Vorgeblättert

Leseprobe zu Anne Enright: Das Familientreffen, Teil 2

Meine Mutter setzt den Deckel auf die Teekanne und sieht mich an.
Ich zittere haltlos von der Hüfte bis zu den Knien. In meinen Eingeweiden breitet sich eine furchtbare Hitze aus, mein Körper erschlafft, ich möchte nur noch die Fäuste zwischen den Schenkeln vergraben. Eine Empfindung, die mich verstört - irgendetwas zwischen Durchfall und Sex -, diese Trauer, die fast schon etwas Geschlechtliches hat.
Es muss wegen irgendeines Exfreundes gewesen sein, als ich das letzte Mal hier geweint habe. Gewöhnliche Tränen, Familientränen, bedeuteten in dieser Küche nichts, sie waren einfach Teil des ewig herrschenden Lärms. Es zählte nur eines: Er hat angerufen oder Er hat nicht angerufen. Irgendeine Katastrophe. Etwas, das einen nach fünf Flaschen Cider dazu brachte, mit den Fingernägeln an den Wänden entlangzukratzen. Er hat mich verlassen. Sich zusammenzukrümmen, die Arme um den Unterleib zu schlingen, zu heulen und zu würgen. Er ist nicht mal gekommen, um seinen Schal abzuholen. Der Junge mit den türkisfarbenen Augen.
Und dabei sind wir - so vermute ich - großartige Liebhaber, wir Hegartys. Tiefe Blicke, drauflosvögeln und nie wieder loslassen. Bis auf diejenigen, die überhaupt nicht lieben konnten. Wie, in gewisser Weise, die meisten von uns.
Die meisten von uns.
»Es ist wegen Liam«, sage ich.
»Liam?«, sagt sie. »Liam?«
Meine Mutter hatte zwölf Kinder und - wie sie mir eines düsteren Tages anvertraute - sieben Fehlgeburten. Die Lücken in ihrem Gedächtnis sind nicht ihre Schuld. Trotzdem, nichts davon habe ich ihr je verziehen. Ich kann es einfach nicht.
Ich habe ihr meine Schwester Margaret nicht verziehen, die wir Midge nannten, bis sie im Alter von zweiundvierzig Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Ich verzeihe ihr meine schöne Schwester Bea nicht, die sich immer nur treiben lässt. Ich verzeihe ihr meinen ältesten Bruder Ernest nicht, der Priester in Peru war, bis er ein vom Glauben abgefallener Priester in Peru wurde. Ich verzeihe ihr meinen Bruder Stevie nicht, der ein kleiner Engel im Himmel ist. Ich verzeihe ihr die ganze ermüdende Litanei nicht: Midge, Bea, Ernest, Stevie, Ita, Mossie, Liam, Veronica, Kitty, Alice und die Zwillinge Ivor und Jem.
So hochtrabende Namen hat sie uns nämlich verpasst - von wegen Jimmy, Joe oder Mick. Mag sein, dass die Fehlgeburten mit »1962« oder »1964« beziffert wurden, obwohl sie ihnen in ihrem Herzen vielleicht auch Namen gegeben hat (Serena, Aifric, Mogue). Diese toten Kinder verzeihe ich ihr nicht. Auch nicht, dass sie nicht einmal ein Notizbuch darüber führte, wer welche Krankheit hatte und wogegen geimpft wurde. Bin ich die einzige Frau in Irland, die noch immer der Gefahr ausgesetzt ist, an Kinderlähmung zu erkranken? Niemand weiß es. Ich verzeihe ihr die unzähligen aufgetragenen Kleidungsstücke nicht, die wenigen Spielsachen und die Dresche, die wir von Midge bezogen, weil meine Mutter zu sanftmütig oder zu beschäftigt oder zu geistesabwesend oder zu schwanger war, um sich selbst darum zu kümmern.
Meine allerliebste Mutter. Mein zeitloses Mädchen.
Nein, letzten Endes verzeihe ich ihr den Sex nicht. Die Stumpfsinnigkeit dieses ständigen Bumsens. Beine breit und Augen zu. Das hat Folgen, Mammy. Folgen.
»Liam«, sage ich ziemlich heftig. Und der Aufruhr in der Küche legt sich, als ich meiner Pflicht nachkomme, ihr von ihm zu berichten, einem Menschen von einem anderen, die wenigen sorgfältig ausgewählten Details darüber, wie Liam zu Tode gekommen ist.
»Ich fürchte, er ist tot, Mammy.«
»Oh«, sagt sie. Ich habe nichts anderes erwartet. Ich wusste genau, dass ihr dieser Laut entschlüpfen würde.
»Wo?«, fragt sie.
»In England, Mammy. Wo er gelebt hat. Man hat ihn in Brighton gefunden.«
»Was willst du damit sagen?«, fragt sie. »Was willst du damit sagen, ?in Brighton??«
»Brighton in England, Mammy. Eine Stadt in Südengland. In der Nähe von London.«
Und dann schlägt sie mich.
Ich glaube nicht, dass sie mich je zuvor geschlagen hat.
Später versuche ich mich noch einmal zu entsinnen, aber eigentlich bin ich fest davon überzeugt, dass sie das Schlagen anderen Leuten überlassen hat. Midge natürlich, die immerzu mit dem Wischmopp unterwegs war und uns im Vorübergehen eins mit dem Lappen überzog, ins Gesicht, in den Nacken oder hinten auf die Beine, und jedes Mal fand ich, dass der Gestank des Dings schlimmer war als der brennende Schmerz. Mossie, dem Psychopathen. Und dem bedächtigen Ernest, der mit der flachen Hand zuschlug. Je weiter unten man in der Hackordnung stand, desto mehr büßten die Schläge an Autorität und an Wucht ein - auch bei mir, ich selbst war ja auch einmal diejenige, die austeilte, an Alice und die Zwillinge Ivor-und-Jem.
Jetzt aber stützt meine Mutter eine Hand auf den Tisch, und mit der anderen holt sie aus und trifft mich an der Seite des Kopfes. Nicht sehr hart. Überhaupt nicht hart. Dann lässt sie ihren Arm zurückschwingen und greift nach der Theke, und dort erstarrt sie nun, zwischen Theke und Tisch, den Kopf tief zwischen die ausgestreckten Arme gesenkt. Eine Weile lang ist sie stumm, doch dann fließt ein entsetzlicher Laut aus ihr heraus. Ganz verhalten. Ein Laut, der sich aus ihrem Rücken zu lösen scheint. Sie hebt den Kopf und dreht sich zu mir um, sodass ich ihr Gesicht sehen kann; der Ausdruck, der sich jetzt darauf abzeichnet, zeugt von dem Wissen, dass nichts mehr so sein wird wie zuvor.
Sag?s bloß nicht Mammy. Das war das Mantra unserer Kindheitstage, oder wenigstens eines davon. Sag?s bloß nicht Mammy. Das kam besonders häufig von Midge, aber auch von allen anderen älteren Geschwistern. Wenn etwas zerbrochen oder verschüttet wurde, als Bea nicht nach Hause gekommen und Mossie auf den Dachboden gezogen war, wenn Liam Acid eingeworfen und Alice Sex gehabt hatte oder wenn Kitty eimerweise in ihre neue Schuluniform blutete, wenn es Anrufe gab wegen Verspätungen, Verkehrschaos, Problemen mit Bus- oder Taxigeld, und einmal - und das war eine wahre Katastrophe -, als Liam eine Nacht im Knast verbracht hatte. Keines dieser Geschehnisse wurde ihr preisgegeben, statt dessen: geflüsterte Beratungen in der Diele, Sag?s bloß nicht Mammy, denn »Mammy« würde - ja, was? Tot umfallen? »Mammy« würde sich Sorgen machen. Was ich ganz in Ordnung zu finden schien. Schließlich war sie ihr ureigenstes Werk, diese Familie. Wir alle waren - einer nach dem anderen und unter Schmerzen - aus ihr herausgepurzelt. Und mein Vater sagte es öfter als alle anderen, immer ruhig und ritterlich: »Das brauchst du deiner Mutter jetzt noch nicht zu sagen«, so als sei die Realität seines Bettes die einzige Realität, die zu ertragen man dieser Frau zumuten konnte.
Nachdem meine Mutter sich herübergebeugt und mich geschlagen hat, zum ersten Mal, sie siebzig, ich neununddreißig Jahre alt, schwillt mein Gehirn an, zerspringt fast von der Ungerechtigkeit all dessen. Ich glaube, ich werde einmal an Ungerechtigkeit sterben; ich glaube, das wird auf meinem Totenschein stehen, Angefangen damit, dass diese Pflicht mir übertragen wurde - weil ich die Umsichtige bin, natürlich. Ich habe ein Auto, kann meine Telefonrechnungen immer zahlen. Ich habe Töchter, die sich nicht darum streiten müssen, wer am nächsten Morgen die Unterwäsche der jeweils anderen zur Schule anzieht. Also bin ich diejenige, die zu Mammy fahren, an der Tür läuten und sich an ihren Küchentisch setzen muss, in einem zweckdienlichen Abstand, um mich schlagen zu lassen. Es ist ja nicht so, als wäre mir das alles in den Schoß gefallen - Ehemann, Auto, Telefonrechnung, Töchter. Deshalb bin ich so wütend auf jeden Einzelnen meiner Brüder und Schwestern, eingeschlossen Stevie, der schon lange tot ist, und Midge, die erst seit Kurzem tot ist, und schäume vor Wut auf Liam, weil auch der nun tot ist, und zwar gerade jetzt, da ich ihn am meisten brauche. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes außer mir. Ich bin so zornig, dass ich die Küche aus einer zweiten, aus einer Vogelperspektive wahrnehme. Von oben blicke ich hinab: auf mich, den nassen Ärmel aufgerollt, den nackten Unterarm flach auf dem Tisch, und auf meine Mutter auf der anderen Seite des Tisches, die wie gekreuzigt dasteht und deren Kopf von dem kleinen weißen Dreieck ihres entblößten Nackens herabhängt.
Dies ist der Ort, an dem Liam ist. Hier oben. Ich spüre seine Anwesenheit wie einen Schrei im Raum. Das ist es, was er sieht: meinen nackten Arm, unsere Mutter, die zwischen Tisch und Theke Flugzeug spielt. Tiefflieger.
»Mammy.«
Der Laut fließt noch immer aus ihr heraus. Ich hebe den Arm.
»Mammy.«
Sie hat keine Vorstellung davon, was alles für sie getan worden ist in den sechs Tagen seit dem ersten Anruf aus England. Das alles ist ihr erspart geblieben: Kitty, die durch ganz London gelaufen ist, und ich durch ganz Dublin, um zahnärztliche Befunde beizubringen, seine Körpergröße, seine Haarfarbe und die Tätowierung auf seiner rechten Schulter. Nichts von all dem ist ihr dann auch noch vorgelesen worden, so wie mir heute Morgen von der äußerst netten Polizistin, die plötzlich vor der Haustür stand. Denn ich bin diejenige, die ihn am meisten geliebt hat. Polizistinnen tun mir leid - immer haben sie es mit Verwandten, Prostituierten und Teetassen zu tun.
Jetzt trieft meiner Mutter Speichel von der Unterlippe, in Tropfen und Fäden. Ihr Mund klappt auf. Sie versucht, ihn zu schließen, aber ihre Lippen weigern sich, und sie sagt: »Gah. Gah.«
Ich muss zu ihr hinübergehen und sie berühren. Sie an den Schultern fassen, sanft aufrichten und wegführen. Ich werde ihre Arme wieder an ihren Körper pressen, während ich sie zum Tisch geleite und auf einen Stuhl drücke, und ich werde Zucker in ihren Tee tun, obwohl sie gar keinen Zucker nimmt. All dies werde ich tun aus Ehrerbietung vor einer Trauer, die biologisch, idiotisch, zeitlos ist.
Genauso würde sie um Ivor weinen, weniger um Mossie, mehr um Ernest und untröstlich, wie wir alle, um den wunderbaren Jem. Sie würde weinen, ganz gleich, was für ein Sohn er ihr gewesen ist. Mir kommt der Gedanke, dass die Rollen vertauscht sind, denn ich bin diejenige, die etwas Unersetzliches verloren hat. Sie hat noch im Überfluss.
Zwischen mir und Liam lagen elf Monate. Wir sind aus unserer Mutter herausgepurzelt, einander dicht auf den Fersen, einer nach dem anderen, es ging rasch wie ein Gangbang, rasch wie ein Seitensprung. Manchmal denke ich, dass wir uns da drinnen noch getroffen haben müssten, er ist nur früher aus ihr heraus, um draußen auf mich zu warten.
»Ist alles in Ordnung, Mammy? Möchtest du eine Tasse Tee?«
Sie beäugt mich, so winzig auf dem großen Stuhl. Ein gereizter Blick, ihr Kopf zuckt zur Seite. Und es kommt über mich wie ein Fluch. Wer bin ich, dass ich diesen Stoff zu berühren, zu betasten, auszurangieren wage, den Stoff der Mutterliebe?
Ich bin Veronica Hegarty. Stehe in meiner Schuluniform an der Spüle, vielleicht fünfzehn, sechzehn Jahre alt, weine um einen Exfreund und werde getröstet von einer Frau, die sich um nichts in der Welt an meinen Namen zu erinnern vermag. Ich bin Veronica Hegarty, neununddreißig, und häufe löffelweise Zucker in eine Tasse Tee für die reizendste Frau in ganz Dublin, die gerade eine schreckliche Nachricht erhalten hat.
»Ich gehe nur mal eben Mrs Cluny anrufen.«
»Anrufen?«, sagt sie. »Du willst sie anrufen?« Mrs Cluny wohnt gleich nebenan.
»Ja, Mammy«, und plötzlich erinnert sie sich, dass ihr Sohn tot ist. Sie blickt mich prüfend an, um herauszufinden, ob es tatsächlich wahr ist, und ich nicke und komme mir unaufrichtig dabei vor. Kein Wunder, dass sie mir nicht glaubt. Ich kann es ja selbst kaum glauben.


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