Vorgeblättert

Leseprobe zu Angelika Klüssendorf: April. Teil 1

30.01.2014.
1

Die junge Frau klingelt an der Wohnungstür im Erdgeschoss. Auf dem Schild steht in verschnörkelter Schrift: Frl. Jungnickel. Ein Vogel zwitschert, zwei kurze Triller, dann ist es wieder still. Der Mann neben ihr räuspert sich, auch er drückt den Klingelknopf, ungeduldig und länger anhaltend. Diesmal sind Schritte zu hören, das vergitterte Türfenster wird geöffnet, eine Alte schaut heraus, regungslos, nur ihr eines Lid zittert. Nach einer Weile scheint sie zu begreifen, was ihr der Mann von der Jugendhilfe mitteilt. Die junge Frau und der Mann müssen sich ausweisen, dann dürfen sie eintreten. Sie folgen der Alten durch den Flur in ein schlauchartiges Zimmer. Die junge Frau sieht sich um, ein eisiger Luftzug streift ihr Gesicht, das Fenster muss undicht sein. Hier wird sie die nächsten Monate, vielleicht auch Jahre verbringen. Sie ist gerade achtzehn geworden, das Zimmer hat sie von der Jugendhilfe zugewiesen bekommen, genau wie die Stelle als Bürohilfskraft im Starkstromanlagenbau.
     Sie gehen mit der Alten in die Küche. Noch nie hat sie eine so finstere Küche gesehen, selbst der Mann schaut erstaunt. Der Fußboden ist pechschwarz gefliest, die Wände sind mit einer dunklen, glänzenden Ölfarbe überzogen, der Küchenschrank und sogar das Waschbecken mit schwarzem Linoleum ausgeschlagen.
     Ist wegen dem Dest, sagt die Alte mit breiter sächsischer Aussprache. Sie hört das Wort zum ersten Mal und fragt: Was ist Dest? Sie kann den Erklärungen nicht ganz folgen, glaubt aber zu verstehen, dass Dest Dreck bedeutet, und wirklich, die Küche ist von makelloser Sauberkeit, kein Stäubchen weit und breit.
     Der Mann verabschiedet sich, wünscht der jungen Frau viel Glück für ihr weiteres Leben, als wäre es ein Würfelspiel.
     Fräulein Jungnickel, eine hagere Frau um die siebzig, verschwindet in ihrem Zimmer und lässt die Tür einen Spaltbreit offen. Nun kann sie das Gezwitscher deutlich hören, dazu die Stimme der Alten im Zwiegespräch mit dem Vogel.
     Nachmittags werden die Möbel geliefert, die sie sich bei einer Haushaltsauflösung aussuchen durfte, ein Sofa, zwei Sessel, eine alte Vitrine, dazu Töpfe, Geschirr, Decken.
     Die letzten Jahre hat sie in Heimen verbracht, mit hundert Mark und der Zuweisung für die Wohnung wurde sie ins Erwachsenenleben entlassen. Den Namen April hat sie sich selbst gegeben. April besitzt einen Koffer, in dem sich ihre spärlichen Habseligkeiten befinden, ihn hievt sie auf den Ofen. Sie wird sich Kohlen besorgen müssen, der halbe Winter liegt noch vor ihr. Es ist Samstagmittag, sie geht in die Kaufhalle, kauft Brot und einen großen Vorrat Tütensuppen. Auf dem Rückweg versucht sie sich einzuprägen, vor welchen Häusern die Kohlehaufen auf dem Bürgersteig liegen.
     Als sie sich in der Küche eine Tütensuppe kochen will, kommt Fräulein Jungnickel herein und bleibt mit verschränkten Armen vor ihr stehen. Das Fräulein steht wortlos da und beobachtet April. Sobald Wassertropfen auf das schwarze Linoleum treffen, nimmt sie einen gefalteten Lappen und wischt die Tropfen weg, dann stellt sie sich wieder vor ihr auf - so geht das eine ganze Weile: Sie rührt im Topf, ein Krümel, ein Tröpfchen fliegt durch die Luft, die Alte stürzt sich darauf wie ein Habicht auf seine Beute. April weiß, dass sie mit der alten Schachtel auskommen muss, also lächelt sie wie über einen kleinen Scherz.
     Sie macht sich ihr Lager auf dem Sofa zurecht, wickelt sich fest in die Decke. Während sie zu lesen versucht, hört sie eine Uhr schlagen. Beim zehnten Gong wird ihre Tür geöffnet, das Fräulein kommt herein und knipst wortlos das Deckenlicht aus. April liegt auf dem Rücken und schaut in die Dunkelheit. Aus dem oberen Stockwerk ist ein lang anhaltendes Klopfen zu hören, das sich hinter ihrer Stirn fortsetzt. Als das Geräusch verstummt, kommt es ihr sehr still vor in dem Zimmer.
     Am Morgen wird sie früh wach und nimmt zuerst die hässliche Tapete wahr, dann ihre vor Kälte tauben Füße. Sie stopft die Decke vor das undichte Fenster, dreht in der Küche den Gasherd auf und wärmt sich an den Flammen. Als sie den Vogel hört, es klingt wie ein Wehklagen, zieht sie sich an und verlässt die Wohnung. Das harte Morgenlicht fällt auf menschenleere Straßen, verrußte Schneewehen türmen sich auf den Bordsteinen, es riecht nach Abgasen, Kohlenstaub und Schwefel. Ziellos wandert sie umher, ihre Schritte knirschen im Schnee. Die Geschäfte sehen aus wie lange schon verlassen, und in den Schaufenstern liegt der übliche bleierne Kram. April überlegt, was sie sich von ihrem ersten Lohn kaufen wird; ein Plattenspieler müsste auf jeden Fall drin sein: Wie oft hat sie sich das vorgestellt, ein eigenes Zimmer und Musik von Janis Joplin. Sie ist stolz auf diese LP, die sie gegen eine LP von Biermann eingetauscht hat, für den Biermann war zuvor der gesamte Shakespeare über den Tisch gegangen, eine prachtvolle Werkausgabe mit grünem Lederrücken.
     Sie bekommt das Fräulein den ganzen Tag nicht zu Gesicht, selbst die Tütensuppe kann sie ungestört kochen, doch die Zwiegespräche mit dem Vogel hört sie bis in die Abendstunden. Diesmal knipst April das Licht vor dem zehnten Gong selbst aus, erleichtert, dass der Sonntag zu Ende geht.
     Sie wacht auf, bevor der Wecker klingelt, geht leise auf die Toilette, putzt sich die Zähne über dem Waschbecken. Sie will ordentlich aussehen, und das bedeutet, dass sie nicht ihre Lieblingsklamotten tragen kann, eine geflickte Levi's und ihren Nicki aus dem Westen, mit der USA-Flagge bedruckt.
     Es ist noch dunkel, als sie im Stadtzentrum aus der Straßenbahn steigt. Sie mischt sich unter die Menschen, die auf einen großen Flachbau zulaufen, »VEB Kombinat Starkstromanlagenbau Leipzig - alle« steht in Leuchtschrift über der Eingangstür. Eigentlich sollte es »Halle« heißen, aber der Buchstabe H ist nicht erleuchtet. Aus irgendeinem Grund freut sie das, genau genommen hat sie wenig Lust auf ihre neue Arbeit. Doch was hätte sie sonst für Möglichkeiten? Außer dem Abschluss der zehnten Klasse und einer abgebrochenen Lehre in der LPG hat sie nichts vorzuweisen.
     Der Pförtner bringt sie zu ihrem Arbeitsplatz. In den Gängen hängt der Geruch nach Desinfektionsmittel. Als sie den Raum betritt, blicken alle auf, an der Stirnseite des großen Tisches erhebt sich eine Frau in mittleren Jahren, die sich als ihre Büroleiterin vorstellt. Mit der Geste einer Gastgeberin weist sie ihr den Fensterplatz zu. April zählt sieben weitere Personen, die sie neugierig anstarren. Die Büroleiterin macht sie mit den anderen Kollegen bekannt, doch die Namen dringen kaum in ihr Bewusstsein. Die Frau zu ihrer Linken beginnt sogleich einen Vortrag über ihre Aufgaben: Es geht darum, Kabel an die Betriebe zu verteilen; für jede Zuteilung muss sie einen Vordruck ausfüllen und sich bei der Kabelvergabe an die Bezifferung von eins bis zehn halten, eins bezeichnet Regierungsvorhaben, die vorrangig zu behandeln sind. Die Frau hat eine feuchte Aussprache, April bemüht sich, die Spritzer unauffällig aus ihrem Gesicht zu wischen. Ein Mann mit dünnem, quer über den Schädel gekämmtem Haar zieht seinen Bleistift immer wieder hart am Lineal entlang; er ist der einzige Mann in diesem Raum. Schon nach einer Stunde muss April ihre ganze Willenskraft aufbieten, um nicht am Tisch einzuschlafen. Sie versucht, die Vordrucke mit ihrer besten Schrift auszufüllen. Während der Frühstückspause kauft sie im Kombinatskiosk Kaffee, eine Bockwurst und mehrere Brötchen. Es schüchtert sie ein, dass ihr alle beim Essen zusehen, sie meint, in den Blicken ihrer neuen Kollegen eine gutmütige Überlegenheit wahrzunehmen, und am liebsten möchte sie ihnen sagen: Ich werde hier niemals so alt werden wie ihr.

Von ihrem ersten Lohn, 320 Mark, kauft sie sich einen Plattenspieler und eine alte Ausgabe der Märchen der Gebrüder Grimm mit schönen Illustrationen. Wenn sie »Das kluge Gretel«, ihr Lieblingsmärchen, liest, fühlt sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt, als sie zur Strafe in den Keller gesperrt wurde und sich mit diesem Märchen den Hunger vertrieb. Sie liest die Märchen mit dem Gefühl, davongekommen zu sein, vorerst.
     Für den restlichen Monat bleiben ihr schlappe 28 Mark. Doch es gibt auch andere Möglichkeiten, um über die Runden zu kommen. Sie klaut bei jeder Gelegenheit; schon im Kinderheim war sie die geschickteste Diebin, einmal hat sie sogar vor den Augen der Verkäuferin zehn Schokoladentafeln mitgehen lassen.
     Bevor sie frühmorgens zur Arbeit geht, legt sie die Platte auf, setzt immer wieder die Nadel zurück, um den einen Titel zu hören: »Summertime« von Janis Joplin, ihr Lieblingslied in diesem Winter.
     Mit dem Fräulein versucht sie auszukommen, obwohl sie sich längst nicht mehr alles gefallen lässt. Knipst die Alte abends ihr Licht aus, macht April es wieder an, das Gekeife überhört sie, schaltet auf Durchzug, darauf versteht sie sich.
     Sie hat sich Kohlen besorgt und versäumt, ihre Miete zu bezahlen. Sie ernährt sich von Tütensuppen und dem Frühstück aus dem Kombinatskiosk. Während der Arbeit versinkt sie in Tagträumen, in denen sie interessante Menschen kennenlernt. Abends in ihrem Zimmer schreibt sie lange Briefe an einen unbekannten Geliebten, dem sie sich in wechselnden Rollen vorstellt, mal als Studentin der Tiermedizin, mal als Schauspielerin oder einfach nur als Abenteuerin.
     An einem besonders frostigen Tag legt sie bis in den späten Abend Kohlen nach. Als sie nachts von einem Hustenanfall aufwacht, ist das ganze Zimmer verqualmt. Verschlafen macht sie Licht und entdeckt auf dem Ofen ihren schwelenden Koffer. Noch im Halbschlaf reißt sie das Fenster auf, schleppt den Koffer in den Flur, lässt ihn benommen auf den Dielenbrettern stehen, taumelt ins Bett zurück und schläft sofort wieder ein. Sie wird abermals geweckt, diesmal von einem ohrenbetäubenden Krachen, und als sie die Tür öffnet, kommen ihr aus den Rauchschwaden zwei Feuerwehrmänner entgegen. Fräulein Jungnickel irrt, nur mit einem Nachthemd bekleidet, durch den Flur, einer der Männer versucht sie zu beruhigen, und der Vogel krächzt gotterbärmlich um sein Leben. Die Männer tragen den Koffer raus, spritzen den Boden ab, einer ruft: Wie kann man nur so bescheuert sein.
     Mit dem Koffer verliert April alles, was sie an die Vergangenheit bindet: Briefe, Tagebücher, Dinge, die sich im Laufe ihres Lebens angesammelt haben. Als es wieder still ist, kann sie lange nicht einschlafen. Vielleicht war der Brand ein Zeichen, ein Zeichen für einen Neuanfang, doch sie hat keine Ahnung, wie der aussehen soll.
     Seit diesem Vorfall lässt Fräulein Jungnickel sie nicht mehr aus den Augen. Die Alte betritt ihr Zimmer, wann es ihr passt, kommentiert in sächsischem Singsang jedes Stäubchen, folgt ihr sogar zur Toilette und wartet vor der Tür. Sie beschwert sich bei ihrem Vogel lautstark über sie, und immer wieder fällt das Wort Dest.

Freunde aus ihrer alten Clique statten April einen Einweihungsbesuch ab. Sie kommen aus den Dörfern, aus der Pampa angereist, zu ihr, die jetzt in der Stadt wohnt. Während ihrer Lehre hat sie die gesamte Freizeit mit ihnen verbracht, ist mit ihnen auf dem Motorradrücksitz durch die Gegend gerast, immer auf der Suche nach neuen Vergnügungen: nach Brünn zum Autorennen, Ziegenkäse essen, Schwarzbier trinken; im März das erste Anbaden in der Ostsee; einmal haben sie sogar in einer Kirche übernachtet.
     Schwarze Paul hat zwei Kisten Bier dabei, er ist Schafscherer, mit seinen mächtigen Oberarmen könnte er fünf von ihrer Sorte tragen. Er begrüßt sie, als hätte er sich gestern erst von ihr verabschiedet, na, Rippchen, sagt er, ganz schön kalt in deiner Bude. Er zeigt ihr einen blauen Fleck von einem Schafshuf auf seiner Hand, das Drecksvieh, sagt er, beinahe hätte ich es erwürgt.
     Sie mag ihren Spitznamen, Rippchen klingt tröstlich; früher hatten die Jungs noch ganz andere Namen für sie: Gerippe, Speiche, Hungerhaken.
     Dann kommt Sputnik, benannt nach einem der zahlreichen sowjetischen Satelliten, nur sie konnte sich in der Schule im Langstreckenlauf mit ihr messen. Sputnik begutachtet skeptisch ihr Zimmer, spießige Tapete, sagt sie, und wer ist die Alte da draußen?
     Die Alte war nie jung, sagt April, ist schon alt geboren, und mit ihrem Reinlichkeitsfimmel würde sie mir sogar die Nase putzen, wenn ich nicht aufpasse. Sie erzählt, wie Fräulein Jungnickel sie überwacht - schnell sind sich alle einig: Das alte Fräulein ist verrückt.
     Das kannst du dir nicht gefallen lassen, sagt Schwarze Paul, und sein leichter Silberblick verrutscht bedrohlich.
     Am späten Nachmittag ist die ganze Bande in ihrem Zimmer versammelt. Sie trinken, rauchen, reden wie Veteranen von alten Zeiten, Mücke parodiert Walter Ulbricht, sie singen Schlager aus den Sechzigern. Mücke ist noch dünner als sie, seine Gesichtszüge sind scharf geschnitten wie die einer Marionette. April hat ihn nie über seine Krankheit sprechen hören, doch laut Sputnik ist er ein Todeskandidat. Abends fahren sie mit dem Bus in die »Riviera«, eine Dorfdisco, und reihen sich geduldig in die Schlange ein. Als der pockennarbige Türsteher sie endlich durchwinkt, sind die besten Plätze am Kachelofen bereits besetzt. Sie wärmen sich mit der Ampel auf, einer Likörmischung aus Pfeffi, Apricot und Kirsch; Mücke schmeißt eine Runde nach der anderen. April bahnt sich einen Weg durch den überfüllten Saal, die Stimmung brodelt, aufgedreht springt sie umher und schafft es, auf die Bühne zu klettern, um sich beim Discjockey »April« von Deep Purple zu wünschen. Im Morgengrauen hat sie überhaupt keine Lust, nach Hause zu fahren, sie will nicht aufhören zu tanzen, aber noch während »Je t'aime« läuft, geht die grelle Festbeleuchtung im Saal an. Sie hat mit Frieder getanzt, eng an ihn geschmiegt, und als die Musik verstummt, verharrt sie regungslos, wie ein Standbild, sie schließt die Augen und erwidert Frieders Küsse.

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