Vorgeblättert

Leseprobe Charlotte Krafft: Draußen ist nur der Tod, Teil 1

21.04.2020.
Draußen ist nur der Tod. Eine Erzählung

Wenn es graut, dann sitzen sie manchmal und hocken, die Köpfe zwischen die Knie auf dem Boden gelegt, um den eigenen Atem am eigenen Bauch zu reflektieren, dass die Welt noch kleiner wird – vergleichsweise. Die Welt ist eine Höhle, vielleicht eine Magenhöhle oder eine Blase in einem Gehirn, ein Bunker vielleicht, eine Spalte im Fels oder ein riesiges Zelt, eine Lichtung im ganz dichten Dickicht oder eine Lichtung auf einer Platine mit hochaushohen Widerständen. Mal sie dir aus, wie du willst. »Mam«, fragt die junge Frau, als es graut. Sie kniet am Boden, den Kopf zwischen die Knie auf die Erde gelegt. »Mam, kannst du oben das Dingens sehen?«

Und Mam schaut gar nicht auf, sie klaubt sich eine neue Geschichte zusammen aus den Wortschnipseln einer zerschnittenen Illustrierten, Becketts Endspiel und dem Lokalteil einer alten, einer sehr, sehr alten Zeitung. Natürlich wissen sie alle längst nicht mehr, woher die Schnipsel kommen. »Nein, Dotty, du weißt, dass ich es nicht mehr kann. Die Decke ist irgendwo da oben. Was tut’s? Ich werd sie auch nicht sehen mehr können. Will es auch nicht mehr. Aber was tut’s. Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?«Die Frau am Boden schaukelt sich hin und her, ganz leicht, und kratzt mit den Fingerkuppen über die Matte, steckt einen Fingernagel zwischen die Fasern.
»Ich will keine Geschichte mehr hören«, sagt sie. Die Frau, die Mam genannt wird, schiebt Schnipsel an Schnipsel, es weht kein Wind, der etwas in Unordnung bringen könnte. Wahrscheinlich wissen Mam und Dotty gar nicht mehr, was Wind überhaupt ist. Sie kennen das Wort noch, aber man kennt ja auch andere Wörter und weiß nicht, was sie bedeuten. Ob sie nie gewusst haben, was Wind ist oder es vergessen haben, das ist gleich. Ihre Höhle ist eine ewige Höhle, in der sich nichts wirklich ändert, und wenn sich etwas ändert, dann ist es völlig gleich.

»Der Mann geht eine Straße entlang, bravo, ruft das Meer ihm zu, und alle Welt ist ...« »Ich will keine Geschichte hören.« Mam zuckt mit den Schultern. »Also gut«

Boy will aber. Er will die Geschichte hören. »Schnell Mam, weil gleich ist das Licht alle«, sagt er und setzt sich neben Mam auf den Boden.
»Der Mann, nein, nein, warte, wir machen aus dem Mann lieber eine Frau. Die Frau geht eine Straße entlang, bravo, ruft das Meer ihm, nee, warte, hast du... Ah ja, genau, das ‚Ihr‘ hab ich gesucht. Na, na, nanunana, ruft das Meer ihr zu, und alle Welt ist lachs ...« Sie erzählt dummes Zeug. Es ergibt absolut keinen Sinn, was sie erzählt. Aber Boy lacht. Dotty liegt weiter am Boden, irgendwann kippt sie zur Seite um, zieht die Knie an und hält sich mit den Fingern die Ohren zu. Sie summt. Dann ist das Licht alle. Was bleibt ihnen noch? Schlafen. Jetzt gehen sie also schlafen. Mam und Mom schlafen in langen, engen Pappkartons nebeneinander. Manchmal flüstern sie sich Dinge zu, durch die Löcher in den Wänden der Kartons, bevor sie einschlafen. Es sind sinnlose Formeln, die sie flüstern, sie flüstern, damit die anderen hören, dass sie etwas nicht hören.

Sie schlafen ein. Und kurz nach ihnen schläft auch Dotty ein, dann Sonny, dann Boy und zuletzt Oppa. Mam und Mom in ihren Pappkisten, Dotty auf der Yogamatte, Sonny schläft in seinen Kleidern, sie bilden einen stinkenden Haufen. Boy kann auch im Stehen schlafen. Mam und Mom glauben, er sei von einer Fledermaus gebissen worden und würde nun in manchen Nächten an der Wand hängen, aber das ist nicht wahr, er schläft nur ab und zu gern im Stehen, und sonst schläft er vor den Pappkartons auf einem Stapel Badvorleger. Ja, und Oppa, Oppa verbringt sein Leben auf einer mit Wasser gefüllten Luftmatratze. Mit seinem heißen, alten Körper wärmt er das Wasser, und das Wasser wiederum wärmt seinen Körper, und das Schaukeln ist die einzige Art der Bewegung, derer er noch fähig ist, wenn man von Mimik und Murmeln mal absieht.

Wenn alle eingeschlafen sind und träumen, erwacht der Berg oder die Maschine oder der Riese, der dichte Wald, das Wesen. Das Wesen, das sie geborgen hält, der Gott, der sich von ihren Gebeten und Verfluchungen ernährt. Im Schwarz ist er am lebendigsten, denn dann träumen sie alle von ihm. Schreckliches und schönes. Je nachdem.

Mom wacht als erste auf. Sie setzt sich hin, zieht die Knie an, streckt sie wieder aus, nimmt ihre eigenen Wangen zwischen die Finger und schüttelt sie, schüttelt sie aus. Dann streckt sie sich. Es knackt. Sie macht Kniebeugen. Nach wenigen Minuten wachen auch die anderen auf.
Mom: »Heil dir, dass du uns Shelter gegeben hast, auch in diesem Schwarz.«
Mam: »Heil dir. Heil uns.«
Oppa: »Haaaaiel.«
Boy und Sonny: »Heil.«
Dotty: »Heil. Fuck.«

Dotty ist die Zweitjüngste. Nur Sonny ist noch jünger, ein ganzes Stück. Manchmal versucht sie, die Welt zu bemessen, indem sie durch die Höhle läuft, mit einer Hand an der Wand, und zählt, doch immer ist es am Ende eine andere Zahl, die rauskommt, entweder zählt sie nicht richtig, oder ihr Körper verändert seine Größe, oder die Höhle verändert ihre Größe. Als würde die Höhle atmen. Es ist sehr frustrierend für Dotty. Sie wünscht sich Klarheit und Ordnung, in gewisser Weise. In anderer Weise wünscht sie sich das Gegenteil.

Es gibt vier Sorten farbigen Brei zum Frühstück. Das Wesen weiß, was die Menschen brauchen. Die Menschen essen den farbigen Brei und dann gehen sie ihn wieder ausscheiden. Der Ort zum Ausscheiden ist eine bodenlose Grube, über der ein Stuhl steht, in den ein Loch geschnitten ist. Es ist alles ganz praktisch. Mom muss als erste aufs Klo. Das Klo ist ein Stück weit entfernt.

Als sie wiederkommt, sagt sie: »Jetzt lasst uns beten. Heil dir, dass du uns Essen gibst und ein Bett und ein Klo und Wasser zum Trinken und Wasser zum Waschen, und dass du uns das Spiel gibst und die Geschichten.«

Mam: »Heil dir. Heil dir, dass du uns gesund hältst und uns schlafen lässt und uns vor allem, schützt vor dem Tod.«
Oppa: »Haaaaaiel.«
Boy: »Heil dir, dass du uns vor dem Tod da draußen schützt und heil dir, dass du uns voranbringst.«

Die Menschen, das muss an dieser Stelle gesagt werden, sind sich sicher, dass das Wesen wandelt. Ja, es wandelt, es bringt sie voran, denken sie. Sie sind sich sicher, dass sie das Ziel nicht erreichen werden, denn genau das ist das Ziel. Wer steht, der rottet! Paradox? Ok.

Boy: »Heil dir, der Weg ist das Ziel.«
Sonny: »Heile Heile Segen.«
Dotty: »Heil. Heil. Heil.«

Nach dem Essen und Scheißen und Beten, spielen sie. Nur Oppa und Dotty spielen nicht. Oppa blinzelt und Dotty glaubt, dass es Erinnerungen sind, die er sieht, aber das stimmt nicht, Oppa blinzelt nur so. Sie sitzt auf seinem Bauch und beugt sich über sein Gesicht. Sie schaut in seine Augen und hofft, irgendetwas in diesen Augen zu erkennen, etwas anderes als das,
was sie kennt, etwas von draußen. Aber sie sieht nichts. Nur blasses Blau.
Mam: »Dotty, spiel doch mit.«
Dotty: »Ich mag nicht.«
Mom: »Komm Dotty, spiel doch mit.«
Dotty: »Nein Mom, ich mag doch nicht.«
Boy: »Dotty, sei keine Spielverderberin. Lass doch Oppa, er denkt vor
sich hin. Spiel mit.«
Dotty: »Nein Danke, ich mag nicht.«
Sonny: »Dotty?«
Dotty: »Nein.«
Sie spielen. Sie sind sich sicher, dass das Spiel Regeln hat, die sie auch
befolgen wollen, aber die Regeln ändern sich ständig. Es besteht aus Wortschnipseln und einem Ball, außerdem aus sechs Plastikfiguren, vier Assen und zusätzlich wechselnden Gegenständen; heute ist es eine tote Maus und der Panzer einer Schabe. Nie ist es dasselbe Spiel wie am Tag zuvor.

Dotty läuft herum. Sie läuft zu einer der Felsspalten. Sie nennen die Felsspalten die Felsspalten, weil irgendjemand sie so genannt hat, aber es könnten auch Lüftungsrillen sein oder Fenster oder ein Ohr, jedenfalls kann man nach draußen sehen. Man sieht nur sehr wenig. Man sieht: Farben im Hintergrund, heute ist es so rötlich mal wieder und davor – naja – bräunlich.

Sonny gewinnt die erste Runde, die zweite gewinnt Mom. Sie fängt nun
an zu putzen. Dabei singt sie ein Lied.

»Dotty, hilfst du mir?«, fragt sie irgendwann zwischendurch. Dotty steht immer noch vor der Felsspalte und versucht, irgendwas zu erkennen. »Nein.« Mom: »Warum nicht, Dotty, komm hilf mir mal.« Dotty: »Nein, es ist mir piepegal, wie es hier aussieht, hier drin, wirklich.« Mom: »Ja, mir aber nicht. Hilf.« Mam: »Komm Dotty, hilf ihr.« Dotty: »Nein! Ich hasse es hier. Fuck.« Sie schlägt gegen die Wand.«

Mam: »Ach ja, sie hasst es.«

Dotty hat schon oft gesagt, dass sie es hier hasst und gegen die Wand geschlagen dabei. Sie schlägt wieder und wieder gegen die Wand, aber nicht bis ihre Knöchel blutig sind. Das nicht.

Danach ist sie einen Moment lang befriedigt, aber dann erinnert sie sich daran, dass sie schon oft diese Befriedigung gespürt hat, und irgendwie kommt sie sich jetzt lächerlich vor. Mom sagt, Dotty sei undankbar. Mom und Mam brauchen Dotty gar nicht zu fragen, wo sie denn lieber wäre. Sie wissen, dass Dotty keine Antwort auf diese Frage hat. Sie fragen trotzdem, wo Dotty denn lieber wäre und Dotty heult, weil sie es nicht weiß. Naja, und so vergeht die Zeit, bis es wieder graut und dann wieder schwarz wird und alle schlafen gehen und beim nächsten Licht aufwachen, und Mom wieder sagt: »Heil dir, dass du uns Shelter gegeben hast, auch in diesem Schwarz.«

Das ist die einzige Tradition, das Beten. Jeder und jede sagt also seine und ihre Sätze auf, nur Dotty sagt nichts.

Boy fragt: »Warum sagst du nichts, Dotty?«
Dotty sagt: »Ich schweige.«-
Boy: »Klingt nicht danach.«Dotty: »Ach, halt dein Maul.«Boy: »Äh nein?«
Sonny wühlt sich aus seinem Klamottenberg hervor.
»Ich mach mit!«, ruft er und rollt über den Boden zu Dotty. Sie hält sich die Nase zu, denn Sonny stinkt.
»Nee, lass mich.«
Sonny: »Ich will aber mitmachen, Dotty.«
Dotty: »Ok,
mach halt mit. Wir schweigen.«
Sonny: »Warum?« Dotty:
»Wenn ich das begründen würde, wäre der Sinn des Schweigens verraten.«
Sonny: »Ja, verrat ihn mir.«
Boy: »Sie meint verraten im Sinne von Verrat.«
Sonny: »Achso.«

Sonny und Dotty schweigen eine Weile, aber Dotty ist unzufrieden. Sie hat das Gefühl, den Sinn des Schweigens schon verraten zu haben, indem sie überhaupt vom Schweigen gesprochen hat. Wieder schlägt sie, schlägt diesmal auf den Boden. Sonny erschrickt.

Sonny: »Was ist los?«

Dotty hebt die Hände. Sie kann es nicht erklären. Sonny nimmt sie in den Arm. Sie legt ihren Kopf in seinen kleinen stinkenden Schoß und heult heult heult. Mom sagt: »Das wird schon wieder, Dotty. Alles wird wieder gut. Das vergeht.«

Sonny streichelt Dotty über den Kopf. »Komm, wir schweigen noch ein bisschen, Dotty. Komm, weiter.« Doch Dotty schüttelt den Kopf, dann steht sie auf und fängt mal wieder an, die Höhle zu vermessen. Das beruhigt sie.

Mam: »Die Proteste für größere Tiere wurden letzten Montag auf die Mülltonnen verlagert, sodass eine Mutter mit ...« Mam erzählt den üblichen Stuss. Die Geschichten gleichen sich nur in ihrer Einmaligkeit und Sinnlosigkeit. Sonny steht an einer Felsspalte und schaut hinaus. Boy, der eben noch geputzt hat, geht an Dotty vorbei, dabei knufft er ihr ein bisschen in die Seite. Er stellt sich ebenfalls vor eine Felsspalte und schaut hinaus. »Rot, Rot, Rot ein bisschen Orange, eine Spur Braun«, sagt er. »Und was siehst du, Sonny?«

Sonny macht: »Hmmmmmmm.«
Boy: »Was denn?«
Sonny: »Ich weiß nicht. Dunkelgrün vielleicht und ein bisschen Ocker.
Ist das Ocker? Guck mal Dotty, ist das Ocker?«
Dotty guckt durch den Felsspalt.

»Senfgelb«, sagt sie, dann lässt sie Sonny wieder gucken. Eine Weile stehen Sonny und Boy so da, während Mam und Mom sich Dinge zuflüstern und Dotty die Höhle vermisst, oder sagen wir halt jetzt mal »Magen« statt »Höhle«, damit sich hier keine Sicherheiten einschleichen.

Mit einem Mal hüpft Boy in die Höhe, dreht sich nach Mam und Mom um und zeigt mit dem Finger auf die Ritze. »Da ist wieder einer von denen, glaub ich.«

zum 2. Teil