Vorgeblättert

Inka Parei: Was Dunkelheit war. Teil 2

18.08.2005.
Der alte Mann ließ das Fernglas sinken, seine Hände zitterten. Er hatte grobe, kräftige Hände, die mit Altersflecken und weißen pigmentlosen Stellen bedeckt waren, die Adern ragten auffällig unter der Haut hervor. Er hatte die zerfurchten Hände eines körperlich arbeitenden Menschen, obwohl er nie wirklich schwere Arbeit verrichtet hatte, er war Postbeamter gewesen.
     Fast konnte er das zischende Geräusch hören, mit dem das Leder des Gürtels aus den Schlaufen rutschte. Die Jüngere der beiden Mädchen riskierte einen Blick nach draußen, der plötzlich lang wurde, zögerlich, als ob sie ihn gesehen hätte. Dann wandte sie sich um, rannte zur Tür, jemand löschte das Licht.

Etwas unangenehm Lautes riß ihn kurze Zeit später hoch. Er war zusammengeschreckt, offenbar war er noch einmal eingedöst. Er mochte das Geräusch nicht, er fror.
     Es ist die Schlaflosigkeit, dachte er. Sie macht mich ganz benommen.
     Zerstreut nahm er den Kopf von der Scheibe und kratzte sich am Kinn. Seine andere Hand, die eben noch auf dem Schoß gelegen hatte, strich unruhig über seine Beine, sie stieß auf ein zerknülltes Taschentuch, und von da aus wanderte sie weiter, zu seinem linken Knie. Er befühlte es vorsichtig und zwängte seine Hand in den Spalt zwischen Wand und Heizkörper, ein kleines Stück, und von da aus tastete er nach oben, über das Fensterbrett.
     Es war leer.
     Er dachte über die Uhrzeit nach. Im Taumel des Aufwachens hatte er sein Zeitgefühl verloren, das brachte ihn durcheinander, er wußte sonst immer genau, wie spät es war.
     Vorsichtig drehte er sich um. Die Reste seines Abendessens standen noch auf dem Tisch, ein angebissenes Leberwurstbrot, eine Gewürzgurke. Da war es schon wieder, das seltsame Geräusch, offenbar rüttelte unter ihm jemand an der Tür zum Hotel.
     Er beugte sich ein Stück vor und sah nach unten. Der Hof war still und kalt. Gegenüber war alles dunkel, die Fenster im anderen Gebäudeteil wurden nachts mit braunen Klappläden verschlossen, sie sahen klein und blind aus, wie Schießscharten. Seitlich vom Haus lag das Gemüsebeet des Metzgers, jemand hatte es am Tag davor mit einer Lieferwagenplane abgedeckt, auf der ein Schwein abgebildet war. Im Rücken des Tieres steckte eine Gabel, sein Körper war unterteilt und numeriert in die Bereiche, die nach dem Schlachten verwertet werden, und zwischen Schenkeln und Leib klafften breite Lücken, wie fehlende Gelenke. Auf der Oberfläche der Plane hatte sich eine Wasserschicht gesammelt, sie floß in die Rillen eines krummen, an den Kanten zerschmetterten Plattenwegs, der vom Beet zu einem Wäscheständer führte und von da aus weiter zum Hauseingang. Ein Hüpfgummi baumelte am Pfahl, darunter stand ein Blechnapf, ein muschelförmiges Sieb ragte daraus hervor, kleine, zerbissene Bälle, Schaufelgriffe.
     Das Hotel gehörte zur Gastwirtschaft, ein Gang mit fünf oder sechs Zimmern, von denen die meisten zur anderen Seite lagen, zum Nachbargrundstück. Der Gang hatte eine Verbindung ins Treppenhaus, eine Feuerschutztür, die aber nicht benutzt wurde. Von den Hotelgästen im Haus hörte er fast nie etwas, obwohl er vermutete, daß zwei der Räume an seine Wände grenzten, an die im Schlafzimmer und an die Wand in der Küche.
     Der Regen war inzwischen stärker geworden, er fiel jetzt in dicken, seitwärts gerichteten Strichen. Es hatte schon lange nicht mehr geregnet. Der Sommer war stickig und heiß und der Himmel fast immer auf eine dunstige, verschmierte Art hellblau gewesen. Eine stark verdünnte Wolkenschicht hatte wochenlang ohne Niederschlag am Himmel gestanden, aber jetzt tropfte draußen das Wasser aus den Fallrohren der Dachrinnen und sammelte sich in den Abflüssen. Die betonierten Rinnen zerschnitten den Hof in drei Teile, sie trafen sich in der Mitte in einer Senke, einem uralten Zugang zum Abwasserkanal. Ein mit Kalk und Dichtungshaaren verstopftes, Fäulnis ausdünstendes Gitter hing darüber, mit zerbrochenen und schief wieder ineinandergerosteten Streben, braun und rissig. Es stank tagelang nach Unrat, wenn der Hof bei starkem Regen unter Wasser stand.
     Der alte Mann zog seinen Pullunder über die Hüfte. Das Rütteln unten hörte nicht auf, es war ein beunruhigendes und drängendes Geräusch, und dazu wurde jetzt auch geklopft. Er betrachtete seine Beine. Sie waren an den falschen Stellen dick, nicht dort, wo die Muskeln sein sollten, und dadurch sahen sie ganz gerade aus und auf eine schlaffe Art biegsam, wie die Glieder von Stofftieren.
Er richtete sich auf. Wenn er nach längerer Zeit des Sitzens stand, war ihm immer ein bißchen schwindelig, und er hatte einen Moment lang das Gefühl, nur aus diesen Beinen zu bestehen. Er wartete ab, bis der Schwindel nachließ, dann nahm er seine Krücken, graue Stangen, die in drei Gummifüßen endeten.      Er tastete sich langsam vor, wie er es immer am Anfang tat oder auf rutschigem Boden oder wenn er sich unsicher fühlte. Er stützte sich rechts auf und schob den Fuß etwas nach vorne und dann die linke Krücke, bis Beine und Krücken versetzt zueinander standen wie vier Gliedmaßen, so ging er die Dielen entlang, bis zur Küche.
     Der Flur kam ihm dunkel vor und schmal wie ein Graben. Er war in einer Farbe gestrichen, die offenbar seit jeher hier an den Wänden hing, ein düsteres Gelb oder Grün auf Resten einer Tapete, die nur noch durch den Anstrich haftete. Es roch feucht und metallisch. Das Rütteln war jetzt undeutlicher zu hören.
     Am Eingang zur Küche blieb er stehen. Seine Küche war klein, ein ungekachelter Raum mit einem Klappfenster zwischen zwei Dachschrägen. Wenn er ganz drin war, füllte er sie fast vollständig aus und konnte sich nur mit vorsichtigen Vierteldrehungen zu allen Seiten wenden, zum Herd, zum Schrank und zum Eßtisch. Er schaltete das Licht an, schob sich ein paar Zentimeter nach vorne und zog an der Schublade unter der Tischplatte. Ein etwas streng nach Schmierfett riechender, mit Schrankpapier ausgeschlagener Kasten kam zum Vorschein, in dem Bleistiftstummel, zerknitterte Rabattmarken, alte Kugelschreiber, Korken und rote und grüne Gummibänder durcheinanderlagen. Dazwischen steckten die Schlüsselbunde seiner Mieter, Zugänge zu Wohnung, Garage und Keller der Dörrs, beschriftet und mit einer Schlinge aus Klebstreifen zusammengehalten, ein Ring an einem Anhänger aus braunem Leder, den kürzlich der Wirt bei ihm abgeliefert hatte, und ein weiteres Paar, der Einlaß zur Vorder- und Hintertür der Metzgerei. Der Metzger hatte ihm gleich zu Beginn den hinteren Teil des Hauses abgekauft und ihn abgerissen, er hatte sich ein neues Wohnhaus gebaut, einen flachen, häßlichen Bau mit einer Sauna im Keller. Alle Schlüssel des Hauses, die der alte Mann besaß, waren mit einer Paketkordel zu einem großen, klappernden, aneinanderhängenden Ganzen zusammengebunden, bis auf einen, den er noch nie benutzt hatte, es war ein flacher, messingfarbener. Er nahm ihn heraus und steckte ihn in seine Hosentasche.
     Jemand sollte wach werden, dachte er. Die Wirtsleute sollten jetzt wach werden.
     Wahrscheinlich waren sie zu müde, sie wurden morgens immer von Maschinen und von den Rufen der Straßenarbeiter geweckt. Ihr Schlafzimmer lag im Vorderhaus, über dem Zentrum einer Baustelle, wo man seit Tagen Teile alter Bürgersteige abtrug und sie auf Lastwagen stapelte, von früh um halb sieben bis nachmittags um drei, in sorgfältig markierten Reihen, wie Knochenfunde. Zu kurzer Schlaf war wie eine dünne oder zu kurze Decke, etwas, an dem man in ständiger Rastlosigkeit und Wachsamkeit ziehen mußte. Alle störenden, nicht unmittelbar Gefahr anzeigenden Geräusche wurden bei so einer Art von Schlaf mit unruhigen, sie in den Traum mit einbeziehenden Bewegungen abgeschüttelt, es war ein kalter Schlaf, man wurde nicht warm, man fröstelte beim Aufwachen. Er stellte sich die beiden vor, die Wirtsleute, blaß, verkatert und durstig, wie sie sich ihre Bettdecken über die Gesichter schoben, das Klopfen draußen wegwälzten.
     Bei mir ist es genauso, dachte er, es war das erste Mal, daß ihm dieser Zusammenhang auffiel. Ich friere andauernd und schlafe diesen dünnen, trostlosen Schlaf, wie zu meiner Zeit als Soldat, bloß müde bin ich überhaupt nicht mehr, jedenfalls nicht, wenn ich versuche, die Augen zu schließen. Einfach nie.
     Er drehte sich um, zur Nische hinter der Küchentür, wo seine Krücken standen. Eine von beiden kippte um und fiel auf einen Stapel alter Zeitungen. Er beugte sich vor, um sie aufzuheben, und blickte in das Gesicht von Elvis Presley, es war ein Bild kurz vor seinem Tod, eine Nahaufnahme. Man konnte die Schweißtropfen an seinem Hals sehen, die Schatten unter den Augen und jedes einzelne seiner Haare, sie wurden durch das Bühnenlicht von hinten angestrahlt und sahen dadurch auf eine seltsame, entfärbte Art grau aus.

Teil 3

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