Vorgeblättert

Leseprobe zu Ana Paula Maia: Krieg der Bastarde. Teil 2

19.08.2013.
In der Küche dreht Amadeu den Wasserhahn auf. Das Wasser prasselt hart auf seinen Nacken, rinnt auf Irrwegen durch seine Haare in das verschwitzte Gesicht. Er dreht den Hahn wieder zu, lässt das Wasser abfließen und kehrt taumelnd ins Wohnzimmer zurück. Eine Glasvase zerspringt auf dem Boden, das Echo hallt in seinem Kopf, jetzt ist er hellwach. Gebückt sammelt er die größeren Scherben ein, die kleineren schiebt er mit den Füßen unters Sofa.
Dann, beim Anblick des Telefons, eine neue und weitaus größere, entschlossenere Euphorie. Er tippt dieselbe Nummer ein wie am Morgen. "Ich hab's endlich aufgetrieben. Bevor wir uns sprechen, muss ich noch ein paar Dinge erledigen, aber warte auf jeden Fall, bis ich dich anrufe. Ich liebe dich. Ich werde dich rechtzeitig holen. Und lösch diese Nachricht gleich wieder."
Aus den Tiefen des Kleiderschranks angelt er eine Reisetasche, stopft zwei Hosen hinein, Hemden, zwei Paar Schuhe, Videos, CDs und alles, was in der Nähe liegt. Nebenan schläft der Typ, mit dem er die Wohnung teilt. Er hinterlässt ihm vierhundert Real und einen Zettel auf dem Wohnzimmertisch: "Musste verreisen. Hier meine Miete. Grüße, Amadeu."
Dann läuft er noch mal in sein Zimmer zurück, nimmt das Bild einer Frau aus einem Bilderrahmen. Er hält es ins Steinwaschbecken und zündet es mit einem Feuerzeug an. Während es von den Flammen verschlungen wird, faltet und verformt sich zu seinem Entsetzen das Gesicht. Ein roter Drache schlingt sich um den Körper, den Kopf unterhalb des Nackens, das Schwanzende am Nabel - der einzige am Schwanz gepiercte Drache, der blutrotes Haar spuckt. Sie ist glühend entflammt, sagt er immer.
Er streicht über das Feuerzeug, das mit demselben Drachen und einer Aufschrift bedruckt ist: "Zum Zeitvertreib." Amadeu raucht nicht, sie hat ihm das Feuerzeug vor zwei Wochen geschenkt, damit er ihren Zigarettenkonsum kontrolliert. Vielleicht würde sie es so endlich schaffen, mit dem Rauchen aufzuhören.
Er betrachtet die ausdrucksvollen Augen der Frau, die sich hinter den roten Haarsträhnen verlieren, dann löscht er die Flammen, bevor sie das Foto endgültig schlucken, und schiebt den übrig gebliebenen Fetzen in seine Hosentasche. Nur ihre Augen, ihre roten Haare.
Die Asche wird vom Wasser weggewaschen. Er greift nach den beiden Taschen. Erneut wirft er die Tür mit einem Ruck hinter sich zu, und es hallt durch den verlassenen Korridor im fünften Stock. Zum dritten Mal an diesem Morgen erzittert er von Kopf bis Fuß.
 

zwei

"Schmeiß deinen Müll nicht vor meine Tür, du argentinischer Scheißkerl!", keift Stefano Lozonni den Typen an, der sein Nachbar und ein echter argentinischer Scheißkerl ist. "Du kannst mich mal, Scheiß Itacker!", antwortet der, so wie er auf alles mit "Du kannst mich mal" antwortet, selbst wenn er gerade nett ist.
Lozonni, ein alter Mann voller abschätziger Adjektive, ist nicht weniger ein Scheißkerl, dafür aber ein geistreicher. Die Nachbarn können ihn nicht ausstehen und er die Nachbarn auch nicht. Er lebt allein. Man weiß kaum etwas über ihn, mitten in der Nacht ist er eingezogen und hat bis zum Morgengrauen sein Zeug angeschleppt, ein echter Graf Dracula, der blass und mit scheppernder Stimme durch das Zwielicht schleicht und sich vor der Sonne versteckt. Wilde Mutmaßungen machen die Runde. Er hatte sich eine Blutkrankheit geholt, als er eine Ratte bei lebendigem Leib auffraß. Sie streifte für gewöhnlich in seinem Hinterhof herum, durchwühlte den Müll und bekämpfte die Nachbarkatzen, nichts konnte sie umbringen. Als sie eines Tages die Kehle seines Schäferhundes zerfleischte, brach eine gewisse Panik aus, und er taufte sie Rasputin.
Im Hinterhof hielt er Wache, stundenlang, neben sich ein Schnapsgemisch mit einem Lappen im Flaschenhals, ein Feuerzeug in der Hand. Über der Warterei schlief er im Schaukelstuhl ein, die Arme leicht aufgestützt, weil sein linker Unterarm, von einer Krankheit in jungen Jahren verkrüppelt, ohne jedes Gefühl ist.
Sanfte Engelsglöckchen läuteten, ein scharfer Geruch nach Eisen stieg ihm in die Nase. Beim Aufwachen hing sein Unterarm in Fetzen, die Zähnchen hatten sich bis auf die Knochen in das Fleisch gebohrt, die Äuglein der blutverschmierten Ratte blitzten am Rand der Finsternis, in der offenen Wunde Fäkalien, Blut und Spucke, angefressene und zerplatzte Venen troffen aus Rasputins Rachen. Da schleuderte er sie weit von sich, und gleich darauf traf das explosive Gemisch die Ratte, die Feuer fing und wie wild im Hof hin- und herraste. Sie verkroch sich wie die Dämmerung in irgendein unterirdisches Loch.
Bis sich Rasputin eines Tages ins Haus wagte, um eine Banane, die Reste vom Mittagessen im Waschbecken und eine wertvolle Ausgabe von Don Quijote, Geschenk irgendeines Herzogs, zu vertilgen. Als er die Ratte schnappte, war Lozonnis Hass so groß, dass er sie mit seinen Zähnen in Stücke riss und kreischte: "Nicht einmal Riesen und Windmühlen konnten ihn umbringen! Nicht einmal Riesen und Windmühlen konnten ihn umbringen!"

Das verworrene und unverständliche Gequassel lässt Horácios Lächeln ersterben, während er am Fenster eine Schüssel Cornflakes löffelt und die Nachbarschaft beobachtet. "Dieser bekloppte Alte", brummelt er vor sich hin. Dann widmet er sich wieder seiner singenden Säge, der er mit einem Geigenbogen eine schräge, unverständliche Melodie abringt. Noch einen Löffel Cornflakes, noch ein paar Töne auf der singenden Säge, dann klingelt das Telefon.
Horácio wohnt im zweiten Stock eines vierstöckigen Hauses mit Blick aufs obere Fenster von Lozonni gegenüber, in dem immer noch das "Zu vermieten"-Schild hängt, sichtlich am Verblassen. Es macht ihn nervös, dass er zur Zeit niemanden hat, mit dem er die monatlichen Fixkosten teilen könnte, und er auch niemanden kennt, der jemanden kennt, der eine Wohnung bräuchte. Alle sind untergebracht, und er sitzt in der Klemme.
Er weiß es noch nicht, aber heute Nachmittag wird schon wieder eine Miete fällig. Vielleicht sollte er einfach die verwanzte Bruchbude da drüben mieten, die er tagein, tagaus beobachtet.
Keine entscheidende Veränderung am Horizont, der nichts als das abgewrackte alte Haus mit Dachboden zu bieten hat. Ein Leben in Würde sollte doch wenigstens einen Horizont, eine Aussicht haben. Dort oben, wo die Hügel aus allen Nähten platzen, lebt man ständig mit der drohenden Gewalt, aber auch mit privilegiertem Ausblick. Wenn er niemanden findet, mit dem er seine Wohnung teilen kann, und den Mut aufbringt, zieht er eben in eine Favela. Bedroht ist man immer, oben wie unten, aber oben gibt es wenigstens Aussicht, einen weiten Horizont. Das ist es, was Horácio braucht: Weite.
Bevor er endlich ans Telefon geht, das schon eine Weile klingelt, streut er die restlichen Cornflakes aufs Fensterbrett, wo drei hungrig glotzende Tauben mit wackelnden Köpfen herumtippeln.
Er ist Assistent von Edwiges D'Lambert, Produzentin und Regisseurin, die zur Zeit wieder einen ihrer Erfolge dreht, für eine Handvoll Anhänger. Edwiges ist ziemlich bekannt, allerdings ausschließlich bei Schauspielern, Cineasten und hippen Kritikern. Sie hat den einen oder anderen Film in die Welt gesetzt, der schnell von derselben Handvoll Anhänger für sich entdeckt wurde, die sich dann auch den nächsten Film ansah. Mittlerweile ist sie zu ihrem eigenen Genre geworden und wird als Kultfigur angehimmelt.
Nach ein paar gelangweilten "Jas" und "Neins" legt er auf, setzt sich aufs Sofa im Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein. In einer Viertelstunde muss er los, die zwei Stockwerke hinunter und zur Haltestelle laufen, auf den Bus warten. Am Set angekommen wird er einen langen Tag, Nachmittag, Abend vor sich haben, bis spät in die Nacht, plus alle nur denkbaren katastrophalen Zwischenfälle, die an einem Glückstag ohne größeren Ärger eben so eintreffen. Seine heikle Lage macht ihn fertig, er schuftet pausenlos, um mit dem mickrigen Gehalt wenigstens die Wohnung halten zu können. Dazu kommt der verdammte Wasserschaden an der Wohnzimmerdecke, ein endloses Getropfe direkt aufs Sofa, das er aber mittlerweile ein Stück nach vorn gerückt hat. Er hat eine Schüssel auf den Boden gestellt, die die Tropfen auffangen soll, und wartet jetzt darauf, dass der Nachbar von oben von seiner Europareise mit dem Symphonieorchester zurückkehrt. Horácio hätte selbst nichts dagegen, in einem Symphonieorchester zu spielen, am liebsten wäre ihm eines von diesen kräftigen, tiefen Instrumenten wie die Tuba. Aber als Junge hat er nur singende Säge spielen gelernt, bei einem Möbelschreiner, der Gratis-Stunden gab. Geige wäre ihm lieber gewesen, doch die war zu teuer, und so musste die singende Säge als immerhin vielseitige und interessante Alternative herhalten.
Zum Film ist er als Beleuchter gekommen, hat sich durch viele Jobs durchgebissen, bis er Produktionsassistent wurde. Er war der Meinung gewesen, Kino würde die Menschen bereichern - die fehlgeleitete Vorstellung eines Jungen, der in einem abgelegenen und verarmten Vorort aufwächst.
Jetzt will er, vorausgesetzt es gibt einen Geldgeber für eine solche Kursabweichung, nichts lieber, als die Branche wechseln. Fürs Musikmachen findet er sich zu alt, außerdem wäre er genauso unzufrieden wie jetzt. Solange er sich nicht entscheiden kann, versucht er herauszufinden, wie er möglichst schnell an Geld kommt und sich bei der Arbeit nicht zu sehr langweilt.
Horácio holt die Gewürznelken aus dem Küchenbord und schiebt sich ein paar in den Mund. Er kaut sie nicht, lässt sie nur versteckt unter der Zunge liegen, in den Backentaschen oder auf den kleinen Dünen unter dem gewölbten Gaumen.
Er zieht Hemd und Turnschuhe an, nimmt seinen Rucksack und schlurft die Treppen hinunter. Eigentlich wäre es besser, denkt er, sie hätten einen Portier, jemanden, mit dem man ein "Guten Tag, Wie geht's, Bis später" wechseln könnte; einer, der die Fußballergebnisse vermelden und die besten Torschüsse, die unfairen Spielzüge kommentieren würde und Fan vom selben Verein wäre. Erst ein Portier macht ein Mietshaus menschlich, ganz abgesehen davon, dass er das Bindeglied zwischen den Bewohnern ist, der, der alles weiß, alles hört und alles sieht, eine echte Alarmanlage eben, mit Niedriglohn, Kaffee und Transistorradio.
Verdammt friedlich hier: Bei den weißen Marmorstufen, den kalten Wänden und der Stille könnte man meinen, in dem Haus gäbe es kein Leben. Wenn das Klavier seines Nachbarn aus dem dritten Stock und die gelegentlichen Begegnungen mit der Witwe Elza nicht wären, würde er sich für das einzige Lebewesen im Haus halten. Sie brauchen dringend einen Portier.
Er läuft über die Straße, und als er um die Ecke biegt, prallt er gegen einen Mann, der gerade versucht, die richtige Hausnummer zu finden. Entschuldigungen. "Bist du's, Amadeu?", fragt Horácio ungläubig. Ja, er ist es. Amadeu, der lieber unerkannt bleiben würde, jedenfalls für ein paar Tage. Horácios Blick fällt auf eine Zeitung in Amadeus Händen, in die rote Kuli-Kreise eingekritzelt sind, schnappt danach und plappert ungebremst drauflos: "Ja, das ist hier, gleich dort drüben, bei dem alten Irren. Oben steht ein Schild. Ich wohne gegenüber, da. Hier ist wirklich nichts los, wenn du so etwas suchst." Es ist genau das, was Amadeu sucht, wirklich verdammt friedlich hier. "Bin schon spät dran, sonst würde ich mit dir rübergehen. Ist eine tolle Wohnung, meine ich", sagt Horácio und verabschiedet sich. Er hat keine Ahnung, warum er das gesagt hat: eine tolle Wohnung. Es ist eher eine Bruchbude, ein Taubennest, aber derlei Schmeicheleien behält man lieber für sich. Das ist hier so Sitte, man öffnet den Mund und redet einfach drauflos, ohne vorher groß nachzudenken. Es kommt von Herzen, man will ja nicht, dass der andere enttäuscht wird.
Horácio bleibt stehen und fragt sich, was er da eigentlich für einen Mist gebaut hat. Vor einigen Zeilen habe ich ihn darüber jammern lassen, dass er sich mit niemandem die Miete teilen kann. Und jetzt steht da, direkt vor ihm, ein Typ mit gutem Ruf, der eine Bleibe braucht. Er sieht zum Himmel und denkt an die göttliche Vorsehung oder sonst etwas, das ihm beistehen könnte. Eine solche Gelegenheit darf er sich nicht entgehen lassen. Der einzige Obdachlose in der ganzen Stadt, der in der Lage ist, Miete zu bezahlen, Amadeu, würde ihn diesen Monat über die Runden bringen. Er hat sogar bereits ein paar Sachen zusammengepackt, einiges aussortiert, um es womöglich zu verkaufen, und jetzt plötzlich eine einzigartige Chance. Amadeu würde ihn retten, ganz sicher.
Ein kurzer Blick auf die Uhr und er geht zu Lozonnis Haus hinüber. "Hey, Amadeu, bei mir ist auch noch ein Zimmer frei, voll möbliert, wir machen halbe halbe." Bevor er antwortet, sieht Amadeu sich um, zieht ein Gesicht, als wäre das keine so gute Idee, und presst die rote Tasche an sich. "Ich hab gelogen", sagt Horácio. "Der Dachboden ist gar keine tolle Wohnung. Ehrlich gesagt erinnert er nicht einmal entfernt an eine Wohnung." Hektisch sieht Horácio noch einmal auf die Uhr. "Verdammter Mist, ich bin viel zu spät dran. Lass uns kurz hochgehen, und du schaust es dir an. Wird dir sicher gefallen", sagt er und hofft.
Was also tun? Amadeu und Horácio gehen nebeneinander her, Horácio plappert und plappert, sein Geschwätz ein einziger maßloser Erguss. Als sie die Wohnung betreten, macht sich Amadeu erst recht Sorgen um seine Tasche, für die es keinen sicheren Platz zu geben scheint. Horácio ist in Ordnung, aber ein eher dreister Typ, der, so gut er sein mag ... Himmel, es geht um ganz schön viel Geld. Hat "gut" überhaupt noch etwas auszusagen, wenn so viel auf dem Spiel steht? Ich glaube nicht.

zu Teil 3