirken wie ganz normale Diskobesucher und Jugendliche. Oft wird dann auch von Seiten der Polizei bagatellisiert, da heißt es dann, es war eine Schlägerei unter Jugendlichen, ganz normal, ohne rechten Hintergrund, alle waren alkoholisiert usw. Der Schäuble hat sich ja so geäußert, es könnte sich genauso abspielen, dass Blonde von Dunklen angegriffen werden. Es ist ja überhaupt so, dass Gegenwehr der Opfer bereits mit Aggression gleichgesetzt wird. Da fragt man sich, wo führt das hin, wenn man sich nicht wehren darf, nicht mal verbal, sonst wird einem das Opfersein aberkannt?!"

Robert Misik hat die Polizei gerufen, weil sein Nachbar nächtelang "entsetzlich laute Musik" hörte. In tazzwei grübelt er 298 Zeilen lang, ob das spießig war. Besprochen wird ein Buch von Etgar Keret und Samir El-Youssef, "Alles Gaza - Geteilte Geschichten" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Schließlich Tom.

Welt, 31.07.2006

Enttäuscht von Pierre Audis "Zauberflöte"-Inszenierung in Salzburg ("ein "harm- und kantenloser Karneval der Kulturen"), vermisst Manuel Brug allmählich den Mozart-Mehrwert der Festspiele, die im Jubiläumsjahr alle Opern aufführen wollen: "Es passiert, damit es passiert und ist sich so selbst genug - Masse als Message." Immerhin: Harnoncourt zwang mit seinem "Figaro"-Dirigat jeden "Eventsüchtigen und Genussgeeichten zum Nachdenken, zumindest aber zum Zuhören".

Weiteres: Als "präzise politische Spektakelkunst" lobt Ulrich Weinzierl Dimiter Gotscheffs "Tartuffe" bei den Salzburger Festspielen. Gernot Facius erinnert an Ignatius von Loyola, den Gründer des Jesuitenordens und obersten Ritter im Kampf gegen die Gegenreformation, der vor 450 Jahren gestorben ist. Marion Leske berichtet von Gerhard Richters Fenster-Entwürfen für den Kölner Dom. Uwe Schmitt notiert genervt von der Telefoniererei in den USA: "Das Handygequatsche hat in Amerika die Zigarrettensucht ersetzt. Nur dass Raucher allein sein können. Und die Klappe halten."

FAZ, 31.07.2006

Auch Naturwissenschaftler können sich Feuilletondebatten liefern. Dietmar Dath berichtet über eine Kontroverse über die Stringtheorien, gegen die zwei amerikanische Physiker polemische Bücher vorgelegt haben: Peter Woit (mehr hier) und Lee Smolin (mehr hier). Sie kritisieren, scharf bekämpft im Blog von Lubos Motl, die Stringtheorien, welche die Relativitäts- und die Quantentheorie in Einklang bringen wollen, weil sie "nicht mehr, sondern eher weniger erklären als ihre Frühformen vor Jahren. Was sie an Vereinfachung und Glättung älterer mathematischer Konstruktionen geleistet haben, wird, meinen die Kritiker, durch ihre eigene Kompliziertheit gerade wieder verspielt. 'Nicht einmal falsch' sind sie, so Woit, sondern, schlimmer, unfruchtbar."

Auch der Streit um das Stück "Courage", das Wilhelm Genazino der Schauspielerin Veronica Ferres auf den Leib schrieb, der es aber partout nicht passen will, geht weiter. Genazino antwortet im Interview mit Andreas Rossmann zum Teil recht giftig, auf Ferres' ebenfalls in der FAZ vorgebrachte Beschuldigung, das Stück mache die "Courasche" zu einer bloßen Hure ohne jede Entwicklung: "Sie reagiert, wie gesagt, fast ausschließlich moralisch, und die Moral ist kein guter Ratgeber. Denn, und das vergisst sie völlig, Theater ist plötzlich eintretende Wahrheit. Und diese Wahrheit ist wirkungslos, wenn sie auf einer Ebene konventionell gewordener, moralischer Wahrheit verharrt, wie sie Frau Ferres vertritt. Ein Theater muss neue Wahrheit bieten, deshalb verletzt der Text auch den Geschmack weiter Kreise. Das muss ich aber hinnehmen."

Weitere Artikel: Julia Spinola begräbt im Bayreuther "Siegfried" "alle zuvor genährten Hoffnungen auf eine neue, interessante, ja, überhaupt auf eine Deutung". Jordan Mejias glossiert einen New Yorker Familienstreit auf allerhöchster Ebene um die Pflege der inzwischen 104-jährigen und an Alzheimer erkrankten Brooke Astor. Jordan Mejias sieht trotz der Publikation neuer Dokumente das Rätsel das Massakers von Columbine als nicht gelöst an. Christoph Möllers kommentiert neue Urteile hoher deutscher Gerichte zu Fragen der Religionsfreiheit. Christian Geyer gratuliert dem Philosophen Hilary Putnam zum Achtzigsten. Gina Thomas berichtet leider ganz kurz über eine Kontroverse zwischen Salman Rushdie und Germaine Greer zur geplanten Verfilmung von Monica Lanes Buch "Brick Lane", die auf Widerstand der Bangladeschischen Gemeinschaft in London stößt (hier Rushdies Brief an den Guardian und ein Bericht). Gemeldet wird, dass in der Berliner Akademie der Künste am 23. August eine Diskussion zum Fall Handke stattfinden soll.

Auf der Medienseite porträtiert Karen Krüger den deutsch-kroatischen Schauspieler Stipe Erceg. Simon Colin stellt das Truckradio vor, das Fernfahrer mit Countrymusik beschallt. Matthias Schumann war dabei, als der NDR die Höhepunkte der nächsten Hörspielsaison vorstellte.

Auf der letzten Seite schildert Kestin Holm, wie die reichen Moskauer mit der Wiederbelebung von Galopprennen, Galauniformen und gefälschten Brasserien bürgerliches Leben mimen. Dirk Schümer stellt das Buch "Ungheria 56 - la rivoluzione calunniata" des Historikers Federigo Argentieri vor, der nachweist, dass die italienischen Kommunisten keineswegs, wie späterhin behauptet, mit dem Ungarnaufstand sympathisierten. Und Franziska Bossy schreibt ein Profil des Schauspielers Stephen Fry, der mit der BBC eine Dokumentation über sein Leiden an Depressionen gedreht hat.

Besprochen werden die "Zauberflöte" in Salzburg, "Tartuffe", inszeniert von Dimiter Gotscheff, ebenfalls in Salzburg, die Ausstellung "Zeichenkunst des Barock - Aus der Sammlung der Königin Christina von Schweden" in Leipzig, eine Ausstellung des litauischen Fotografen Antanas Sutkus in Münster und Sachbücher, darunter die bisher nur auf englisch erschienene Studie "On Clausewitz" von Hugh Smith (mehr hier).

SZ, 31.07.2006

"Der Weltgeist hat mittlerweile offenbar etwas gegen Heldentenöre", seufzt Joachim Kaiser, den der neue, von Insidern hochgelobte Bayreuther Heldentenor Stephen Gould nicht beeindruckte. "Doch als das Problem dieser 'Siegfried'-Aufführung ließ sich leider erkennen, dass des Helden Harmlosigkeit sich stimmlich offenbarte. Entweder litt Gould unter bedauernswerter Indisposition - oder dieser viel gelobte einstige Tannhäuser muss sich die Siegfried-Figur überhaupt noch aneignen. Stephen Goulds Stimme hat, zumal in der Mittellage, seltsamerweise ein eher baritonales Timbre. Auch wenn ihm hin und wieder kräftige tenorale Spitzentöne gelingen, wirkt die Stimme, wirken Ton und Aura wenig 'heldisch'... Lyrisches liegt dem Sänger offenbar besser."

Hans-Peter Kunisch erzählt eine schöne Geschichte von dem irischen Dorf Gort, dessen 2.000 Einwohner kürzlich um 1.000 Brasilianer vermehrt wurden. Das kam so: Im brasilianischen Anapolis machte eine Fleischfabrik dicht, "und Sean Duffy, Fleischfabrikant in Gort, erfuhr davon. 'Zuerst', sagt Isaias Silva, im Family Resource Centre von Gort im Raum der Brazilian Association, 'waren es fünf Männer, die Duffy holte, Fachpersonal, Leute, die Tiere ausnehmen, Schlächter. Dann kamen die Familie, Freunde'... Gorts Brasilianer übernehmen, was in anderen Gegenden Irlands Polen, Letten und Litauer tun. Sie machen die Arbeit, für die sich hier keiner mehr findet. Sie bauen die neuen, großen irischen Häuser, stellen die Putzfrauen, denen all die ungenutzten Zimmer anvertraut werden, pflegen die großen Grundstücke." Und das Zusammenleben? "Tausend Ausländer, die plötzlich in einem Dreitausend-Seelen-Ort wohnen. Man stelle sich das in Deutschland vor. Eine Frau, die sich von Adriana aus Anapolis in ihrem B & B helfen lässt, sagt, dass 'die eigene Auswanderungsgeschichte, dass wir selber schwarz arbeiten mussten, hilft. Wir kennen das, aus beinahe jeder Familie.' Bei den wenigsten gibt es Überlegenheitsgefühle."

Weitere Artikel: Klaus Lueber berichtet über Kündigungen und Proteste von Professoren der Universität der Künste Berlin, die sich von der Verwaltung schikaniert fühlen. Dominik Graf empfiehlt die Italo-Thriller "La casa sperduta nel parco" (früher als "Der Schlitzer" bei Laser Paradise) und "Autostop rosso sangue" auf DVD. Henning Klüver schickt einen Strauß Kulturnachrichten aus Italien. Willy Hochkeppel gratuliert dem Philosophen Hilary Putnam zum 80. Geburtstag.

Auf der Medienseite lässt sich Hans-Jürgen Jakobs von Wolfgang Fellner erzählen, was es mit dessen neuer Zeitung Österreich auf sich hat: Die Zeitung, so Fellner, "sei 'das einzige Medium, das heute noch nahezu so ausschaut wie vor 20 Jahren'. Das sei derzeit 'die Branche mit der geringsten Innovationen - hier greifen wir an'." Das gefällt nicht allen, besonders Gruner + Jahr reagiert sauer, berichtet jja.

Besprochen werden die Salzburger "Zauberflöte" (die Wolfgang Schreiber rundum gelungen fand) und Dimiter Gotscheffs Salzburger "Tartuffe" bei den Salzburger Festspielen ("schweres Depressionstheater", klagt Christopher Schmidt), außerdem eine Ausstellung zu 100 Jahren britischer Schlagzeilen in der der Londoner British Library und Bücher, darunter Vittorio Hösles "Der philosophische Dialog" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).