Vorgeblättert

David Cannadine: Winston Churchill. Teil 1

04.04.2005.
Winston Churchill als aristokratischer Abenteurer

     Mit Anfang zwanzig war Winston Churchill für kurze Zeit Thronerbe eines Herzogtums, und über ein halbes Jahrhundert später,als er sich aus dem öffentlichen Leben zurückzog, lehnte er das Angebot seiner Monarchin ab, ein weiteres zu übernehmen.(1) Diese doppelte Verbindung zu den höchsten Rängen des britischen Hochadels mag nicht unbedingt seinen Ruhm begründet haben, macht ihn aber auf jeden Fall zu einer Ausnahme erscheinung unter den britischen Premiers und erinnert uns einmal mehr daran, daß Churchill, so C. P. Snow, "der letzte Aristokrat war, der über dieses Land herrschte - nicht einfach nur an seiner Spitze stand". In Blenheim Palace, das sich der Herzog von Marlborough Anfang des 18. Jahrhunderts in Oxfordshire erbauen ließ, traf er die beiden wichtigsten Entscheidungen seines Lebens - "geboren zu werden und zu heiraten, und weder das eine noch das andere habe ich je bereut". In Blenheim verbrachte er den ersten Teil seiner Flitterwochen mit Clementine, und nach Blenheim, das er stets als sein zweites Zuhause betrachtete, kehrte er während seiner späteren Laufbahn immer wieder zurück. Sein ganzes Leben lang betrachtete er den Herzog von Marlborough als Oberhaupt seiner Familie und verehrte ihn als Träger des bedeutendsten Namens im Lande.(2) Den Friedhof von Bladon, in unmittelbarer Nähe des riesigen Palasts seiner Vorfahren gelegen, erkor er sich zur letzten Ruhestätte, neben den Gräbern seines Vaters Lord Randolph Churchill und seiner Mutter Jennie.

Es nimmt also nicht wunder, daß Churchills Einstellungen ebenso aristokratisch waren wie sein Stammbaum. Seine Arroganz, sein Selbstbewußtsein, seine absolute Nonchalance hinsichtlich Konsequenzen, sein völliger Mangel an Interesse für die Gedanken und Gefühle anderer: All dies wurde von Beobachtern als ausdrückliches Zeichen seiner Herkunft aus der Oberschicht betrachtet - und bedauert. Ob Diener oder Sekretäre, Gärtner oder Wildhüter, Pferde oder Jagdhunde - alles galt ihm gleichermaßen als integraler Bestandteil der natürlichen Ordnung der Dinge. Für die Sitten und Gepflogenheiten des Mittelstands brachte er keinerlei Verständnis auf, und es ist wohl kaum ein Zufall, daß die meisten seiner politischen Gegner aus dieser gesellschaftlichen Schicht stammten: Joseph und Neville Chamberlain, Bonar Law, Stanley Baldwin und Clement Attlee. (3) Er wußte buchstäblich nichts über das Leben normaler Männer und Frauen, die die Mehrheit der britischen Bevölkerung ausmachten. Nie betrat er ein Geschäft oder fuhr im Omnibus, und das einzige Mal, daß er die Londoner U-Bahn benutzte, geriet er auf die Circle Line und fuhr hilflos eine Runde nach der anderen, bis ihn nach mehreren Stunden ein Freund von dieser Tortur erlöste. Noch 1951 glaubte er, die meisten Menschen in Großbritannien lebten in "cottage homes" - ein Begriff, in dem sich auf enthüllende Weise sein paternali stisches Wohlwollen und seine aristokratische Ignoranz miteinander vermengen.(4)

Im Rückblick stilisierte sich Churchill gerne zum unterprivilegierten, benachteiligten Kind, das zudem unter dem Handicap einer unzureichenden Ausbildung zu leiden gehabt hatte; der Ruhm, zu dem er es in der Welt gebracht hatte, beruhte nach dieser Darstellung ausschließlich auf seinen eigenen Anstrengungen. Nun kann an seinem Ehrgeiz und Eifer nicht der geringste Zweifel bestehen, dennoch ist klar, daß er in den frühen Stadien seiner Karriere seine aristokratischen Verbindungen mit zielstrebigem Vorsatz und Erfolg schamlos ausnutzte. Als draufgängerischer und ruhmsüchtiger Militär trug er dafür Sorge, an die Grenze Indiens und in den Sudan versetzt zu werden, was ihm nicht nur dank seines eigenen unermüdlichen Lobbyismus gelang, sondern auch durch den Einsatz seiner Mutter, die, wie er später schrieb, "mit ihrem ganzen Einfluß und ihrer grenzenlosen Energie" seine Pläne förderte und seine Interessen wahrte.(5) Mit denselben Mitteln erzielte er die besten Honorare für seine Reportagen aus dem Burenkrieg und die großzügigsten Vorschüsse für seine ersten Bücher. Als er seine Laufbahn als Kandidat der Konservativen begann, finanzierte ihm sein Cousin, der Herzog von Marlborough, teilweise die Wahlkampfkosten.(6) Als er im Unterhaus die Fraktion wechselte, wurde ihm die Kandidatur für den Wahlkreis Manchester North-West angetragen, dank der Intervention seines Onkels, Lord Tweedmouth, zufällig eine wichtige Figur innerhalb der Liberal Party. In mancher Hinsicht mag der junge Winston ein Selfmademan gewesen sein; dochaufgrund seiner Geburt und seiner Beziehungen gehörte er auch zum exklusiven Zirkel der oberen Zehntausend Großbritanniens, und schon frühzeitig lernte er, hier seine Beziehungen zum eigenen Nutz und Frommen spielen zu lassen.

In der Figur Churchills gab es allerdings noch einen anderen Aspekt, der sehr viel tiefer ausgelotet zu werden verdient als bisher geschehen. Zu Beginn seiner Laufbahn profitierte er fraglos von der Förderung und Unter stützung, die ihm aus seinen adeligen Verbindungen erwuchs. Dochin der longue duree seines neunzigjährigen Lebens war die Aristokratie eine rückläufige Macht in der Politik, Gesellschaft und Geschichte Großbritanniens, und Churchill selbst war ausgesprochen ein Aristokrat seiner Zeit. Ähnlich wie zahlreiche andere Aristokraten des späten 19. Jahrhunderts entstammte er einer Familie, die verarmt, unbeständig und von Skandalen behaftet war, und manche seiner entfernteren Verwandten machten sogar eine noch unglücklichere Figur oder standen in Verruf. Es ging ihm nicht anders als vielen Männer seiner Generation aus gutem Hause: Seine Finanzen waren außerordentlich unsicher, er war häufig verschuldet und auf Leute angewiesen, die sehr viel reicher waren als er selbst. Wie andere verarmte Aristokraten sah er sich gezwungen, für Zeitungen zu schreiben und hagiographische Familienlegenden zu verfassen. Und in seinen inkonsequenten Haltungen, seiner unsicheren Parteiloyalität, seiner Ernüchterung über die Demokratie und seiner Bewunderung für autoritäre Herrschaftsformen verhielt sich Churchill nicht anders als viele desorientierte Adelige, die sich in der unwirtlichen, kalten Welt der Massenpolitik des 20. Jahrhunderts einfach nicht mehr zurechtfanden.

Betrachtet man ihn vor diesem breiteren historischen Hintergrund eines allgemeinen Niedergangs der Aristokratie, dann erscheint Churchill als sehr viel handgreiflicheres Produkt seiner Klasse und seiner Zeit, als oft wahrgenommen wird.(7) Und was seine politische Karriere vor 1940 betrifft, so war das alles in allem für ihn eher ein Hindernis als eine Hilfe. Seine Blaublütigkeit mag ihm zu Beginn von Nutzen gewesen sein, doch später wurde sie zunehmend zu einem Passivposten. Es war ja nicht allein so, daß Churchill als Mann von schwankendem Temperament, fehlerhaftem Urteil sowie rhetorischen (und auch alkoholischen) Exzessen weit hin beargwöhnt wurde, daß sein Ruf als Regierungsmitglied - Tonypandy, Antwerpen, die Dardanellen, Canakkale, Rußland, Generalstreik, Indien - ständig umstritten gewesen wäre. Während des größten Teils seiner Laufbahn haftete ihm vor allem ein übler Beigeschmack von Anrüchigkeit und Zügellosigkeit an - er galt als besonders ungeratenes, wurzelloses, anachronistisches Produkt einer morschen und zunehmend diskreditierten aristokratischen Ordnung. Vor 1940 war es nicht leicht für ihn, als der Mann des Schicksals ernst genommen zu werden, für den er sich selber hielt. Viele Leute, die Bescheid wußten, sahen zu jener Zeit in ihm kaum etwas Besseres als einen unfeinen, geradezu deklassierten Abenteurer.


I
Obwohl er sich viel einbildete auf das herzogliche Blut, das in seinen Adern floß, gehörten Churchills Familie und seine Vorfahren nicht unbedingt zu den Leuten, mit denen sich ein auf untadeligen öffentlichen Leumund bedachter Politiker, freiwillig eingelassen hätte. Die Marlboroughs hatten nämlich jede Menge Leichen im Keller. Der erste Herzog mochte ein "begnadeter General" gewesen sein, doch er war auch ein Mann von zweifelhafter politischer und persönlicher Moral. Viele Viktorianer, die mit Macaulays History of England groß geworden waren, betrachteten ihn denn auch als verrufen und nicht gerade vertrauens würdig: Er hatte Jakob II. verraten, gegen Wilhelm III. konspiriert und mit skrupelloser Zielstrebigkeit nach Macht und Reichtum gejagt.(8) Seitdem waren die Marlboroughs entweder unglücklich oder unauffällig oder beides gleichzeitig gewesen. Viele von ihnen waren unstet, depressiv und übellaunig. Der dritte, vierte und fünfte Herzog waren selbst nach den Normen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts verschwenderisch, und keiner von ihnen hatte in den öffentlichen Angelegenheiten seiner Zeit eine irgendwie bedeutsame Rolle gespielt. Gladstones scharfe Worte von 1882 brachten wahrscheinlich die allgemein verbreitete spätviktorianische Einstellung zum Ausdruck: "Seit John von Marlborough hat es keinen einzigen Churchill gegeben, der Moral oder Prinzipien besessen hätte."(9) Und in den kommenden achtundfünfzig Jahren sollte das auch die gängige Meinung bleiben.

Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts schienen die Marlboroughs also stetig und in nahezu selbstzerstörerischer Weise auf den Abgrund zuzusteuern. In auffälligem Gegensatz zu seinen Vorfahren war Churchills Großvater, der siebte Herzog, der den Titel 1857 erbte, ein frommer Mann von edler Gesinnung, verheiratet mit der beeindruckenden Lady Frances Anne, Tochter des dritten Lord Londonderry. Doch gemessen an herzoglichen Standards, wie sie Mitte des 19. Jahrhunderts galten, waren die Marlboroughs alles andere als reich, und aufgrund der zahlreichen Extravaganzen seiner Vorgänger befand sich der Besitz, den der siebte Herzog erbte, in prekärer Situation. Wider Willen sah er sich deshalb gezwungen, einen Großteil des Vermögens zu zerstreuen, das er gerne gesichert hätte. 1862 veräußerte er den Familienbesitz in Wiltshire und Shropshire, und zwölf Jahre später trennte er sich von seinem Grundbesitz in Buckinghamshire, den Baron Ferdinand de Rothschild für 220.000 Pfund erwarb. Familienerbstücke gingen denselben Weg wie vorväterliche Schollen: 1875 wurden die Juwelen der Marlboroughs für 35.000 Guineen versteigert, und Anfang der 1880er Jahre entledigte man sich der herrlichen Sunderland Library für 56.581 Pfund, nachdem die notwendige Gesetzesvorlage das Parlament passiert hatte.(10)

Dieser Prozeß der Zersplitterung des Familienbesitzes setzte sich unter dem achten Herzog, Churchills Onkel, fort, der 1883 das Erbe antrat und schon bald den größten Teil der einmaligen Sammlung alter Meister in Blenheim für 350.000 Pfund versetzte. Doch damit endete auch schon die Parallele zwischen Vater und Sohn, denn der achte Herzog war eine der verrufensten Gestalten, die den höchsten Rang des britischen Hochadels je entwürdigt haben. Als Jugendlicher flog er aus Eton und erwarb sich schon bald einen wohlverdienten Ruf als ungehobelter, unberechenbarer, unverantwortlicher und unbeherrschter Verschwender. 1876 geriet seine Affäre mit der verheirateten Lady Aylesford zu einem öffentlichen Skandal; der Prince of Wales bezeichnete ihn als "größten lebenden Lump"; und 1881 wurde er Vater eines unehelichen Kindes von ihr.11 Zwei Jahre später ließ sich seine erste Frau von ihm scheiden, und damit war die gesellschaftliche Schande des neuen Herzogs komplett. 1886 spielte er eine prominente Rolle im sensationellen Scheidungsverfahren von Lady Colin Campbell, seiner ehemaligen Geliebten, und kurz darauf heiratete er Lilian Hammersley, eine reiche Amerikanerin, was ihn in die Lage versetzte, Blenheim mit elektrischer Beleuchtung und Zentralheizung ausstatten zu lassen. Nicht minder unberechenbar als seine Libido war die Politik des achten Herzogs. Anfang der 1880er Jahre war er nacheinander Liberaler, extremer Radikaler und Konservativer und verfaßte eine Reihe gleichermaßen wirrer Artikel, in denen er die Reform der Lords und der Bodengesetze forderte sowie die Erhaltung "einer Klasse erblich geschulter Staatsmänner, die Verbindung zum Land haben". Er starb, wie er gelebt hatte, in der Tradition eines Bösewichts aus einem Schauerroman: Er wurde in seinem Labor in Blenheim gefunden, "mit einem schrecklichen Ausdruck im Gesicht".(12)

Dies war der traurige Zustand, den "Sunny" Marlborough, Churchills Cousin, während seiner langen Amtszeit als neunter Herzog (1892-1934) zu ändern gedachte; doch ihm war nur sehr beschränkter Erfolg beschieden. Politisch verlief seine Karriere im Sande: Von 1899 bis 1905 bekleidete er kleinere Regierungsposten unter Salisbury und Balfour, stimmte 1911 gegen die Parliament Bill, die den Einfluß des Oberhauses radikal beschnitt, und entwickelte sich in den Zwischenkriegsjahren zu einem paranoiden, antisemitischen Reaktionär.(13) In der Ehe erging es ihm nicht besser. Seine erste Heirat mit Consuelo Vanderbilt war offenkundig aus reinen Geldgründen arrangiert worden; die beiden trennten sich 1906 und ließen sich 1920 scheiden. Seine zweite Frau, Gladys Deacon, war eine böhmische Abenteurerin, die zuvor seine Geliebte gewesen war. An der Ehe ging ihre Beziehung zugrunde, und 1931 ließen sie sich scheiden.(14) Finanziell nutzten die Vanderbilt-Millionen dem Herzog insofern, als er die Gärten und Terrassen in Blenheim wieder instand setzen lassen konnte, doch am Ende seines Lebens stand er im Begriff, die Familienarchive an die Yale University zu verkaufen, und zum Zeitpunkt seines Todes war er buchstäblich bankrott. In gesellschaftlicher Hinsicht blieben die Marlboroughs untragbar. Das Scheitern der beiden Ehen des Herzogs wurde in den Medien ausführlich besprochen, ebenso seine Aufnahme in die römisch-katholische Kirche. Weder Eduard VII. noch Georg V. empfingen ihn bei Hof, und sie lehnten es auch ab, das jährliche Geschenk der Blenheim- Flagge entgegenzunehmen. Die meisten Herzoginnen weigerten sich, seine zweite Frau anzuerkennen, und in der Grafschaft Oxford sowie in kirchlichen Kreisen wurde der Herzog seinerseits mit kaum verhohlener Herab lassung betrachtet.(15)

Noch berüchtigter war Lord Randolph, Churchills Vater, im Verlauf seines kurzen, tragischen Lebens. Schon zu seiner Zeit als Student in Oxford hatte er ein krankhaftes Vergnügen am Spielen und Trinken an den Tag gelegt und immer wieder über seine Verhältnisse gelebt. Seine Ehe mit Hennie Jerome, ebenfalls Amerikanerin, war von unziemlichen Geldstreitigkeiten begleitet; Anfang der 1880er Jahre war er stark verschuldet und befand sich in Abhängigkeit von Geldverleihern und Finanzierungsvermittlern; und am Ende seines Lebens stand er bei den Rothschilds mit knapp 70.000 Pfund in der Kreide. Was für so viele Churchills galt, traf bei ihm in noch stärkerem Maße zu: Er war unberechenbar und unbeherrscht und litt wahrscheinlich an einer Syphilis, die zu einer allgemeinen Paralyse führte und ihn langsam, aber sicher und auf erniedrigende Weise tötete.(16) Gesellschaftlich waren die Churchills zwischen 1876 und 1884 verfemt, nachdem Lord Randolph sich im Streit mit dem Prince of Wales wegen des Aylesford-Skandals impulsiv auf die Seite seines Bruders geschlagen hatte. Politisch galt er als unsicherer, prinzipienloser Abenteurer, dessen beleidigendes Auftreten sowohl von Gladstone als auch von Salisbury gerügt wurde. Sein unvermittelter Rücktritt als Schatzkanzler im Januar 1887 bestätigte lediglich die weitverbreitete Ansicht, er sei ein skrupelloses Scheusal von einer an Irrsinn grenzenden Unausgeglichenheit. Als der junge Winston am Ende seiner Jungfernrede im Unterhaus von seinem Vater als "einer gewissen grandiosen Erinnerung" sprach, dürften viele Abgeordnete Schwierigkeiten gehabt haben, hierin den ganz anderen Lord Randolph wiederzuerkennen, den sie noch selbst erlebt hatten.(17)

Teil 2