Heute in den Feuilletons

Systemübergreifender Radau

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.10.2009. In der taz wünscht sich Bei Ling, er könnte auf der Buchmesse auch mal mit den offiziellen Autoren diskutieren. In der NZZ wünscht sich Toni Morrison, ihre Studenten engagierten sich nicht nur für afrikanische, sondern auch mal für amerikanische Obdachlose. Die FR bewundert den anti-herrischen Gestus des Neuen Museums. Die SZ bewundert die straffen Sehnen der Nofretete. In der FAZ erklärt Frank Schirrmacher, warum gutes Fernsehen wichtig ist für die Zeitungen. Die Welt hört Rammstein. Turi 2 berichtet über Krach in der taz wegen der Kooperation mit der Buchmesse.

Welt, 16.10.2009

Michael Pilz hört die neue CD von Rammstein, kann aber nicht so recht sagen, "wo Rammstein aufhört und die Parodie auf Rammstein anfängt". Liegt es daran, dass der Osten mit seinen speziellen Nischen, aus denen sie kommen, verschwunden ist? "Acht Jahre danach erscheint 'der Osten' als Geflecht aus Linke-Wählern, griesgrämigen Rentnern, blühenden Landschaften und ehemaligen Boheme-Bezirken, die im 'Bionade-Biedermeier' schwelgen. Die Deutungshoheit haben Kölner Regisseure. Oder Dresdner Literaten, die vor 20 Jahren Panzer fuhren, weil sie Medizin studieren wollten. So sehen die Filme dann auch aus, so lesen sich die Bücher. Systemübergreifender Radau gegen das Volksempfinden wird nur noch als listige Lohnarbeit verstanden und nicht mehr als Haltung."

Die tibetische Bloggerin Tsering Woeser (mehr hier und hier) erklärt im Interview, warum sie nicht nach Frankfurt reisen kann, um ihr neues Buch vorzustellen. "Ich bekomme keinen Pass. Das galt für mich schon, als ich Redakteurin der Zeitschrift Tibetische Literatur in Lhasa war. Obwohl ich dem Schriftstellerverband angehörte, ignorierten die Behörden meinen Antrag. Tibeter kriegen nicht so einfach Pässe ausgestellt. 2003 wurde ich wegen kritischer Essays vom Magazin entlassen. Ich zog mit meinem Mann Wang Lixiong nach Peking. Seither versuche ich, an einen Pass zu kommen. Ich musste nach Changchun in Nordostchina fahren, wo die ursprüngliche Wohnberechtigung meines Mannes registriert ist. Ich habe dreimal einen Antrag gestellt. Ich kriege aber weder einen Pass, noch Antwort, warum nicht."

Weitere Artikel: Jochen Schmidt porträtiert den Choreografen Martin Schläpfer, von dem man als neuem Düsseldorfer Ballettdirektor "durchaus das Außerordentliche erwarten" dürfe. Uta Baier berichtet über den Streit der Grosz-Erben mit dem MoMa um drei Gemälde von Grosz. Hendrik Werner informiert uns über den "kuriostesten Buchtitel 2009". Manuel Brug war in Stockholm bei der glanzvollen Verleihung des Birgit Nilssons Musikpreises an Placido Domingo. Hildegard Stausberg berichtet über die nicht ganz so glamouröse Verleihung des Hanns-Joachim-Friedrich-Preises an Nikolaus Bender.

Besprochen werden die Ausstellung "Schätze des alten Syrien" im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart und neue Theaterstücke zur Finanzkrise in London.

FR, 16.10.2009

Harry Nutt durchschreitet ehrfürchtig das von David Chipperfield restaurierte Neue Museum mit seinem Niobidensaal und der Nofretete, stellt aber fest: "Bei allem Sammlungsstolz, der von diesem prächtigen, verletzlichen Haus ausgehen mag, ist es vor allem ein beinahe anti-herrischer Gestus, der das Neue Museum zu etwas besonderem macht."

Weiteres: Als "dummmachendes Buch eines intelligenten Autors" stellt Arno Widmann Edward Saids "Orientalismus" in die Regale der vergangenen Epoche. In Times mager kann Harry Nutt den Anbruch finsterer Zeiten melden: Beim Verlagsempang wurden Getränkebons ausgeteilt. Franziska Schubert befragt den Jungautor Finn-Ole Heinrich zur Buchmesse. Judith von Sternburg berichtet von einer Lesung mit Herta Müller. Christian Thomas hat sich noch einmal das Niederwalddenkmal angesehen. Tobi Müller durfte offenbar wegen Unbotmäßigkeit das neue Album von Rammstein nicht hören, schreibt aber trotzdem zu dessen Erscheinen. Wolf Kampmann lauscht Jan Garbarek.

Und auf der Medienseite berichtet Ulrike Simon, wie der Focus seinen rapiden Leserschwund aufzuhalten gedenkt.

NZZ, 16.10.2009

Bernadette Conrad trifft die Nobelpreisträgerin Toni Morrison in ihrem imposanten Haus in New York und spricht mit ihr über ihren neuen Roman "A Mercy", Barack Obamas Weisheit und den Mentalitätswandel in den USA: "Als ich in Princeton anfing, gingen die Studenten nachher an die Wall Street und wurden Anwälte, meine Kurse hatten keine Bedeutung für sie. Heute sind sie viel sozialer engagiert; sie sehen sich selbst nicht mehr nur als Manager oder Managerin. Fast jeder geht für ein paar Monate nach Afrika. Fast scheint es mir Routine, wie ein kleiner Orden, den jeder an der Brust haben muss. Manchmal möchte ich ihnen sagen, geht doch nicht so weit weg; auch in New Orleans werden Leute gebraucht. Oder arbeitet mit den Obdachlosen, die mehr und mehr in die kriminelle Ecke gedrängt werden."

Besprochen werden die Ausstellung "La Venezia di Rolf Gerard" in Ascona, eine Materialienschau zu Wolfgang Hilbig in der Berliner Akademie der Künste, Jean Rolins Roman "Boulevard Ney" (hier eine Leseprobe) und Seth' Comic "Wimbledon Green", der die Comic-Sammler aufs Korn nimmt (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 16.10.2009

Turi2 meldet Krach bei der taz über die Kooperation mit der Buchmesse: "Für 50.000 Euro bringt die taz täglich auf einer speziellen Website mehrere Beiträge über das Gastland China. Die Zusammenarbeit sei 'fatal' und rufschädigend, sie stehe im Widerspruch zur Unabhängigkeit der taz, kritisiert Asien-Redakteur Sven Hansen und ruft seine Kollegen zum Boykott auf. Die Buchmesse wolle durch die Zusammenarbeit ihr angekratztes Image aufpolieren, kritisiert ein Kollege."
Stichwörter: TAZ, Unabhängigkeit

TAZ, 16.10.2009

Buchmessen-Direktor Juergen Boos fehlt es vielleicht ein bisschen an Erfahrung im Umgang mit einer "autokratischen Supermacht", meint der im Exil lebende chinesische Schriftsteller Bei Ling. Aber er hat seine Lehren aus dem Skandal beim China-Symposium gezogen "und uns Dissidenten eingeladen, an der Eröffnungszeremonie [der Buchmesse] teilzunehmen. Er beabsichtige, uns einen öffentlichen Raum zu geben, um mit der chinesischen Delegation zu diskutieren. Es ist aber immer noch unmöglich, dass wir in einem Konferenz-Panel mit Mitgliedern der chinesischen Delegation sind. Sie wollten uns letztes Mal in ein Panel mit offiziellen Autoren bringen, die aber lehnten das ab. Wir Dissidenten haben also unser Panel, die offiziellen Dissidenten haben ihr Panel. So kommen wir miteinander nicht in Kontakt, lernen nicht voneinander und diskutieren nicht miteinander. Insofern ist die Buchmesse nicht erfolgreich."

Im Kulturteil schreibt Katrin Bettina Müller über das renovierte Neue Museum in Berlin. Andreas Fanizadeh sucht auf der Buchmesse nach Sozialdemokraten. Besprochen wird die neue CD von Tokio Hotel.

Und Tom.

Tagesspiegel, 16.10.2009

Der Süddeutsche Verlag, dem auch die Süddeutsche Zeitung gehört, muss weiter sparen, zur Not auch durch Stellenabbau, meldet jbh. auf der Medienseite. "Eine Betriebsrätin sagte, die Werbe- und Anzeigenflaute setze der Süddeutschen schwer zu. Die Stellenannoncen seien um 60 Prozent und andere Anzeigen um 30 Prozent eingebrochen. ... Für dieses Jahr sei mit einem Minus von acht bis zehn Millionen Euro zu rechnen."

SZ, 16.10.2009

Die ganze erste Feuilletonseite ist dem in David Chipperfields Rekonstruktion neueröffneten Neuen Museum auf der Berliner Museumsinsel gewidmet. Jens Bisky, mit Emphase: "Mit dem Einzug der Sammlungen des Ägyptischen Museums und des Museums für Ur-und Frühgeschichte sowie einiger Objekte der Antikensammlung in das wiedererrichtete Neue Museum hat die Berliner Auferstehungsgeschichte einen Höhepunkt erreicht. Welches Kleinod da die Nachkriegszeit unter Schutt und Grün verträumte, haben selbst Kenner kaum geahnt."

Gustav Seibt sieht im Ägyptischen Museum Berlins berühmteste Büste, die Nofretete, in neuem Licht: "Minimale Fältchen unter den Augen, scharfe Züge in den Mundwinkeln, die straffen Sehnen unter dem hochgetragenen Kinn am schlanken Hals zeigen eine außerordentlich schöne, aber nicht mehr jugendliche Frau." Und "etwas Frisches, Belebtes" gewinnen die Stücke der Sammlung für Vor- und Frühgeschichte in den neuen Räumen für Stephan Speicher.

Weitere Artikel: Alex Rühle vernimmt auf der Buchmesse falsche Gerüchte über das Verhalten der chinesischen Delegation (Gesprächsverweigerung, Abreise), weist einseitiges China-Bashing zurück und zugleich auf kritische Stimmen hin, die auch in China selbst Gehör finden. Monika Maier-Albang war dabei, als sich Daniel Libeskind im Münchner Stadtteil Lehel umsah, wo er eine Synagoge errichten soll. Frankreichs erstes "Hyperbuch" (geschrieben von Jacques Attali) hatte Jeanne Rubner in der Hand - es enthält für manche Handys lesbar Flashcodes, mit denen Zusatzinformationen aus dem Netz abrufbar sind. Thomas Steinfeld gratuliert dem Schweizer Schriftsteller Gerold Spätz zum Siebzigsten.

Auf der Medienseite berichtet Marc Felix Serrao vom Streit in der taz um die Kooperation mit der Buchmesse.

Besprochen werden ein Konzert von Cecilia Bartoli in München, Choreografien von Monika Gintersdorfer in Berlin, Sam Mendes' Film "Away We Go - Auf nach irgendwo", und Bücher, darunter Amos Oz' neuer Erzählungsband "Geschichten aus Tel Ilan" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 16.10.2009

In seiner Laudatio auf den von Roland Koch & Co nicht mehr erwünschten ZDF-Chefredakteur Nikolaus Brender - er erhält den Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis - erklärt Frank Schirrmacher, warum die Glaubwürdigkeit der Öffentlich-Rechtlichen auch für die Zeitungen wichtig ist. "In den nächsten Jahren wird sich entscheiden, ob bei aller Diversifikation der Medien noch verbindliche Orte der Informationsvermittlung existieren, auf die sich die Mehrheit der Gesellschaft einigen kann: Dazu zählen die Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender ebenso wie die überregionalen Zeitungen."

Sehr schwärmt nach der ersten Besichtigung Dieter Bartetzko über das vom Architekten David Chipperfield rekonstruierte Neue Museum in Berlin: "David Chipperfield, der den Wiederaufbau konzipierte, rettete, was zu retten war, konservierte selbst winzige Fragmente, baute, wo die Vernichtung total war, Neues in den alten Konturen. So entstand eine Collage, deren Changieren zwischen intaktem Klassizismus, Ruine und Moderne mindestens so faszinierend und fordernd ist wie der ursprüngliche Bau." 

Weitere Artikel: In den Buchmessen-Notizen geht es unter anderem um Fliegen, das kostspielige Gebetbuch der Claude de France und die Haptik des Buches. Mark Siemons beobachtet in der Glosse das Innenleben der chinesischen Delegation. Was von der Aufhebung eines Gerichtsurteils zu halten ist, demzufolge der Bismarck-Enkel Otto von Bismarck dem Nazi-Regime "Vorschub geleistet" hat, kann des langen und breiten Martin Otto erklären. Hannes Hintermeier meldet, dass Google die Kritik Angela Merkels wegen der Buch-Scannerei nicht auf sich sitzen lässt (mehr dazu bei Spiegel-online).

Besprochen werden eine Caspar-Wolf-Ausstellung im Düsseldorfer Kunst-Palast, Christoph Röhls Film "Ein Teil von mir" und Bücher, darunter der Essayband "Das letzte Wort hat keiner" von Günter Kunert (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).