Heute in den Feuilletons

Stiere und Kühe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2013. Im Perlentaucher eröffnet Jan Assmann eine Debatte über Gewalt in der Religion. Die Welt findet, dass Jakob Augstein und Rainer Brüderle sich entschuldigen sollten. In der NZZ beschreibt Wei Zhang die prekäre Lage der chinesischen Bauern. In der FAZ findet Alice Schwarzer die Frauen krass sexistisch, die Brüderle mit dem Hinweis verteidigen: Männer sind halt so. Außerdem fordert in der FAZ der Historiker Thomas Weber mehr Mut in der Hitler-Forschung. Und in der SZ möchte Norbert Frei über das "Entstehen einer spezifischen NS-Moral" ab 1933 nachdenken.

Perlentaucher, 30.01.2013

Jan Assmann eröffnet im Perlentaucher eine Debatte über Gewalt in der Religion. Anlass ist Rolf Schieders Polemik gegen Assmanns Begriff der mosaischen Unterscheidung. Dazu Assmann: "Als ich in den 1990er Jahren das Buch 'Moses the Egyptian' schrieb, konnte ich nicht ahnen, dass ich eine Debatte über den Monotheismus und dessen 'intrinsische Gewalttätigkeit' lostreten würde. Mein damaliges Anliegen war eine diskursgeschichtliche Analyse von Texten, die Mose als Ägypter behandeln. Dabei ergab sich ein Bogen, der sich von Echnaton bis Sigmund Freud spannen ließ. Dieses Buch gab dann aber den Anstoß zu Debatten, die Themen in den Vordergrund stellten, die für mich ursprünglich eher am Rande lagen, und die mich in ihrer Radikalität und Polemik selbst überrascht haben."

TAZ, 30.01.2013

Sven von Reden findet Kathryn Bigelows Film "Zero Dark Thirty" zwar ein bisschen schematisch, die Folterdiskussion geht aber seiner Ansicht nach am Kern vorbei: "Denn im Zentrum des Filmes stehen nicht die Folgen der CIA-Arbeit für (den Verdächtigen) Ammar, sondern für (die CIA-Agentin) Maya - und damit die USA."

Weiteres: Voll auf seine Kosten gekommen ist Samuel Moon mit Antú Romero Nunes' Hamburger "Don Giovanni"-Inszenierung ("Statt eines Orchesters gibt es eine siebenköpfige Frauenband im dunklen Rokoko-Gothic-Pomp-Kostüm"). Ophelia Abeler meldet, dass Hauser und Wirth eine weitere Galerie in New York eröffnet haben und zwar im einstigen Roxy.

Und Tom.

Welt, 30.01.2013

Ulf Poschardt wertete kürzlich noch die Sexismusvorwürfe gegen Rainer Brüderle als "Indiz für das neue Puritanertum der Deutschen". Tilman Krause meint heute, Frauen sollten sich nicht so anstellen und sich an den Schwulen ein Beispiel nehmen, die eine Brüderle-Anmache schlagfertig gekontert hätten: "Du, ich kann auch noch was ganz anderes ausfüllen als eine Krachlederne!"

Alan Posener meint dagegen heute auf der Forumsseite, dass Jakob Augstein und Rainer Brüderle - bei allen Unterschieden in der Sache - sich hätten entschuldigen müssen, nachdem "Es" aus ihnen gesprochen hatte: "Es gibt Dinge, die unteilbar sind: Die Freiheit gehört dazu; die politische Korrektheit auch. Man kann sich nicht über Sexismus empören, den Juden aber raten, weniger empfindlich zu reagieren. Man kann heute nicht den Antisemitismus verurteilen, sich aber über lustfeindliche Emanzen ereifern. Man kann nicht den Islam vor Beleidigungen in Schutz nehmen, das Christentum aber nicht; und umgekehrt."

Weiteres: Iris Alanyali wundert sich über die Nominierung des Dschungelcamps für den Grimme-Preis: "Wenn das Ereignis von Dirk Bachs Tod der Grund für die Nominierung des Dschungelcamp ist, so bekommt, könnte man sagen, sein Tod den Grimme-Preis, ausgerechnet in der Sparte Unterhaltung." Alan Posener resümiert sein Jahr als FDP-Mitglied. Besprochen wird Kathryn Bigelows Film "Zero Dark Thirty" über die Jagd auf Osama Bin Laden.

NZZ, 30.01.2013

Die Situation der ländlichen Bevölkerung ist das wahre Problem Chinas, meint die Autorin Wei Zhang, die am Beispiel des Dorfes Xucun die Lage der chinesischen Bauern beschreibt: "Vom Ertrag aus der Agrarproduktion allein können die Bauern nicht mehr leben, selbst mit staatlichen Subventionen nicht. Zudem die Gelder sie wegen der Korruption in der Bürokratie meist gar nicht erreichen. Die Einkommen auf dem Lande sind, mit denjenigen in den Städten verglichen, lächerlich gering."

Weiteres: Joachim Güntner versucht sich zu erklären, wie die "Bagatelle" um Rainer Brüderle einen solchen Sturm des Protestes auslösen konnte, möchte sich aber weder auf die Seite der Dramatisierer noch der Verharmloser schlagen. Claudia Kramatschek stellt den indischen Comic-Autor Sarnath Banerjee vor.

Besprochen werden Richard von Schirachs Buch "Die Nacht der Physiker" (Leseprobe bei "Vorgeblättert"), Claudia Otts Übersetzung "Märchen aus 101 Nacht" und Anna Ruchats Vatersuche "Schattenflug" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 30.01.2013

Debatte hin, Debatte her - Susan Vahabzadeh findet Kathyrin Bigelows neuen Film "Zero Dark Thirty", der vor allem wegen einiger Folterszenen in den USA für einige Diskussionen sorgte (zum Beispiel hier), in erster Linie langweilig. Es handle sich um einen "Film mit viel zu vielen Längen und zu wenig Inspiration, und irgendwie muss man sagen: Die Kontroverse, die innere Debatte, die er einem aufzwingt, ist auf verquere Weise noch das Interessanteste an ihm."

Den Vorwurf, der Film rechtfertige CIA-Folterungen, will Drehbuchautor Mark Boal im beistehenden Gespräch nicht gelten lassen: "Wir wollten die Vergangenheit auf keinen Fall beschönigen. Es gibt außerdem einen Unterschied zwischen Darstellung und Billigung - ansonsten wäre es unmöglich, jemals einen Film über eine solche Sache zu machen."

Weitere Artikel: Zum 80. Jahrestag von Hitlers Machtergreifung schlägt der Historiker Norbert Frei vor, über das "Entstehen einer spezifischen NS-Moral" nachzudenken, die sich vom Achselzucken über einen zusammengeschlagenen Juden zur Billigung der "Endlösung" entwickelte. Stephan Speicher bietet einen Überblick über Berliner Gedenkausstellung zum Jahr 1933. Ob in Timbuktus Zentralbibliothek tatsächlich alte Manuskripte zerstört wurden, ist noch völlig unklar, berichtet Tim Neshitov nach einem Telefonat mit Mitarbeitern vor Ort. Die Literaturseite füllen heute die Notizen der SZ-Literaturkritiker, was für sie die vielbeschworene Suhrkamp-Kultur ausmacht.

Besprochen werden neue Jazz-Veröffentlichungen und eine große Otto-Dix-Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart.

FAZ, 30.01.2013

Alice Schwarzer bilanziert die aktuelle Sexismus-Debatte. Insbesondere die Reaktionen von Journalistinnen wie Christiane Hoffmann und Wibke Bruhns haben sie geärgert, die Brüderles Anmache irgendwie normal finden: "Die sexuelle Belästigung, erklärte Bruhns nun auf allen Wellen, habe es immer gegeben und werde es immer geben. Denn Männer und Frauen seien 'wie Stiere und Kühe', und wenn man einen Stier entmanne, werde er 'zum Ochsen'. Da offenbart sich ein Männerbild bei manchen Frauen, dass man einfach nur krass sexistisch nennen kann. Freuen dürfen sich eigentlich noch nicht einmal die Brüderles und Kubickis über solche Sympathisantinnen."

Verena Lueken hält die Kontroversen um Kathryn Bigelows Film "Zero Dark Thirty" über die Jagd auf Osama Bin Laden für verfehlt: Dies "ist kein Film über die Folter. Ohne jedes erzählerische Ornament fragt er, was das ist, die ganze Wahrheit, wenn nur Bruchstücke von Informationen zur Verfügung stehen. Der Film ist sozusagen ein Film über sich selbst. Intelligent. Brillant."

Weitere Artikel: Der Historiker Thomas Weber beklagt den Stand der Hitler-Forschung in Deutschland und schlägt vor, sich ein Beispiel zu nehmen an britischen oder amerikanischen Universitäten, wo ein "ständige Hinterfragen von Autorität, das einhergeht mit einer Abneigung gegen die Tendenz, die Assistenten als jüngeren Klon des Doktorvaters heranzuzüchten" üblich sei. Lauter alte Granden auf dem Podium: Bei einer von zahlreichen namhaften Intellektuellen geführten Diskussion in Paris über die Zukunft Europas erscheint Europa Olivier Guez auch deshalb als "blockiert, weil seine Eliten, insbesondere die Intellektuellen, sich an ihre Macht klammern." Evgeny Morozov verabschiedet sich von den Heilsversprechungen, die einst an die Telearbeit geknüpft wurden. Jürgen Trabant beklatscht mit heller Freude die spezifisch Pariser Ansagen in den dortigen Nahverkehrsmitteln. Dieter Bartetzko beklagt die Zerstörungen in Timbuktu durch islamistische Rebellen. Jan Brachmann feiert das Berliner Musikfestival Ultraschall als "Garant für Solidität". Dirk Schümer blickt nach Königin Beatrix' Abdankung auf "123 Jahre Frauenherrschaft" in den Niederlanden zurück.

Besprochen werden der Film "Impossible", die Ausstellung "Lieber Aby Warburg" im Museum für Gegenwartskunst in Siegen und Bücher, darunter Thomas Strässles Buch über "Gelassenheit" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).