Vorgeblättert

Leseprobe zu Bogdan Musial: Stalins Beutezug. Teil 3

12.04.2010.
Der private Beutezug der Soldaten, Offiziere, NKWD-Angehörigen und Apparatschiks


Die Rote Armee war niemals eine disziplinierte und ritterliche Armee, die sich an die völkerrechtlichen Regeln gehalten und bemüht hätte, die Zivilbevölkerung zu schonen. Mit dem Überschreiten der sowjetischen Grenzen und insbesondere der deutschen Ostgrenze verwandelten sich die Truppen der Roten Armee jedoch geradezu in eine Angst und Schrecken verbreitende Soldateska. Soldaten und Offiziere plünderten und brandschatzten Schlösser, Landsitze, Städte und Dörfer, ermordeten Männer, Frauen und Kinder. Schätzungen zufolge fielen rund zwei Millionen deutsche Frauen Massenvergewaltigungen zum Opfer, wobei die Rotarmisten weder Mädchen noch Greisinnen verschonten. Schätzungen zufolge kamen in den deutschen Ostgebieten (östlich der Oder/Lausitzer Neiße) 75000 bis 100000 Menschen bei dieser sowjetischen Gewaltorgie ums Leben.(277)
     Manche Historiker erklären diese Ereignisse mit einem Befehl Stalins, dem es darum gegangen sei, die Bevölkerung der deutschen Ostgebiete in Angst und Schrecken zu versetzen, damit sie ihre Heimat in Panik und "freiwillig" verließ:

"Für Stalin hatte Gewalt nicht nur eine militärische, sondern auch eine politische Funktion. Wenn die sowjetische Führung 1944/45 gewalttätige Übergriffe von Angehörigen der Roten Armee auf die deutsche Zivilbevölkerung duldete, so lag dem eine von Stalin sanktionierte (aber bis heute nicht nachweisbare) mündliche oder schriftliche Entscheidung zugrunde. Individuelle Gewalt gegen deutsche Zivilisten, vor allem Frauen, sollte die Flucht der Deutschen aus den Gebieten beschleunigen, die zur Übergabe an die UdSSR bzw. Polen bestimmt waren."(278)

Solange sich jedoch keine konkreten Belege finden, bleibt unklar, ob diese Annahme den Fakten entspricht. Dagegen spricht unter anderem die Tatsache, dass die sowjetischen Soldaten auch in nichtdeutschen Gebieten plünderten, vergewaltigten und unbeteiligte Zivilisten töteten. Allerdings übertrafen sie sich in den deutschen Ostgebieten selbst. Für die Befehls-These spricht hingegen der Umstand, dass Stalin erst dann eingriff, als die sowjetischen Truppen die Oder-Lausitzer-Neiße-Linie überschritten hatten. In einem Befehl vom 20. April 1945 forderte Stalin die Soldaten und Offiziere auf, ihre Haltung gegenüber den deutschen Kriegsgefangenen wie auch gegenüber der deutschen Zivilbevölkerung zu ändern und deren grausame Behandlung zu beenden, denn dies erhärte nur den Widerstand. Zugleich ordnete Stalin an, in den Gebieten westlich der Oder-Lausitzer-Neiße-Linie eine deutsche Verwaltung einzurichten.(279) Nichtsdestotrotz kam es auch in den mitteldeutschen Gebieten noch zu zahllosen Übergriffen und massenhaften Vergewaltigungen, obwohl diese Vorfälle allmählich zurückgingen.(280)
     Das Vordringen der Roten Armee auf deutschen Boden begleiteten neben Gewalttaten und Brandschatzungen massive Plünderungen, begangen von Soldaten und Offizieren gleichermaßen. Die Fülle der plötzlich in greifbare Nähe gerückten Güter, die für die meisten Rotarmisten bislang überhaupt nicht oder nur schwer erreichbar gewesen waren, versetzte vielen einen regelrechten Kulturschock. Dabei handelte es sich keineswegs nur um Luxusgüter, sondern auch um Gebrauchsartikel des täglichen Bedarfs wie Uhren, Fahrräder, Kleidungsstücke, Schuhe, Genussmittel wie Zucker und Kaffee und vieles mehr. Und die Soldaten bedienten sich ohne Hemmungen.
     Einen Teil der erbeuteten Güter verschickten die Rotarmisten an ihre Familienangehörigen in der Heimat, und Stalin unterstützte diese Praxis. Bereits am 23. Dezember 1944 unterzeichnete er den GKO-Beschluss Nr.7192 über die Aufnahme und Versendung der Pakete von Rotarmisten. Soldaten und Unteroffiziere durften Sendungen bis zu 5kg, Offiziere bis zu 10kg und Generäle bis zu 16kg aufgeben, wobei Soldaten und Unteroffiziere keine Postgebühren, Offiziere und Generäle je 2 Rubel pro Kilogramm zu zahlen hatten. Um Aufnahme, Transport und Auslieferung der Postpakte zu bewältigen, wurden die bestehenden Militär­poststellen personell aufgestockt, vier gesonderte Postpaketbasen mit je 150 Mitarbeitern eingerichtet, zusätzliche Postzüge ­ein­gesetzt und fünf Schutzkompanien für den Transport der Pakete formiert. Für die Auslieferung der Sendungen an ihren Bestimmungsorten wurden auf Anweisung Stalins zusätzlich 66 Lastwagen abgestellt.(281)
     Zu diesem Zeitpunkt machten Soldaten und Offiziere der Roten Armee Beute im sowjetisch besetzten/'befreiten' Polen sowie in Rumänien und Ungarn, wo ebenfalls fleißig geplündert wurde. Im Januar 1945 nahm die Militärpost an allen Fronten etwa 300000 Postpakete von Rotarmisten zur Versendung in die Heimat an. Mit dem Überschreiten der deutschen Grenze schnellte diese Zahl in die Höhe, schliefllich gab es in Deutschland viel reichere Beute. Im Februar 1945 waren es schon 895000 und allein in der ersten Märzwoche 562000 Pakete. In die Heimat geschickt wurde alles Mögliche: Lebensmittel (Mehl, Speck, Gebäck, Zucker, Schokolade, geräucherte Wurst) und Gebrauchsartikel wie Seife, Parfüm, Damen-, Herren- und Kinderbekleidung, Unterwäsche, Schuhe, Handschuhe, Uhren, Tischdecken, Musikinstrumente, Tee- und Tafelgeschirr, Zahnbürsten, Kämme und Taschentücher.(282)
     Die Paketmenge wuchs derart, dass die Militärpost bald überfordert war. Stalin griff abermals ein. Am 9. März 1945 legte General Nikolai Bulganin Stalin einen Beschlussentwurf über die Frontpakete vor, wobei er deren große politische Bedeutung unterstrich. Einen Tag später unterzeichnete Stalin das Dokument als GKO-Beschluss Nr.7777. Danach hatten Soldaten und Offiziere Anspruch auf Zuteilung von 1kg Zucker oder Konditoreiprodukte und 200g Seife pro Mann und Monat aus den Beutebeständen, um sie in die Heimat zu schicken. Hinzu kamen "drei bis fünf" Gebrauchsartikel pro Monat.(283)
     Um die Aufnahme, den Transport und die Auslieferung der Pakete zu beschleunigen, sollte das Netz der Frontpoststellen weiter ausgebaut und das Personal aufgestockt werden. Bei jeder Front war zur zügigen Abwicklung des Pakettransports von den Frontpoststellen eine Autokompanie mit 50 Wagen aufzustellen, außerdem sollten zusätzliche Paketzüge (je 15 geschlossene Güterwaggons mit je einem Passagierwagen für das Bewachungspersonal) organisiert werden, je zwei für die 1., 2. und 3 Weißrussische sowie die 4. Ukrainische Front und je einer für die 1., 2. und 3. Ukrainische Front. In der Sowjetunion sollten drei große Umschlagbasen für die Frontpakete eingerichtet werden, in Lemberg und Brest mit je 150 und in Fokschan (Rumänien) mit 300 Beschäftigen. Zur Bewachung der Pakettransporte sollten neun Kompanien mit je 150 Mann aufgestellt werden. Der Chef der rückwärtigen Gebiete hatte darüber hinaus 110 Lkw zur Paketbeförderung innerhalb der Sowjetunion zur Verfügung zu stellen.(284)
     Dank dieser Maßnahmen stieg die Menge der verschickten ­Pakete mit Beutegütern in den nächsten Wochen und Monaten ­lawinenartig an. Beispielsweise empfing die Postabteilung an der Eisenbahnstation der Stadt Kirow im März 1945 6023 Frontpakete, im April waren es 27345, im Mai 81728 und im Juni 104297.(285) Dass Stalins besonderes Augenmerk der Bewachung der Pakettransporte galt, lag daran, dass viele Sendungen unterwegs gestohlen wurden.(286)
Einige Wochen nach dem Ende des Krieges in Europa ging Stalin daran, die älteren Jahrgänge aus den Frontverbänden zu demobilisieren, ohne dabei die Kriegsbeute zu vergessen. Am 14. Juni 1945 wies er die militärische Führung an, den demobilisierten Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren, die gut gedient hatten, neben Sold und Lebensmitteln auch Gebrauchsartikel aus den Beutedepots, wie Fahrräder, Radios, Fotoapparate, Uhren, Musikinstrumente, Rasierzeug, unentgeltlich zu überlassen. Darüber hinaus erhielten die Demobilisierten die Möglichkeit, weitere Waren und Artikel aus den Beutebeständen zu günstigen festgelegten Preisen zu erwerben, darunter Stoffe, Kleider und Unterwäsche, Schuhe, Geschirr und Besteck, Sanitär- und Hygieneartikel.(287)
     Offiziere und Generäle waren da deutlich besser gestellt. Am 9. Juni 1945 verfügte Stalin mit dem GKO-Beschluss Nr.9036, ­jedem General der Roten Armee und jedem Admiral der Kriegsflotte aus dem Fundus der erbeuteten Wagen kostenlos einen Pkw zu überlassen. Offiziere sollten je nach Verfügbarkeit ein Motorrad oder ein Fahrrad bekommen. Generäle und Admiräle der regulären Streitkräfte erhielten außerdem die Möglichkeit, Beutegüter wie Flügel, Uhren, Jagdwaffen günstig zu erwerben. Teppiche und Gobelins, Pelze, Tee- und Essservice, Fotoapparate, Schmalfilmkameras und andere "exklusivere" Gebrauchsartikel konnten von Generälen und Offizieren gleichermaßen preiswert erstanden werden.(288)
     Selbstverständlich gab keine der Gruppen sich mit diesen relativ bescheidenen Mengen zufrieden, und Angehörige aller Dienstgrade, Offiziere wie Mannschaften, deckten sich meist auf eigene Faust mit den begehrten Gütern ein. Die Masse der einfachen Soldaten musste sich allerdings in der Regel auf Dinge beschränken, die in Koffern und im Handgepäck transportiert werden konnten. Besonders beliebt waren neben Alkohol Armbanduhren, Ringe, Münzen, Silberbesteck und alles vermeintlich Wertvolle, was nicht sperrig war. Der Transport der sehr begehrten Fahrräder, Radios und anderen größeren Beutegüter gestaltete sich hingegen schwieriger und blieb meist den Offizieren vorbehalten.
     Hohe Offiziere der Roten Armee und des NKWD hatten da andere Spielräume. Sie kleckerten nicht, sie klotzten. Viele von ihnen eigneten sich im großen Stil Kunstschätze, hohe Geldbeträge, Schmuck, Autos, Möbel, Teppiche, Flügel usw. an und ließen sie waggonweise in die Sowjetunion abtransportieren. Im August 1946 erfuhr Stalin, dass die Zollbehörde sieben Güterwaggons mit Möbeln beschlagnahmt hatte, die Marschall Georgi Schukow aus Deutschland geschickt hatte. Die Sicherheitsorgane begannen zu ermitteln, am 8. Januar 1948 ließ Stalin die Datscha Schukows in der Nähe von Moskau durchsuchen. Die Ermittler fanden dort wahre Schätze vor, Truhen voller Silber, Porzellan und Kristall, teure Stoffe (bis zu 4000laufende Meter), Hunderte von Pelzen, 44 Teppiche und Gobelins, 55 Gemälde, 20 teure Jagdgewehre, Plastiken und Vasen aus Bronze und Porzellan sowie große Mengen anderer Gegenstände.(289)
     Viktor Abakumow, der Minister für Staatsicherheit, berichtete:

"Schukows Datscha gleicht einem Antiquitätenladen oder einem Museum; sie ist mit zahlreichen wertvollen Gemälden geschm¸ckt, und es gibt so viele davon, daß vier sogar in der Küche aufgehängt wurden. [...] Von den Möbeln über Teppiche und Geschirr bis hin zum Wandschmuck und den Vorhängen ist der gesamte Hausrat ausländischer Herkunft, überwiegend aus Deutschland. [...] In den Regalen stehen aber viele teuer gebundene Bücher ausschließlich in deutscher Sprache."(290)

Auch in der Wohnung des Marschalls in Moskau fanden die Ermittler zahlreiche Beutestücke, darunter eine Kiste mit Schmuck. Stalin ließ das Beutegut beschlagnahmen und Schukow in den fernen Ural versetzen. General Konstantin Telegin hatte weniger Glück. Stalin ließ ihn verhaften und foltern. Man warf ihm vor, die Rote Armee verleumdet und sich den Westalliierten angedient zu haben. Auch ihn beschuldigte man, in Deutschland und Polen geplündert zu haben. In seiner Wohnung fand man Beweise dafür, "mehr als sechzehn Kilo Silbergegenstände", Porzellan, Felle, Gobelins, Antiquitäten und andere Wertgegenstände. Stalin ließ Telegin zu 25 Jahren Haft verurteilen, nach Stalins Tod wurde er jedoch aus dem GULag freigelassen.(291)
     Schukow und Telegin waren keine Ausnahmen, sondern die Regel unter den hochrangigen Offizieren. Abakumow, der in Stalins Auftrag wegen der Beutezüge von Schukow ermittelte, hatte selber aber keineswegs eine reine Weste. Auch er hatte reiche Beute gemacht, genauso wie die anderen NKWD-Chefs.(292) Und Partei- und Wirtschaftsfunktionäre, die nicht an den Fronten gekämpft, sondern die Kriegszeit im sicheren Hinterland verbracht hatten, wollten ebenfalls an der Kriegsbeute teilhaben.(293)
     Im Frühjahr 1945 bildete der Rat der Volkskommissare der Sowjetrepublik Weißrussland eine operative Gruppe, die in Berlin Industriebetriebe demontieren und nach Weißrussland transportieren sollte. Außerdem befasste sich die Gruppe mit der Beschaffung von Kriegsbeute, um diese ebenfalls nach Weißrussland zu verschicken. Man bediente sich auch selbst und verteilte Beutegüter an andere Personen. Besonders beliebt waren Uhren, Schreibmaschinen, Jagdwaffen, Radios, Fahrräder, Kleider, Stoffe, Teppiche, Alkohol, Lebensmittel und Benzin.(294)
     Nicht nur einzelne Republiken, sondern auch lokale Parteibehörden entsandten Beutegruppen nach Deutschland und in andere "befreite" Gebiete, um vor Ort Beutegüter zu "organisieren". Die Parteiorgane der Oblast Drohobytsch (Westukraine) schickten zwischen Februar und September 1945 mehrere solcher Gruppen nach Polen und Deutschland, wo sie Ausrüstungen, Autos und Materialien "besorgen" sollten. Leitende Parteifunktionäre des Oblast-Apparates betätigten sich darüber hinaus auch auf eigene Faust. Im Februar 1945 begaben sich der Vorsitzende des Exekutivkomitees, Leschenko, und der zweite Sekretär des Oblastkomitees, Gorobez, nach Krakau, im Mai und Juni reisten der Sekretär des Oblastkomitees für Propaganda, Dejneko, und der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees, Grischa, nach Dresden; im Juli hielt sich der Vorsitzende der regionalen Planbehörde Kowalenko in Deutschland auf; im August und September "organisierte" der stellvertretende Vorsitzende des Exekutivkomitees, Sysojew, in Deutschland. Die Genossen plünderten persönlich in Wohnungen und/oder tauschten die begehrten Güter gegen Alkohol.(295)
     Im gesamten Jahr 1945 grassierte in den Reihen der Roten Armee und des Geheimdienstapparates und unter den Apparatschiks das Beutefieber. Sie alle konnten sich - meist zum ersten Mal im Leben - Artikel und Güter besorgen, von denen sie zuvor nur geträumt hatten, die in Deutschland aber alltäglich waren.

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Mit freundicher Genehmigung des Propyläen Verlages

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