Vorgeblättert

Leseprobe zu Andrzej Stasiuk: Hinter der Blechwand. Teil 2

05.09.2011.
Er fuhr langsamer, als würde seine Erinnerung ihn bremsen. Er betrachtete den staubigen Platz, die Stände, die im Sand steckenden Autos, aber wahrscheinlich sah er das alles gar nicht. Von der Ebene her kam Wind auf, der immer stärker wurde. Aus dem Dorf tönten Glocken. Die Mönche waren verstummt. Die rote Sonne rollte nach Westen. Die Schatten waren schon lang und schwarz. Ich roch Holzrauch und Dung. Und da sah ich sie.
     Riesig, schwarz kam sie daher, hinter ihr die Jungen. Die anderen Leute sahen sie auch und erstarrten, dann wichen sie langsam zurück. Eine so große hatte ich noch nie gesehen. Den Rüssel an der Erde, trabte sie und schnüffelte. Manchmal blieb sie stehen, hob den Schädel und sog den Wind ein wie ein Jagdhund. Sie hatte sechs Frischlinge bei sich. Die Frischlinge liefen ein Stück weg und dann wieder zusammen, die Rüssel an der Erde, lebhaft und fett. Sie trippelten auf den Platz mit dem chinesischen Kram. Die Alte hielt sich an den Hauptdurchgang zwischen den Ständen. Ihre Jungen, nicht größer als normale Hunde, verhielten sich wie Kinder - sie probierten aus, wieviel sie sich erlauben konnten. Die Muttersau quiekte, und anscheinend durften sie sich bis auf Hörweite dieses Quiekens entfernen. Sie schnüffelten an den Stapeln der Klamotten, steckten die Schnauzen in die Stöße der Jeans und Jacken. Mit ihren hohen Kinderstimmen quiekten und grunzten sie. Die
Leute mit dem Plunder standen reglos da und wurden immer wachsamer. Es waren drei Typen und eine Frau. Eher Vietna- mesen als Chinesen. Wer kann sie schon unterscheiden. Aber früher habe ich die einen wie die anderen öfter gesehen, und die Vietnamesen hatten feiner geschnittene Gesichter. Jeden- falls waren sie den Weißen ähnlicher als die Chinesen. Aber ich kann mich täuschen. Sie standen da und schauten. Sie waren nach Westen gekommen, an den Rand der Großen Ungarischen Tiefebene, aus dem Osten, genau wie die Ungarn vor tausend Jahren. Die damals brauchten Gras für ihre Pferde, und die heute Absatzmärkte für chinesische - mit Verlaub - Konfektion. Eines der Frischlinge zog mit der Schnauze eine Jacke aus einem Stapel und schleifte sie über die Erde. Sein Bruder oder seine Schwester schloß sich dem Spiel sofort an. Aus dreißig Metern Entfernung hörte ich das Geräusch von reißendem Stof. Da stürzte einer der Händler zu den Tieren hin, erwischte die Schweinegeschwister und begann Fußtritte auszuteilen. Er trug eine blaugraue Jacke, die gleiche wie die soeben malträtierte, Jeans und weiße Sportschuhe. Die Frischlinge brachen in Klagen aus. Das hohe, scharfe Quieken tönte über den Platz. Da setzte die Mutter sich in Bewegung. Ich sah sie aus dem Augenwinkel. Sie stieß zwei oder drei Schaulustige zur Seite und kam in Fahrt wie eine warm gewordene Maschine. Je näher sie dem Ziel kam, desto größere Sätze machte sie. Schließlich stieß sie sich von der Erde ab und fegte den Vietnamesen um. Ein paar Meter weiter fielen sie beide zu Boden. Der Mann unter ihrem riesigen schwarzen Körper regte sich nicht mehr. Er war verschwunden. Ich sah nur noch die weißen chinesischen Adidas. Sie strampelten ein paarmal, wirbelten mit den Fersen den Sand auf und erstarrten. Die Muttersau hatte ihn in die Erde getreten und ihm die Kehle zerrissen. Jetzt schlabberte und schmatzte sie. Die Frischlinge liefen zusammen und umringten sie in dichtem Kreis. Man sah nicht einmal mehr die Adidas. Auch wir Zuschauer bildeten einen Kreis, der langsam enger wurde. Die Tiere schmatzten, es schlabberte weich und warm, und plötzlich begann eine der Frauen zu heulen, mit einer Stimme, wie sie hier noch nie einer gehört hatte. Die Fäuste auf die Ohren gepreßt, setzte sie sich in Bewegung, ging auf die Schweinefamilie zu, und ihre Stimme schraubte sich höher und höher, eine Stimme, von der man sagt, sie lasse Glas zerspringen.
     Die Muttersau hob die verschmierte Schnauze. Die Frau ging immer noch auf die Schweine zu und jaulte. Das Tier entfernte sich zwei Schritte von dem Mann und betrachtete sie. Es zog sich zurück, spannte den Körper an, und man konnte sehen, daß es sich vor nichts fürchtete. Und wir waren vor Angst alle wie gelähmt. Wir wünschten uns, die Sau möge ihre Tätigkeit fortsetzen und aufhören, sich nach uns umzuschauen. Zwanzig, vielleicht dreißig Händler und fast ebenso viele Frauen dachten: Friß dieses Schlitzauge, und laß uns in Ruhe.
     Aber sie konnte sich nicht entschließen. Sie blickte auf die zierliche Frau mit den Fäusten an den Schläfen und trabte ein Stück zurück, als wollte sie wieder zum Sprung ansetzen. Schließlich setzte sie sich in Bewegung und begann zu be- schleunigen, als würde sie einen Lehrsatz der Kinetik illustrieren. Wir alle standen fünfzehn Meter weiter. Da ertönte ein Pfeifen. Lang, schrill, durchdringend, als würde einem jemand einen Faden durch beide Ohren ziehen. Sie grub die Klauen in den Sand und blieb stehen. Es war dieser Wichtigste, der pfiff, der, mit dem Wladek sich geeinigt hatte. Das Tier wandte den Kopf ab, schaute noch einmal die Frau an, machte dann kehrt und ging zurück, dahin, woher es gekommen war.
     Der Mann stand nicht weit entfernt, in seinem schwarzen Anzug und Hut. Mit dem Blick folgte er der Schweinefamilie. Er schirmte mit der Hand die Augen ab und schaute gegen die Sonne in die Tiefe der Ebene.
 
Wir redeten nicht. Ich fuhr, so schnell ich konnte. Wir waren sofort aufgebrochen. Aus Angst vor den Bullen. Wir wollten keine Verhöre. Ich hielt mich mit dem linken Rad an die Mittellinie. Man konnte es als Flucht bezeichnen. Manche standen sicher noch da und starrten in die Dunkelheit. In Nyiregyhaza kamen wir vom Weg ab, aber Wladek brummte, wir sollten nicht umkehren und suchen, wir würden auch so hinkommen, es würde nur etwas länger dauern. Die Straße wurde schmaler. Fast alle Wegweiser begannen mit "Tisza": Tiszadies, Tiszajenes. Durch das halboffene Fenster drang schwüle Luft. Es roch nach Sumpf. Man spürte den Fluß. Wir fuhren über eine Brücke. Hier begann Tokaj, aber wir mieden das Zentrum. Überall standen schwarz gestrichene Fässer, überall hingen Schilder und Reklame: bor, vine, Wein, vigne, wino und so weiter, sogar japanisch und arabisch - warum auch nicht. In Gärten saßen Leute unter Schirmen. Ich sah, wie sie die Gläser hoben. Sechzig Kilometer weiter hatte ein Wildschwein einem Menschen die Kehle zerrissen, und sie saßen da und tranken Weißwein. Überall an den Böschungen standen Reisebusse und Autos. Wir fuhren auf einen Viadukt. Unten rauschte die Autobahn. Aber gleich war alles vorbei. Der Lärm, die Bewegung, die Lichter. Die Straße wurde uneben. Der Himmel war noch einen Ton heller als die Nacht, die Umrisse der Berge zeichneten sich ab. Wir kamen an einem Dorf vorbei. Ein paar Lichter leuchteten im Dunkeln gelb auf und erloschen wieder. Ich schaltete das Fernlicht ein. Der Weg schraubte sich in sanften Kurven den Wald hoch. Ich legte den dritten Gang ein und schielte auf die Temperaturanzeige.
     "Hier sind wir noch nicht gefahren", sagte ich.
     "Nein. Aber das macht nichts", erwiderte er. "Zwanzig Kilometer durch die Berge, dann wird?s fach, und dann kommt schon die Slowakei."
     Er steckte sich eine Zigarette an und grif ins Handschuhfach. Die Serpentinen begannen, ich mußte den zweiten Gang einlegen. Am Rande der Landstraße erlosch ein Feuer.
     "Sicher Holzfäller", sagte er. Er trank sein Gläschen aus, drehte die Flasche zu und legte sie zurück. "So etwas hab ich noch nie gesehen."
     "Was?"
     "Daß ein Schwein einen Menschen tötet. Das war ein Mangalica-Schwein."
     "Wie?" fragte ich, weil ich nicht sicher war.
     "Mangalica. Ein Wollschwein. Das ist eine bestimmte Rasse. Die haben eine dicke Speckschicht. Man läßt sie oft frei laufen, sie können allein weiden. Sie gehen hin, wo sie wollen, in ganzen Herden. Ich habe einmal auf dem Dorf in Ungarn gewohnt. Sie sind direkt bis ans Fenster gekommen, haben rumgewühlt, nach Fressen gesucht, aber niemandem etwas getan. Große Ohren hatten sie. Wie Elefanten."
     "Was hast du denn auf dem Land in Ungarn verkauft?"
     "Nichts. Ich hab da nur gewohnt. In Rumänien habe ich österreichischen Kaffee verkauft. Das erzähl ich dir mal. Ich muß immer noch an dieses Mutterschwein denken. Ich werde nicht schlafen können."
     Vor Mitternacht waren wir zu Hause. Die Süßigkeiten hatten wir vergessen. Er holte den Plastiksack heraus, betrachtete ihn im Licht der Laterne und schüttelte den Kopf. Ich sah zu, wie er leicht gebeugt auf dem leeren Bürgersteig ging. Seiner Bestimmung entgegen und einer schlafosen Nacht in der Wohnung im vierten Stock.

zu Teil 3