Vorgeblättert

Leseprobe aus Götz Aly: Unser Nationalsozialismus


»Wie nah sind uns manche, die tot sind ...«

Onkel Otto: Ein schwules Leben in Berlin
Erinnerungen an Otto Schellhass (1904–1977), aufgeschrieben für die Berliner Zeitung zum Christopher Street Day 2016

Otto war das schwarze Schaf der Familie. Hinter vorgehaltener Hand sprach man über seine »Neigungen« und hielt heranwachsende Knaben von ihm fern. Auch war bekannt, dass er schon »gesessen« hatte. Seine deutlich jüngere Schwester gab sich alle Mühe, den Makel namens Otto zu vertuschen. Zu diesem Zweck nutzte sie die seinerzeit übliche Geschichte, ihr herzensguter, eigentlich hochbegabter Bruder habe nicht »die Richtige« gefunden, sei deshalb Junggeselle geblieben.

Ganz anders redete ihr sehr gestylter homosexueller Stiefsohn. Er verachtete Otto als »typische Tunte«. Hatte man nicht schon vor Jahren Damenwäsche in seinem Koffer entdeckt!? Durchaus möglich. Wie aus seinem Nachlass hervorgeht, lud Otto in den 1950er Jahren zu fotografisch detailreich dokumentierten Männerfesten in eine gutbürgerliche Wohnung in Berlin-Wilmersdorf ein. Gemeinsam mit »Königin Karola von Homosalien« gab er sich dort als deren »Kammerzofe Baronin von Schneehase, auch genannt Schellhäsin«, die Ehre. Als gern gesehene Gäste begrüßte er »Heloise von Wackelarsch« und »Gräfin Lutschlinde von Blasewitz«, dazwischen »König Joachim von Marokko« und »Speditions-Uwe«. Zum Geburtstag wünschte man ihm, der »lieben Ottilie«, »mögest Du noch weitere 175 Jahre unter uns Schwestern weilen!«

Otto Schellhass im Altenwohnheim in Berlin-Moabit kurz vor seinem Tod im Jahr 1977


Ottos zweite Schwester wandte sich einer evangelikalen Sekte zu. Nachdem ihr Bruder Leichtfuß wieder einmal wegen einer »Hundertfünfundsiebzigerei« einige Wochen in der Strafanstalt Berlin-Tegel hatte zubringen müssen, bedonnerte sie ihn: »Ich habe nicht im Entferntesten gedacht, dass Du immer noch diese Veranlagung lebst. Kein moralisch denkender und fühlender Mensch wird das jemals bejahen können. Ich empfinde das geradezu als eine Schande für unsere Familie, und ebenso empfindet Vater.« Nämlicher Vater, Otto Schellhass sen., entstammte einer einst mit Tabak groß gewordenen, längst jedoch verarmten Bremer Kaufmannsfamilie. 1950 beschwor er seinen damals sechsundvierzigjährigen Sohn: »Du darfst niemals vergessen, dass Du meinen Namen trägst, den ich immer hoch in Ehren gehalten habe. Diese Schwei---- dürfen sich nie wiederholen!!!! Jede Versuchung, die Dir kommt, musst Du mit Pech und Schwefel von Dir weisen.«

Otto wehrte sich entschieden. Er war nun einmal homosexuell, verschwieg das seit den 1920er Jahren nicht und lebte seine »Neigung« mit der Intensität eines Don Giovanni – »allein im Tiergarten schon mille e tre«. An eine Ehe dachte er niemals. Insgesamt wurde er zwischen 1940 und 1960 sechsmal wegen »Treibens gleichgeschlechtlicher Unzucht« verurteilt. Alles in allem verbrachte er ein gutes Jahr seines Lebens wegen Paragraph 175 im Gefängnis (niemals im KZ), zweimal im Dritten Reich, viermal, jeweils ziemlich kurz, in Westberlin und Bremen. Nachdem Otto einen Monat bei der Deutschen Oper als Kartenkontrolleur seine Rente aufgebessert hatte, kündigte ihm der Berliner Senat noch 1969 fristlos, weil er die als »einschlägig« erachteten Vorstrafen verschwiegen habe. (Rechtswidrig standen sie noch immer im Strafregister.)

1977 schied Otto aus dem Leben. Offensichtlich hatte er seinem amtlich dokumentierten »Herzversagen« nachgeholfen, weil sein Gedächtnis etwas nachgelassen hatte. Er, der sein ganzes Erwachsenenleben autonom und wegen der Gesetzeslage kontrolliert verbracht hatte, befürchtete, zum Pflegefall, zum Hilfsbedürftigen zu werden. Nachdem er sich im Alter von 73 Jahren wohlvorbereitet verabschiedet und das Begräbnisinstitut angewiesen hatte, seinen Leichnam in aller Stille einzuäschern und erst dann die Angehörigen zu informieren, wurde ich der testamentarisch bestimmte Erbe seines Nachlasses: Berge von Briefen und Dokumenten, viel Oscar Wilde und André Gide, sanfte und wüste Pornographie, Hunderte privat fotografierte, mehr oder weniger bekleidete Männer, darunter immer wieder halbierte Hochzeitsfotos – die Bräute weggeschnitten.

Nachdem Otto 1921 die Höhere Handelsschule beendet hatte, steckte ihn sein Vater in eine landwirtschaftliche Lehre, um den weichen, wenig zielstrebig erscheinenden Jüngling in der gesunden Landluft zum ordentlichen Manne formen zu lassen. Das misslang. Otto entwich und begann 1926 eine Buchhändlerlehre in Dresden. Dort kümmerte sich der Bruder seiner Mutter um ihn: Dr. Walter Müller, unverheiratet, bis 1945 Kustos, zuletzt Direktor der Skulpturensammlung des Albertinums. Onkel Walter war 1906 mit dem Thema »Nacktheit und Entblößung in der altorientalischen und älteren griechischen Kunst« promoviert worden und ließ es sich nun angelegen sein, den auch deshalb nach Dresden gekommenen Otto in die homosexuellen Zwischenwelten einzuführen. »In Liebe gewidmet von Deinem Neffen Otto«, steht auf einem hübschen Jugendporträt von Otto, das nach Walters Tod wieder zu Otto gelangte. Gemeinsam hatten sich beide an Frank Wedekind erfreut: »Ob die Menschheit mich begrabe, / Häuptlings, bei lebendigem Leib, / Gilt mir doch ein schlanker Knabe / Schöner als ein dickes Weib.«

Otto weicht der Homosexuellenverfolgung Hitlers aus und freut sich als Bordbuchhändler auf dem Schnelldampfer Bremen des Lebens


Das Dritte Reich machte es Otto nicht leichter. Begriffe wie »Rassenschande« oder »Fremdvölkischer« hielt er für einen lebensfeindlichen Witz. Anfang 1935 gelang es ihm, als Bordbuchhändler auf dem Schnelldampfer »Europa« anzuheuern, anschließend auf der »Columbus«. Mit ihr reiste er durch die Karibik, rund um Südamerika und Afrika, bis er Mitte 1939 wieder zurückkehrte und in Berlin landete. Bis 1943 arbeitete er ungestört im Buchhandel und fand sich rasch in der homosexuellen Subkultur der Reichshauptstadt ein. Auf Uniformierte stand er besonders.

Um die gute Laune im Freundeskreis zu wahren, steuerte er zotige Gedichte und beispielsweise ein satirisches Amtsschreiben bei, versehen mit dem Briefkopf »Reichsverwaltungsstelle für Familienzuwachs, Begattungsamt I«: »Seitdem infolge des Krieges viele deutsche Männer ihren ehelichen Pflichten nicht mehr nachkommen können, tritt an die noch leistungsfähigen die Pflicht heran, sich im Interesse des Vaterlandes der unversorgten Frauen insoweit anzunehmen, dass der Geburtenzuwachs wesentlich gehoben wird. Ihnen ist der Bezirk 2a, umfassend 10 Frauen und 14 jüngere Witwen ...«

Der Wehrmacht war Otto schlicht zu schwul, freiwillig verzichtete sie auf seinen Ehrendienst. Er hat nie auf einen Menschen geschossen. Unter Hunderten Briefen aus der NS-Zeit findet sich nicht einer, den er mit »Heil Hitler« unterzeichnet hätte. Selbst als dienstverpflichteter Maschinenarbeiter bei Osram verzichtete er auf den üblichen Nazigruß, als er dieses Versetzungsgesuch schrieb: »Leider«, so begann er im März 1944, »ist es mir trotz meiner Bemühungen nicht möglich, mich mit der zugewiesenen Arbeit zu befreunden.« Deshalb bat er, wieder in eine Buchhandlung versetzt zu werden, um so in seinem »erlernten Beruf an entscheidender Stelle für den Sieg mitzuwirken«. In seinem Notizkalender hatte er am 11. / 12. Juni 1942 vermerkt: »1939 – Krieg / 1944 – Ende«.

Uniformierte Liebesgrüße aus Warschau


Natürlich findet sich in Ottos Papieren auch das versammelte Elend der in den Untergrund getriebenen homosexuellen Parallelwelt, repräsentiert von den zum Schein Verheirateten, den Erpressern und Denunzianten. Am 1. Mai 1943 kündigte der Gefreite Gustav M. an, er habe bald Fronturlaub und bat den »lieben Otto«: »Bekümmere Dich darum, dass ich auch mal an den Drücker komme, bevor es wieder in vermutlich unwirtliche Gefilde geht.« Seinem »treuen Weibe« hatte sich der Urlauber nicht angekündigt, denn er hoffte, »sie endlich mal bei einem tête à tête in flagranti zu ertappen«.

Ganz anders, unendlich tragisch verhielt es sich mit Jungstammführer und Leutnant Karl Hohlweg, der am 22. September 1942 bei den Einschließungskämpfen um Leningrad »durch Kopfschuss den Heldentod fand« und gesucht hatte. Er hinterließ ein verquältes, verzweifeltes Coming-out, das seine Jungvolk-Kameraden lesen sollten, wenn er »nicht mehr unter den Lebenden« sein werde: »Ich habe manches Mädel gerngehabt und dennoch habe ich kein Mädel geliebt, weil ich es doch nicht hätte glücklich machen können. Warum? Ich weiß es nicht. Es ist vielleicht die einzige ungeklärte Frage in meinem Leben, und vielleicht ist es doch gut so.« Am Ende setzte er den Text für die eigene Todesanzeige in den Brief: »Hell liegt des Lebens Sonne hinter ihm, was dunkel vor ihm lag, bleibt ihm erspart.« (Dieser Text wurde damals als Abschiedsbrief von Karl Hohlweg, an seine »lieben Jungvolk-Kameraden« vermutlich in einer Zeitschrift der Hitlerjugend gedruckt. In Ottos Nachlass findet sich nur der mit einem großen Foto Hohlwegs aufgemachte Zeitschriftenausschnitt ohne Quellenangabe. Die Grußformel lautet: »Ich grüße Euch! Bleibt anständig und treu! Euer Karl Hohlweg«)

Auch nach 1945 blieben die deutschen Sittenwartinnen und Rassenwächter aktiv. Bis der gesamte Komplex abgerissen wurde, wohnte Otto höchst bescheiden im Hofgebäude Kluckstraße 1 in einer sogenannten Wohnstube, Hochparterre, Waschbecken, Außentoilette. Seine recht gemischten Besucher nannten sich die »guten Klucken«. Am 3. September 1965 erreichte Otto dieser eingeschriebene Brief des Hausverwalters Heinrich Winckler aus Berlin-Grunewald: »Auch sollen Sie in letzter Zeit u. a. farbigen Nichteuropäern Einlass gewährt haben. Da diese Besuche, insbesondere von Farbigen zu nächtlicher Stunde, zu Aufregung und Belästigung der weiblichen Hausbewohner führen können, bitte ich Sie, den Verkehr mit Farbigen zu vermeiden.«

Die Guten Klucken in der Westberliner Kluckstraße provozierten die Nachbarn und den Vermieter


Weil Otto nur über eine winzige Rente verfügte, blieb er auf Nebenverdienste angewiesen. In der Filmbühne Wien am Kurfürstendamm oder in Hotels arbeitete er als Fahrstuhlführer. Er sprach und schrieb glänzend Englisch und Französisch. Binnenfamiliär wurde aus solchen Posten ein »Empfangschef«. Umgekehrt bezeichnete Otto seine Besucher augenzwinkernd als Schüler, denen er Sprachunterricht erteile. Bis zuletzt arbeitete er als Aufpasser im Charlottenburger Schloss. Den Zusatzverdienst nutzte er für zwei Theater- oder Konzertabende im Monat und für kleine Abenteuer im Gebüsch rund um die Siegessäule, à 20 D-Mark.

Otto verehrte »den wunderbaren Bundespräsidenten Gustav Heinemann«, der als Justizminister den Straftatbestand der Unzucht unter (erwachsenen) Männern abgeschafft hatte. Aber er blieb skeptisch. 1973 ermahnte er einen Freund, nicht zu viel Vertrauen in »die Gesellschaft« und die Forderung nach Gleichberechtigung der Homosexuellen zu setzen: »Bedenke bitte, was meine Generation in den vergangenen 50 Jahren an Unfreiheit erdulden musste, und wie viele ungezählte Menschen – ältere und jüngere, in und außerhalb der Gefängnisse – ihr Leben durch Erpressungen, durch Morde und Selbstmorde lassen mussten: Menschen, von denen heute niemand mehr spricht, denn sie sind alle vergessen. Der nächste und liebste Freund meiner Jugendzeit erschoss sich im Kriege aufgrund einer Erpressung.« »Da unten im Schrank, meine Geschichten, die lest Euch dann einmal durch, wenn ich nicht mehr bin«, hatte mir Otto immer wieder ans Herz gelegt. Besuchen durfte man ihn nur nach vorheriger Anmeldung zu genau einzuhaltender Uhrzeit.

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags

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