Vorgeblättert

Gabriella Zalapì: Antonia - Leseprobe Teil 2

16.03.2020.

23. August 1965

Die Fotos von gestern haben mich die ganze Nacht beschäftigt, vor allem die Serie aus der Villa Clara, die wie in einem Film den Weg aufleben lässt, den ich als Kind entlanggelaufen bin, wenn ich Nonna besuchte. Unglaublich, wie der Fotograf dem Auge auf dem Weg bis zum Haus gefolgt ist. Er beginnt mit dem großen, geschmiedeten Eisentor, dann kommt eine regelmäßige Bilderfolge entlang der zentralen Auffahrt. Ich entdecke die Voliere, den Teich mit den beiden unerschütterlichen Schwänen, den Wintergarten, die eleganten Schirmpinien, die Ficusbäume, die Libanon-Zedern und die Zypressen. Als Kind kam mir der Weg bis zum Haus endlos vor. Er war eine echte Herausforderung für meine Beine. Jede Blume, jeder Stein wurde zum Vorwand, um stehenzubleiben. Im Schlaf habe ich Nonnas Stimme und die Nachmittage wiedergefunden, die wir im Wintergarten verbrachten, wo sie für gewöhnlich ihren afternoon tea mit einem splash of milk nahm. Nonna erzählte mir gern und voller Stolz von den bewundernden Kommentaren ihrer sizilianischen Gäste, von ihrem Staunen über diesen unkonventionellen Garten. Sie fanden ihn typisch britisch mit seinen Schattenflächen, Ecken und Winkeln. Für die Sizilianer müssen die Pflanzen, die das Haus umgeben, vor allem dekorativ sein, ein Festival von Farben, das man von drinnen, hinter den Fensterläden betrachtet. Nonna erklärte mir: »Nein! Ein Garten muss zum Spazieren, zum Ausruhen, zur Kontemplation einladen. Pass auf, Antonia, ich verrate dir ein Geheimnis: Die Bäume haben Ohren, sie können dir zuhören. Leg die Arme um sie und sprich ... wenn du gut aufpasst, antworten sie dir.»
     Die Fotos dieser Serie enden bei der Villa Clara. Federleicht mit ihrer von der Sonne gebleichten Fassade, ihrer Würfelform, den Kaskaden von Glyzinien und Jasmin. Der natürliche Schattenvorhang lässt die Glastüren im Erdgeschoss erahnen, deren Bögen von winzigen Marmortürmchen flankiert werden. Der Blick kreist um das Haus. Man sieht die Ostseite mit der breiten Terrasse im Obergeschoss. Sie wird durch eine endlose Markise geschützt, die einem Wellental gleicht. Keine Menschenseele auf diesen Bildern, als wollten sie die Villa Clara geheimnisvoll, irritierend darstellen. Als ich auf dem letzten Foto endlich die Eingangstür, ihre mit einem Basrelief von Lilien verzierten Holzflügel und die breite Marmortreppe erkenne, spüre ich wieder meine kindliche Aufregung, meine Schritte auf den Stufen, die ich, vier auf einmal nehmend, hinaufrenne, um zu Nonna zu kommen. Wenn ich geklingelt habe, warte ich, dass der Butler mir öffnet. Sein weißes Jackett blendet mich. Ich warte auf die Handbewegung, mit der er mich hereinbittet. Erst dann stürze ich mich in den das dichte Dämmerlicht.
     Die schlichten Außenlinien der Villa Clara ließen nichts von der Komplexität ihrer inneren Welt erahnen, einer Mischung aus britischem Mobiliar, Art-déco-Architektur, schweren sizilianischen Vorhängen, Sammlungen französischer Fächer und chinesischer Vasen. Nonnas Familie hatte auf Sizilien, wo sie sich drei Generationen zuvor niedergelassen hatte, dank ihres Könnens als Winzer etwas Einzigartiges erschaffen. Die Villa Clara war die symbolträchtigste Manifestation ihres Erfolgs. Ein Ort, an dem sich britische Raffinesse und Gebräuche mit dem Reichtum, der Großzügigkeit und der Schönheit Palermos verbunden hatten.
     Wie war es für Nonna, als ihre ganze Welt unterging? Als das Haus ihrer Kindheit beschlagnahmt wurde und fortan Mussolinis Truppen als Kaserne diente? Was tust du, wenn die persönlichsten Erinnerungen von schwarzen Uniformen, knallenden Stiefelabsätzen, dem römischen Gruß und dem »Salute al Duce» zugedeckt werden? Was passiert mit dir, wenn ein Offizier daherkommt und Dir deine Enteignung mitteilt, weil du von einem Tag auf den anderen ein Staatsfeind bist? Warum hat Nonna nie die italienische Staatsbürgerschaft angenommen?
     Ich habe unter den Dokumenten eine endlose Aufstellung des Antiquitätenhändlers gefunden, der die Schäden durch den Krieg und den Durchzug erst der Truppen Mussolinis, dann der amerikanischen Soldaten bewertet hat. Er hatte die Villa Clara haarklein durchforstet (ihre 27 Zimmer, die drei Remisen, die Ställe, das Gärtnerhaus ...) und jede fehlende Türklinke, jedes beschädigte Bett und jedes beschmutzte Kopfkissen, zerbrochene Suppenschalen, Teller oder Porzellantassen, jeden fehlenden Silberlöffel vermerkt. Alles, absolut alles ist aufgelistet, sogar der Zustand der unbestellten Felder. Die fehlenden Einnahmen entsprechen einer für die damalige Zeit gewaltigen Summe. 1949 war die Villa Clara sozusagen Katastrophengebiet und Nonna wollte nie mehr dorthin zurückkehren.


10. September 1965

Wie kann es sein, dass Arturo mein Sohn ist? Ja, ich habe ihn zur Welt gebracht. Ja, du bist wirklich seine Mutter. Aber eins ist seltsam: Sobald ich Arturo nicht mehr sehe, denke ich einfach nicht mehr an ihn. Ich vergesse ihn ganz und gar. Alle möglichen Sorgen bestürmen mich, aber nur die wenigsten betreffen ihn. Es fällt mir schwer, in seine geregelte, stabile Kindheit einzugreifen. Für mich ist Kindheit ein Synonym für Brüche.
     Ich spreche italienisch mit ihm, aber das ist nicht meine Sprache (was ist meine Sprache?). Wenn ich Good night sage, antwortet er: »Sprich italienisch. Hier spricht man italienisch.» Bei ihm fühle ich mich als Fremde. Es ist, als wäre Arturo hinter meinem Rücken geboren. Bin ich eine schlechte Mutter?

Mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktverlags.

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