Vorgeblättert

Leseprobe zu Andre Schiffrin: Paris, New York und zurück. Teil 2

10.05.2010.
Nachdem mein Vater Guggenheims Annäherungsversuche zurückgewiesen hatte, verliebte er sich in die russische Pianistin Yura Guller. Er war ihr in einem Kammermusikensemble begegnet, in dem er Cello spielte, und heiratete sie wenig später. Guller hatte 1909 den Hauptpreis des Pariser Konservatoriums gewonnen, und vor ihr lag eine vielversprechende Zukunft. In den ersten gemeinsamen Jahren bezauberte sie Andre Gide, den Freund meines Vaters, mit ihrer meisterhaften Chopin-Interpretation und lehrte ihn, seine Kompositionen zu verstehen und zu spielen. Gide war ihr nach Aussage seiner Biographen unendlich dankbar dafür.
Auch mein Vater war musikalisch so begabt, dass er eine Karriere als Cellist ins Auge fassen konnte, doch Guller war begreiflicherweise von ihren eigenen Möglichkeiten besessen, und ein professioneller Musiker in der Familie war mehr als genug: Nach einigen Jahren beschlossen sie, die Scheidung einzureichen. Ich sollte Guller viele Jahre später dank eines äußerst merkwürdigen Zufalls kennenlernen. Ich verbrachte den Sommer mit meiner Familie in Dartington in Südengland, wo meine Frau aufgewachsen war. Dartington war berühmt für seine Sommermusikschule, und unter den Gastmusikern fand sich auch Gullers Name. Ich ging nach der Vorstellung zu ihr und stellte mich vor. Ich glaube, sie war darüber amüsiert, keineswegs aber tief bewegt; was uns verband, war zu peripher und heikel. Alles, was ich von ihr besitze, ist eine CD mit Chopin-Aufnahmen, auf deren Cover das Foto einer auffälligen, dunkelhaarigen Frau abgebildet ist.
Zu Beginn der zwanziger Jahre zog mein Vater von Italien nach Paris, wo er beschloss, sich im Verlagswesen zu versuchen. Zunächst machte er eine Art Lehre bei dem Kunstverleger Henri Piazza. Schon nach kurzer Zeit fühlte er sich jedoch stark genug, eigene Wege zu gehen und gründete 1922 einen neuen Verlag, den er "Editions de la Pleiade" nannte. Der Name stammt nicht, wie oft angenommen, aus der Mythologie oder der französischen Literaturgeschichte, sondern von einer Gruppe klassischer russischer Dichter. Da er über keine Autoren verfügte, begann er mit einer Reihe russischer Titel, die er selbst und Freunde von ihm ins Französische übersetzten. Ganz zu Beginn der "Editions de la Pleiade" begegnete mein Vater Andre Gide, den er bei der Übersetzung seines allerersten Buches - Puschkins Pique Dame - um Hilfe bat. Die Bücher waren großzügig illustriert, manche von russischen Künstlern, die in Paris lebten, und sie zeichneten sich durch eine hinreißende Typografie aus, auf die mein Vater immer großen Wert gelegt hatte. (In den fünfziger Jahren besuchte ich auf der Biennale von Venedig den sowjetischen Pavillon, wo diese Bücher ausgestellt waren - erstaunlicherweise als Beispiele für die russische Kunst der Nachkriegsära.2)
Nach dem Erfolg seiner Luxuseditionen hatte mein Vater die Idee, eine in Leder gebundene Buchreihe auf Dünndruckpapier zu drucken, die vornehmlich die französischen Klassiker umfassen sollte. Die Reihe wurde unter dem Namen "Bibliotheque de la Pleiade" bekannt und hat bis heute Vorbildfunktion im französischen Verlagswesen. Die Idee war, in jedem Band die Hauptwerke eines großen Autors in einem sorgfältig bearbeiteten, kommentierten Text zu versammeln, gleichzeitig mussten die Bücher relativ preiswert sein - die Proust-Ausgabe in der Pleiade würde billiger sein, als alle Bände zusammen in der normalen Ausgabe - und gleichzeitig handlicher. Gide sprach häufig davon, dass er sie in der Tasche seines Jacketts trage. Angefangen mit einem Baudelaire-Band, verlegte mein Vater nach und nach alle Hauptwerke der französischen Literatur. Später weitete er die Reihe auf Übersetzungen aus; heute umfasst die Pleiade nahezu die gesamte klassische Weltliteratur (allerdings sind die neuen Ausgaben deutlich wissenschaftlicher und teurer, als von meinem Vater ursprünglich geplant).
Die Pleiade war von Anfang an ein solch enormer Erfolg, dass Jacques? bescheidenes Kapital, das er mit Hilfe von Geldgebern - vorwiegend Angehörige und Freunde - zusammengetragen hatte, aufgebraucht war und er nicht mehr die erforderlichen Mittel besaß, schnell genug eine ausreichende Menge Bücher zu drucken. Er stand noch immer in freundschaftlicher Beziehung zu Peggy Guggenheim. Sie lieh ihm auch Geld, und um einen Teil seiner Schulden zurückzuzahlen, überließ er ihr sechshundert Exemplare der Pique Dame, die sie vergeblich Pariser Buchhandlungen zum Verkauf anbot. Glücklicherweise wurde das Buch später ein großer Erfolg, sodass Jacques die Bücher zurücknahm und weiterverkaufte.
Trotz dieser Winkelzüge brauchte mein Vater schließlich weiteres Kapital und wandte sich an einige größere Pariser Verlage. 1933 schließlich begab er sich dank der Vermittlung Gides, der schon lange engen Kontakt zu Gallimard unterhielt, unter das Dach dieses vielleicht angesehensten Pariser Verlagshauses. Er blieb dort bis zur deutschen Okkupation im Jahre 1940, als der deutsche "Botschafter" Otto Abetz die Order zur Übernahme französischer Schlüsselinstitutionen, wozu auch Gallimard gehörte, erließ. Das Unternehmen wurde arisiert. Am 20. Oktober 1940, kaum vier Monate nach der deutschen Besetzung von Paris, wurde mein Vater in einem zweizeiligen Brief vom Eigentümer Gaston Gallimard entlassen. Jacques war einer von zwei Juden im Verlag, und ihr Ausscheiden hatte zur Folge, dass französische Faschisten eine immer bedeutendere Rolle bei der Leitung Gallimards spielten. Dies führte auch zu den in unserem Familienalbum aufgezeichneten Veränderungen.

Das Leben meiner Mutter war bei weitem nicht so ereignisreich verlaufen. Ihr Vater, Oscar Heymann, war auf Anweisung seines Vaters als mittelloser Straßenhändler von Straßburg nach Paris gegangen, um Geld für die Aussteuer seiner Schwestern zu verdienen. Er baute allmählich ein florierendes Unternehmen für Spitzen und Galanteriewaren auf, was ihm ermöglichte, in dem angesehenen Vorort von Neuilly eine geräumige, luxuriöse Wohnung zu kaufen, die auch ein Billardzimmer besaß, ein Beweis seines gesellschaftlichen Erfolges. Dort wuchsen meine Mutter, die 1906 geboren wurde, ihre beiden Schwestern und der jüngere Bruder auf. Wie die meisten französischen Mädchen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg besuchte meine Mutter keine Hochschule, obwohl sicherlich auch sie von der intellektuellen Leidenschaft dieser Zeit gepackt wurde - von ihren Anekdoten erinnere ich mich besonders gerne an das Schlangestehen vor dem lokalen Buchhändler, immer, wenn ein neuer Band von Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit erschien.
Mein Großvater mütterlicherseits war jedoch sehr streng und von der alten Schule. Wenn er meine Mutter beim Verlassen der Wohnung mit auch nur einem Hauch von Make-up erwischte, befeuchtete er sein Taschentuch und entfernte alle anstößigen Spuren. Meine Mutter jedoch wollte ihr Elternhaus verlassen, und nachdem sie über Freunde von einer freien Stelle als Sekretärin in einem neuen Verlag erfahren hatte, stieg sie die Treppe bis zum sechsten Stock des Hauses, das die aus einem Raum bestehende "Editions de la Pleiade" beherbergte und bewarb sich um den Posten. Später erinnerte sie sich, dass auf jedem Treppenabsatz geschrieben stand, die Büros lägen gleich darüber. Mein Vater war sofort von ihrer Schönheit überwältigt und, gerade erst von seiner ersten Frau Yura geschieden, stellte sie sofort ein, obgleich sie gestand, dass sie noch nie gearbeitet habe und auch nicht Maschine schreiben könne. Bald darauf, 1929, heirateten meine Eltern, und die ersten - allen Erzählungen zufolge glücklichen - Jahre begannen.
Wie für Millionen anderer Menschen sollte der Krieg auch ihre Welt auf drastische Weise auf den Kopf stellen. 1939 wurde mein Vater in die französische Armee eingezogen, obwohl er schon fast fünfzig war und an einem Emphysem litt. Seine schwache Gesundheit verbesserte sich nicht gerade, als er gezwungen wurde, in einer spartanischen Baracke außerhalb von Paris zu leben. Mein Leben schien davon unbeeinflusst gewesen zu sein. Meine Eltern vermochten vieles von dem, was geschah, vor mir zu verbergen, und was sie nicht verbergen konnten, oft in ein Spiel zu verwandeln. Um mich von seinem Weggehen und dem Bruch in unserem Leben abzulenken, ließ mir mein Vater ein Kindermodell seiner Uniform anfertigen, allerdings mit zahlreiche Medaillen geschmückt. Stolz berichtete ich da­rüber in meinen Briefen an Gide, der zu diesem Zeitpunkt einer der engsten Freunde meines Vaters war. Später, als mein Vater während der ersten deutschen Luftangriffe wieder nach Paris zurückgekehrt war, durfte ich ihn als "Luftschutzwartassistenten" vertreten. Ich erinnere mich, dass ich bei den Bombardements wie bei einem aufregenden Abenteuer in unseren Keller flitzte und die wirkliche Gefahr gar nicht erfasste. Meine Eltern zogen sogar die Feier meines fünften Geburtstags um einen Tag auf den 13. Juni vor - der Tag vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Paris.
Bis heute bin ich verblüfft darüber, wie es ihnen gelungen war, ihre Ängste und Sorgen so vollständig vor mir zu verbergen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass ich meine Empfindungen verleugnete, da die Briefe meines Vaters regelmäßig davon berichten, dass ich in all diesen schwierigen Jahren im Hintergrund glücklich und zufrieden spielte, sogar in der Zeit, die für meine Eltern die erschütterndste Erfahrung gewesen sein musste: die Flucht vor den Nazis.
Mein Vater ahnte zweifellos, was passiert wäre, wenn wir in Frankreich geblieben wären. Er wusste von den KZs und musste von den systematischen Ermordungen, die bereits in Osteuropa durchgeführt wurden, gehört haben. Über anderthalb Millionen Juden waren von der deutschen Armee sofort getötet worden, noch bevor die Vernichtungslager errichtet worden waren. Mein Vater war sich auch des wachsenden französischen Antisemitismus und Fremdenhasses bewusst, der zunächst von der rechten Presse und später von der Vichy-Regierung selbst geschürt wurde. Wir waren typische assimilierte Juden, die jede Religion ablehnten und weder jüdischen Riten noch Bräuche ausübten. In Russland galten Rabbiner in den Augen zahlreicher jüdischer Intellektueller als Verbreiter von Aberglauben und Irrationalität. Natürlich waren sich meine Eltern ihrer Wurzeln bewusst, doch, wie unzählige andere, wurden sie erst unter Hitler zu Juden.
Kurz nachdem die Deutschen an meinem Geburtstag in Paris eingezogen waren, beschlagnahmten sie unsere Wohnung, und wir mussten Paris verlassen. Unsere Begegnungen mit deutschen Soldaten verliefen selbst in der Normandie, wo wir zunächst Unterschlupf fanden, für mich recht angenehm. Ich erinnere mich an die freundlichen jungen Soldaten, die in diesen frühen Monaten die strengen Anweisungen hatten, sich unter die lokale Bevölkerung zu mischen. Höfliches Benehmen, sogar Flirten mit meiner Mutter, bedeutete keine große Anstrengung. Lächeln und schöne Worte gab es am Anfang zur Genüge.
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich beunruhigt gewesen wäre, bevor wir Vorbereitungen trafen, den von den Deutschen besetzten Norden zu verlassen und in den fälschlicherweise "Freie Zone" genannte Süden zu gehen, der offiziell unter der Kontrolle der kollaborierenden Vichy-Regierung stand. Wir besaßen gefälschte Papiere, und ich musste mir meinen neuen Namen einprägen. Ich erinnere mich, wie ich im dunklen Toiletten­häuschen am Grenzposten saß, ihn mir unablässig selbst aufsagte, doch am Ende wurde ich nie danach gefragt.
Im Süden angelangt, bezogen wir in St. Tropez eine Wohnung, die meine Eltern für die Winterferien im Turm des Chateau Suffren gemietet hatten. Mein Vater und meine Mutter bemühten sich auch weiterhin, mich abzulenken, und so kam es zu einem zweiten Ereignis, das mir, wie ich mich erinnere, wirklich Angst einjagte: Wir besuchten das Kino, um den neusten Disney-Film, Dumbo, zu sehen - offenbar liefen in Vichy-Frankreich noch immer amerikanische Filme. Die Geschichte, in der es wie in den meisten Disney-Filmen um Kinder geht, die von ihren Eltern getrennt werden, versetzte mir einen regelrechten Schock. Meine Eltern machten in der Zwischenzeit bessere Erfahrungen mit der amerikanischen Populärkultur. Der Roman Vom Winde verweht war gerade in französischer Übersetzung erschienen, und er dürfte die beste Fluchtlektüre gewesen sein, in beiden Bedeutungen des Wortes. Hatte mein Vater eine Seite gelesen, so riss er sie heraus und reichte sie meiner Mutter weiter.
Solange wir auf die Visa warteten, blieben wir in St. Tropez. Das hübsche, kleine Dorf war damals noch unberührt, frei von dem prahlerischen Imponiergehabe der Nach-Bardot-Jahre. Heute ist der Hafen zu klein geworden für all die Yachten, die dort anlegen wollen. Obwohl meine Eltern unter unendlichem Stress und Druck standen, besitze ich nur angenehme Erinnerungen an diese Zeit. Ich erinnere mich an meine Aufregung beim Anblick der Pferde der französischen Kavallerie, die in den Ställen des Chateaus einquartiert wurden. Das Chateau gibt es noch immer. Ich habe es im Laufe der Jahre mehrmals besucht. Einmal besuchte ich sogar unsere damalige Wohnung und genoss wieder den weiten Blick auf das unendliche Mittelmeer, der sich von unseren Fenstern aus bot. Und obwohl wir im Winter 1940 Hunger litten, erinnere ich mich an die idyllischen Spaziergänge auf den von Mimosen gesäumten Pfaden, wo mir ein einheimischer Junge beibrachte, auf Pinien zu klettern, um die Zapfen zu pflücken, deren kostbare Nüsse man essen konnte. Die Bilder dieser so herrlich duftenden Wälder haben sich mir eingeprägt, und auch der Duft der Mimosen, der sich mit den warmen, üppigen Gerüchen des von Piniennadeln bedeckten Bodens vermengte.

Teil 3