Vorgeblättert

Leseprobe Charlotte Krafft: Draußen ist nur der Tod, Teil 2

21.04.2020.
Mam: »Wirklich? Beschreib ihn.« Boy sieht wieder durch die Rille.
»Oh, ja, er sieht grässlich aus. So ... zerfetzt und zerfleddert. Die Augen sehen aus wie verschrumpelte Rosinen, nicht nur wie Rosinen, nein, verschrumpelte Rosinen. Und die Haut ist ganz grau, er hat Risse in der Haut, die sind schwarz und drumherum schlappt seine Haut widerlich runter. Ganz widerlich! Sonny, ich glaub, er kommt gleich in deine Richtung. Er hat auch ganz filzige Haare.« Sonny sieht durch die Felsspalte, sagt aber nichts.

Boy: »Siehst du ihn schon? Ich seh ihn nicht mehr.« Sonny antwortet
nicht.
Boy: »Siehst du den Zombie?«
Sonny: »Hm, ja.«
Mom: »Beschreib mal, Sonny.«
Sonny: »Ich weiß nicht, also er ist irgendwie.« Sonny überlegt, dann sagt er ganz langsam: »Also, er sieht aus wie ich eigentlich, nur mit weniger Wasser drin.«
Mam und Mom lachen. »Du kleiner Humorist«, sagen sie. Sonny weiß gar nicht, was ein Humorist ist.
Boy: »Jetzt seh ich ihn auch wieder. Oh, er ist so verdammt zottelig, er sieht aus wie, wie ich eigentlich, bloß ungekämmt.« Boy hat sehr schönes Haar. Das wissen alle. Mam nickt und lächelt.
»Das ist der Tod«, sagt sie weise.
»Da draußen ist nichts als der Tod.«Toooood«, krächzt der Oppa.

»Haaaaaiel!« Mom: »Ja, richtig, Oppa, Heil.« Dotty schiebt Boy zur Seite, um ebenfalls zu schauen. »Ich finde, er sieht verdammt heiß aus«, schreit sie und kichert hysterisch. Boy schubst sie weg, sie geht weiter den Magen vermessen, manchmal leise vor sich hin kichernd. Mam: »So Kids, es gibt Brei. Wer will Brei? Heute gibt es gelben, violetten, burgunderroten und, na, was ist das? Grasgrün.«Boy: »Ich! Ich will grasgrün.« Mam: »Sonny, was willst du?«

Sonny schaut immer noch durch die Rille oder Felsspalte. Mam: »Sonnybaby, Sonny! Son! Ny! Sonny, HE!«

Sonny dreht sich um. »Was denn?«
Mam: »Welche Sorte Brei willst du?«
Sonny: »Blau.«
Mam: »Gibt es nicht. Du kriegst Violett, ja?«
Sonny: »Violett.«
Sie essen Brei. Oppa braucht manchmal etwas Hilfe dabei. Das erledigt Mom. Er bekleckert sich. Manchmal macht er auch den Mund auf, wenn noch Brei darin ist, oder er grinst, dann quillt der Brei aus seinen Mundwinkeln nach draußen, tropft über sein Kinn, und Mom muss den Brei mit einem Lappen auffangen. Dabei spannt sie die Nase an, weil sie sich ekelt.

Nach dem Essen graut es langsam. Dotty, Mom und Sonny hocken sich wieder auf den Boden, die Köpfe zwischen die Knie gelegt und atmen ihre Bäuche an. Es tut ihnen gut. Sie fühlen sich wie Föten im Bauch. Das beruhigt alle.

Im Schwarz bebt das Wesen. Dann ist es wieder hell. Dotty bleibt diesmal trotzdem liegen. Sie liegt lang ausgestreckt, sie hat die Augen geschlossen. Mam geht zu ihr und fragt sie, ob es ihr gut gehe. Mam ist wirklich besorgt. Dotty nickt ganz leicht. Mam runzelt die Stirn. Sonny kommt aus seinem Kleiderhaufen gekrochen. Mam sagt, er solle sich mal wieder waschen. Sonny nickt und kratzt sich im Ohr, er wirkt jeden Tag noch ein bisschen mehr wie ein Hund.

»Dotty? Dotty was machst du?«
Boy: »Sie schweigt wieder.«
Dotty schüttelt ganz leicht den Kopf.
Boy: »Was dann?«
Mom: »Dotty, willst du nichts essen?«
Sonny: »Mam, was macht Dotty da?«
Dotty schüttelt ganz leicht den Kopf.
Boy: »Liegen?« Kopfschütteln. »Schlafen?« Kopfschütteln. »Hmm, nachdenken?«
Dolleres Kopfschütteln.
»Flüche ausdenken!«
Sehr dolles Kopfschütteln.
»Ah!« Boy tippt sich an die Stirn. »Du machst gar nichts.«
Dotty nickt. Das ist eine neue Idee: Nichts machen.
Boy: »Aber ...« Boy grinst listig. Er ist ein Fiesling, das merkt man ihm gleich an.
»Du tust ja gar nicht nichts. Du liegst! Und du denkst. Und du reagierst auf meine Fragen.«
Mam: »Jetzt lass doch Dotty nichts tun, Boy. Sei nicht so fies.«
Sonny: »Genau, Boy.« Sonny legt sich neben Dotty auf den Boden und tut mit ihr gemeinsam nichts.
Boy: »Was denn? Ich sage nur die Wahrheit. Man kann nicht nichts tun.«
Mom: »Kleiner Klugscheißer. Ein Klugscheißer bist du. Wenn Dotty nichts tun will, dann kann sie das auch. Wir können alles schaffen, wenn wir es nur wirklich wollen.«

Dotty tut noch eine Weile lang gar nichts. Sonny wird irgendwann langweilig.
Er öffnet ein Auge und beobachtet Dotty.
»Dotty«, flüstert er. »Dotty, mir ist langweilig. Wann sind wir fertig?«
Dann sieht er, dass Dotty schon wieder flennt. Er klettert auf sie drauf und öffnet vorsichtig mit einem Finger ihr Auge.
»Dotty was ist mit dir? Warum weinst du denn immer?« Dotty: »Ich weiß einfach nicht mehr, was ich tun soll.« »Na nichts«, sagt Sonny und spielt mit Dottys Wimpern. Mam kommt und beugt sich über Dotty. »Aber Dotty, mein Liebes.« Sie nimmt Dotty in den Arm. »Nichtstun ist doch super. Mach doch einfach nichts.« Dotty: »Aber damit ... Ich hasse diese Höhle so sehr, ich hasse das Wesen. Ich weiß, ihr liebt es, aber ich hasse es, und ich weiß einfach nicht ... Ich weiß nicht.« Mam: »Ach, mein Liebes. Sei nicht traurig. Es ist gut, wenn du deinen Zorn ausdrückst. Mal doch ein Bild, um deinen Zorn auszu drücken.« Dotty: »Ich hasse malen. Ich dachte, nichts tun wäre ..., ich dachte, damit könnte ich ... Boy hat Recht. Man kann nicht nichts tun.« Sie steht auf und steckt ihren Finger durch die Rille nach draußen. »Da draußen ist eine andere Temperatur«, sagt sie und schiebt den Finger weiter nach draußen.

Mam: »Dotty, lass das. Das ist gefährlich.« Sie sagt das in strengem Ton, aber sie bleibt sitzen. Dotty presst ihre Hand gegen die Rille, stopft einen weiteren Finger hindurch. Nun gucken zwei Finger raus. Als sie sie wieder zurückziehen will, merkt sie, dass sie feststeckt und fängt wie irre an zu lachen. Mam und Mom ziehen an ihr. Es bringt nichts. Sie lacht, Oppa murmelt irgendwas, man versteht ihn nicht. Boy spuckt sich auf die Finger, reibt Dottys Hand mit seinem Speichel ein und zieht. Flutsch. Dottys Finger sind wieder drinnen.
Mom: »Was für eine Aufregung. Wie klug du bist, Boy.«
Boy winkt ab, er dreht sich um und lächelt. Sie spielen ihr Spiel, sie erzählen sich Geschichten, es graut wieder, es wird schwarz wieder. Das Wesen zittert und bebt.

Als sie aufwachen, sitzt Dotty im Schneidersitz auf dem Boden. Die Hände hat sie in ihren Schoß gelegt, die Augen geschlossen. Sie lächelt ein bisschen. Sonny fragt, ob sie wieder nichts tut. Boy sagt, sie säße ja, also würde sie ja nicht nichts tun. Mam und Mom verteilen Brei. Boy vermutet, dass Dotty meditiert. Und tatsächlich: Dotty versucht, nicht an das Wesen zu denken. Sie denkt: Wenn sie nicht an die Höhle und das Wesen denkt, kann sie es vielleicht aushungern. Aber es gelingt ihr nicht, immer wieder kommt ihr die Frage in den Kopf: Warum denke ich an nichts? Und dann die Antwort: Wegen des Wesens. Und schon hat sie es wieder versaut. Das geht eine Weile so. Sonny und Boy stehen unterdessen vor den Rillen. Boy sieht wieder einen von den Zombies draußen. Mam fragt, wie er aussieht und Boy beschreibt: »Diesmal ist es eine weibliche Zombie, oder eine Trans-Zombie. Sie hat ein blaues, langes Kleid an, das ist ganz zerfetzt, so zerfetzt, dass man kaum erkennt, dass es ein Kleid ist. Und weiße Sneakers hat sie an, glaub ich, und man sieht ihre Brüste, also man sieht das, was mal Brüste waren, ein bisschen davon, sie sind ganz sehnig und, ach das ist so widerlich. Ist das widerlich!«

Er kriegt einen Ständer und geht irgendwo in eine Ecke. Mom: »Sonny, was siehst du?« Sonny: »Hmmm weiß, ich sehe weiß.« Mom: »Keine Zombies?«
Sonny: »Doch, zwei.« Mom: »Zwei sogar?« Sonny: »Ja, die eine ist ganz dünn, sie wirkt wie ein Braten.« Mom: »Wie ein Braten?« Mam: »Was ist denn ein Braten, Sonny?« Sonny: »Weiß nicht. Was langes und dünnes, das leicht durchbrechen kann.« Mam und Mom lachen. Mam: »Nein Schatz, du meinst vielleicht einen Ast.« Sonny: »Ok, Ast.« Mam: »Was siehst du noch?« Sonny: »Da ist noch eine. Sie sieht schön aus irgendwie. Sie hat ganz lange Haare, die sind ganz weiß, und sie hat ganz kleine Augen und ganz große Lippen. Die Lippen sehen aus wie Fische.« Mam und Mom lachen wieder. Mam öffnet vorsichtig Dottys Mund, um sie mit Brei zu füttern. Sie hat ja den ganzen Tag noch nichts gegessen. Dotty isst folgsam, ohne ans Essen zu denken. Sie ist ganz verkrampft in Gedanken. Es gelingt ihr einfach nicht, das Wesen zu vergessen.

Es gelingt ihr auch nicht nach dem nächsten Schwarz und auch nicht nach dem übernächsten. In den Schwärzen erschaudert das Wesen nun immer stärker. Dotty merkt das nicht, Dotty meditiert permanent, außer im Schwarz, dann schläft sie. Irgendwann begreift sie, dass sie im Schwarz aus Versehen vom Wesen träumen könnte, also meditiert sie nun auch die Schwärze hindurch. Sie steckt sich kleine Fetzen von Lappen in die Ohren, damit sie nichts hören kann, sie hängt sich einen Lappen vor die Augen, damit kein Licht durch ihre Lider scheint. Doch sie scheitert, scheitert, scheitert, immer wieder. Immer wieder fällt ihr das Wesen ein. Immer wieder fällt ihr irgendetwas ein, und sobald ihr etwas einfällt, fällt ihr auch das Wesen wieder ein.

Schließlich bricht sie zusammen. Es kommen keine Tränen mehr aus ihr heraus. Mam und Mom sind voller Mitleid. Sie nehmen Dotty und streicheln sie. Dotty zittert. »Was ist nur mit dir?«, fragen Mam und Mom. Irgend wann springt Dotty auf und schreit. Sie schreit: »Hört auf! Hört auf! Hört auf mich zu füttern, hört auf, mich zu trösten. Euer Trost macht alles nur noch schlimmer. Euer Trost ...« Sie stampft mit dem Fuß auf den Boden, rauft sich das Haar, rennt durch die Höhle, schlägt gegen die Wände, schlägt sich gegen den eigenen Bauch, bis sie fast brechen muss. Sie schlägt ihren Kopf gegen die Wand und schreit. Dann lässt sie sich auf den Boden sinken und schläft ein. Mam und Mom und Sonny streicheln Dotty und füttern sie. Dann schlafen auch sie ein.

Sobald sie schlafen, erwacht das Wesen. Es schaudert und schüttelt sich, es schaudert vor Wonne. Es ist heute besonders froh. Die letzten Nächte waren ein herrlicher Genuss. So erholsam. Es schüttelt sich ein bisschen, kleine Tropfen fliegen aus seinem Fell oder von seinen Steinen, von seinem Plastikgehäuse, ist ja völlig egal. Jedenfalls fliegen kleine Tropfen und wenn es ein Gesicht hätte, würde es grinsen oder schmunzeln. Es hat ja auch Gesichter, die von Oppa und Mam und Mom und Boy und Dotty und Sonny. Sie alle grinsen nun im Schlaf für das Wesen. Es fühlt sich ganz gesund, deshalb schenkt es den sechs Menschlein im Magen nun etwas besonderes, etwas neues. Es schenkt ihnen einen funkelnden Stein, mit dem sie spielen können.

Es geht dem Wesen wirklich sehr gut, und draußen: Draußen wird es langsam Tag, es laufen die Zombies am Wesen vorbei und sie unterhalten sich. Manche von ihnen laufen Arm und Arm und legen die Köpfe einander auf die Schultern. Ab und zu bleibt einer von ihnen stehen und schaut durch die Rille nach drinnen. Zombie X: »Guck dir die an, da liegen sie, da essen sie, da spielen sie. Oh man.« Zombie Y: »Wusstest du, dass die uns Zombies nennen?«Zombie X: »Das ist doch irgendwie zum Lachen.« Zombie Y: »Irgendwie haben sie aber auch Recht.« Zombie X und Zombie Y lachen, und dann lächeln sie. Sie sehen wirklich enorm froh aus. Zombie X: »Was hast du heute vor?«

Zombie Y: »Ich weiß noch nicht. Spazieren vielleicht und dann mal sehen. Vielleicht lass ich mich auch in alle Einzelteile auseinandernehmen und dann wieder komplett zusammensetzen. Mal sehen. Es ist ja auch so schönes Wetter. Ich wette, gleich fängt es wieder an zu schneien. Und du?« Zombie X: »Ich weiß noch nicht. Gar nichts vielleicht. Ja, ich denke: gar nichts.«

Mit freundlicher Genehmigung des Korbinian Verlags

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