Vorgeblättert

Leseprobe zu Christopher Hitchens: The Hitch. Teil 1

19.09.2011.
Martin

[Über Martin Amis, dessen Vater Kingsley und die siebziger Jahre, - Perlentaucher]

...

Ein Brief von Kingsley aus dieser Zeit macht deutlich, wohin die Reise gerade ging, jedenfalls führt er mir in Erinnerung, welche Atmosphäre damals herrschte. Am 7. April 1977 schrieb er an Robert Conquest:

Der Rechtsruck hier macht den Roten Schiss. Beim Freitagslunch neulich sagten sie, vornehmlich Hitchens und Fenton, dass man die Nase voll habe von Dingen, die vielleicht nicht die Schuld von Labour seien, aber doch eher mit ihnen als mit den Tories in Verbindung gebracht würden: Porno und Permissivität allgemein, Gesamtschulentrend, TUC-Bosse [Trade Union Congress], Terrorismus, und die Verteidigung abgewirtschaftet.

Kulturell und politisch gesehen ist das ziemlich genau das, woran auch ich mich erinnere: der Verfall des Labour-Konsens der Nachkriegszeit und die zunehmende Abhängigkeit der Parteimaschinerie vom steuerfinanzierten Etatismus, während sie in Wahrheit vom gewerkschaftsabhängigen rechtskonservativen Flügel geführt wurde. Ein »Weimar without sex«, wie ich es damals einmal auf den Punkt zu bringen versuchte. Nur dass es in der Gesellschaft als solcher Sex ohne Ende gab, wobei der Hedonismus der »Sechziger « fast schon zum offiziellen Dogma erklärt worden war und sich dieser Konsens schleichend zu einem bis dahin ungekannten Stellenwert der correctness auswucherte.

Es hätte gar keinen schlechten Moment für diese Begegnung geben können, doch rückblickend betrachtet schien es der perfekte Moment gewesen zu sein, um Ian McEwan kennenzulernen. Es war Martin, der uns zusammenbrachte (Ian war sein Nachfolger als Laureat des Somerset Maugham Award gewesen). Inzwischen war »jeder« hypnotisiert von McEwans frühen Kurzgeschichten First Love, Last Rites (Erste Liebe, letzte Riten) und In Between the Sheets (Zwischen den Laken). Auf ersten persönlichen Blick schien er selbst etwas von den leicht verstörenden Eigenarten seiner Figuren an sich zu haben. Er erhob niemals seine Stimme, musterte die Welt durch seine runde Omabrille auf eine sehr gleichbleibende, fast schon affektlose Weise, trug Ponyfransen, war spindeldürr, zeigte Interesse an »hippieschen« Bestrebungen, wie Martin es zu nennen pflegte, und hatte sich zur Zeit unserer ersten Begegnung das Randgebiet des damals noch vom Unkraut überwucherten Schwarzenghetto in Brixton als Wohnort auserkoren. »Was er schrieb, konnte man sehen«, definierte Clive James eine seiner nach Ians Charakter modellierten Romanfiguren. Wenn es um Fiktion ging, schien Ian in Kontakt zu entfernteren Sphären zu stehen. (Er konnte und kann zum Beispiel über Kindheit und Jugend mit der fast schon unheimlichen Fähigkeit schreiben, sich den ganzen Weg dorthin zurück zu denken und zurückzufühlen - ein Vermögen, das viele der vorzüglichsten Schriftsteller nicht aus sich hervorzuholen imstande sind.) Eines Nachmittags, ich saß an meinem Schreibtisch in der Redaktion des New Statesman, klingelte das Telefon und eine unbekannte Stimme verlangte namentlich mich zu sprechen. Nachdem ich bestätigt hatte, dass ich ich war, sagte sie: »Hier spricht Thomas Pynchon.« Ich bin froh, dass ich nicht aussprach, was ich augenblicklich zu antworten gedachte, denn er war schnell zu beweisen in der Lage, dass er tatsächlich er war und ihm von einem gemeinsamen Freund (machen Sie den mutual friend hier zum common friend) namens Ian McEwan vorgeschlagen worden sei, mich anzurufen. Das Buch eines anderen Freundes, Larry Kramers ultrahomosexueller Versuch Faggots, war von der britischen Zoll- und Steuerbehörde beschlagnahmt worden, und nun drohte die Gefahr, dass alle Exemplare vernichtet würden. Mr. Pynchon war gerade irgendwo in England und wegen dieser Sache ungemein verstört. Was könnte man tun? Könnte ich vielleicht einen öffentlichen Aufschrei lancieren, wie Ian ihm versichert hatte, dass ich es könnte? Ich erklärte ihm, dass man protestieren könne, bis man schwarz werde, weil Großbritannien weder ein Gesetz zum Schutz der Redefreiheit noch eines zum Verbot staatlicher Zensur habe. Wir plauderten noch eine Weile, dann bot ich stümperhaft an, ihn zurückzurufen. Er lehnte dieses durchsichtige Manöver lachend ab und verschwand wieder in der Welt, in der nur McEwan ihn finden konnte. (Ian schien so etwas handhaben zu können, ohne je damit zu prahlen; er war auch mit dem letztlich unmöglich aufzufindenden Milan Kundera befreundet.)

Sie mögen nun bereits mutmaßen, dass Ian keinen prononcierten Hang zur politischen oder kulturellen Rechten hatte. Aber er war auch keiner, der um die Zeit von Woodstock zu denken aufgehört hatte. Sein Vater war Berufsoffizier im schottischen Regiment gewesen, er verfügte über ein beträchtlich funktionelles militärgeschichtliches Wissen, und seine Liebe zur Natur und ihrer Tierwelt, die ihn jene ebenso mühsamen wie kontemplativen Geländemärsche machen ließ, mit denen wir ihn immer aufzogen, konnte sich mit seinem Interesse an den »harten« Wissenschaften messen. Ich glaube, an irgendeinem Punkt in seinem Leben hat er ein bisschen mit dem lose so genannten New Age herumgestümpert, doch am Ende siegte seine exakte Seite. Seine Romane patrouillieren fast immer zwischen der schwierigen Grenze des Spekulativen, Ungesehenen, und den vielen Möglichkeiten, mit denen sich die materielle Realität aufzwingt. Wenn er nicht gerade eindringlich über Literatur und Musik sprach, hielt er scharfsinnig Register von den kulturellen und moralischen Spannungen, welche die alte politische Kluft in Großbritannien gerade neu aufbrechen ließen.

Eines Tages, vielmehr eines Abends, flanierte ich wieder einmal auf der Brücke über diese Kluft hinüber, um die Temperatur auf der anderen Seite zu messen und mir die Zustände dort anzusehen. Die Umstände hätten kaum günstiger für mich sein können. Die Tories gaben anlässlich der Veröffentlichung des bärbeißigen Buches eines bärbeißigen alten Peers namens Lord Butler einen Empfang im Rosebery Room des Oberhauses, und es hatte das Gerücht die Runde gemacht, dass auch die frisch gewählte Vorsitzende der Konservativen Partei unter den Gästen dieses Cocktails sein würde. Ich hatte einen ziemlich langen Artikel für das New York Times-Magazin geschrieben, in dem ich faktisch erklärte: wenn Labour die britische Gesellschaft nicht umkrempeln könne, dann würde diese Aufgabe sehr wahrscheinlich den Rechten zufallen. Ich hatte auch einen kürzeren Artikel im New Statesman veröffentlicht, in dem ich vom Parteitag der Konservativen berichtete und beiläufig bemerkte, dass ich Mrs. Thatcher überraschend sexy fand. (Bis heute sollte ich niemals wieder eine solche Menge an Hassbriefen bekommen, allesamt im selben Tenor: »Wie konntest du nur?«) In fast jeder anderen Hinsicht fühlte ich mich immun vor Mrs. Thatcher, denn trotz ihres schlagfertigen Eintretens für den »freien Markt« an der einen Front schien sie sich an der anderen emotional mit dem autoritären und protektionistischen Regime der weißen Siedler in Rhodesien verbündet zu haben. Und genau das war es, was mir schließlich Gelegenheit bot, mich schon so früh in ihrer Karriere mit ihr anzulegen.

Ebenfalls auf dieser Party war Sir Peregrine Worsthorne, ein alerter und einnehmender Typ, mit dem ich in Rhodesien schon viele Debatten geführt hatte, nicht nur in der berühmten Colonial Bar des Hotel Meikles, auch in heruntergekommeneren Örtlichkeiten. Einmal hatte ich ihn sogar zu einem Treffen mit Sir Roy Welensky mitgenommen, dem harten alten Rechtsaußen, weißen Gewerkschaftler und einstigen Premierminister von Rhodesien, der mit dem hochverräterischen pro-Apartheid-Gesindel um Ian Smith gebrochen hatte. »Es schien mir immer total simpel, Mr. Wortklauber«, hatte die alte Bulldogge im unverkennbaren Akzent der Region geknurrt: »If you don?t like blick min, then don?t come to live in Ifrica.« Perry Worsthorne hatte eingeräumt, dass da wohl etwas dran sei - wie hätte er es auch nicht können. Nun glaubte er offenbar, mir im Gegenzug für dieses Treffen einen kleinen Gefallen erweisen zu müssen: »Lust, die neue Vorsitzende zu treffen?« Wer hätte da ablehnen können? Momente später standen Margaret Thatcher und ich uns Auge in Auge gegenüber.

Einige weitere Momente später streckte ich ihr meinen Hintern entgegen. Ich nehme an, das sollte ich irgendwie erklären. Kaum schüttelten wir uns nach kurzer Vorstellung die Hand, hatte ich das Gefühl, dass sie meinen Namen kannte und ihn vielleicht sogar mit dieser sozialistischen Wochenzeitung in Verbindung brachte, die sie jüngst als ziemlich »sexy« bezeichnet hatte. Während sie noch ganz bezaubernd mit diesem Augenblick charmanter Verwirrung rang, fühlte ich mich schon zur Kontroverse verpflichtet und brach einen Streit über ein Detail der Rhodesien/Simbabwe-Politik vom Zaun. Sie griff sofort nach dem Fehdehandschuh. Ich hatte (wie es der Zufall wollte) recht, was diesen kleinen Fakt betraf, und sie hatte unrecht. Aber sie hielt mit derart unerbittlicher Kraft an ihrem Unrecht fest, dass ich den Punkt schließlich konzedierte und ihr dies sogar mit einer kleinen anerkennenden Verbeugung zu verstehen gab. »No«, sagte sie, »bow lower!« Liebenswürdig lächelnd beugte ich mich noch etwas weiter vor. »No, no«, jubelte sie, »much lower«! Inzwischen hatte sich schon eine kleine Gruppe Schaulustiger um uns geschart. Ich beugte mich also noch weiter vor, diesmal schon wesentlich verlegener. Da machte sie einen Schritt, trat hinter mich, enttarnte ihr Geschütz und schlug mich mit der parlamentarischen Tagesordnung, die sie hinter ihrem Rücken zu einer Rolle gedreht hatte, auf den Hintern. Ich eroberte mir einigermaßen unbeholfen die Vertikale zurück. Als sie wegging, blickte sie über die Schulter, machte einen fast unmerklichen Kick mit der Hüfte und formte mit den Lippen die Worte: »Naughty boy!«

Es gab und gibt Augenzeugen dafür. Damals konnte ich es allerdings selbst kaum glauben. Erst als ich aus späterer Perspektive auf das Gemetzel zurückblickte, das sie unter der völlig eingeschüchterten einstigen männlichen Führungsriege ihrer Partei angerichtet hatte, um sie dann mit biegsamen Werkzeugen zu ersetzen, verstand ich, dass mir damals - mit »einem Klaps entschlossener Staatsführung«, wie einmal jemand sagte - ein warnender Blick auf das Kommende gestattet worden war. Schon als ich die Party verließ, hatte ich gewusst, dass ich einer ziemlich beeindruckenden Person begegnet war. Aber das Schlimmste am »Thatcherismus« sollte ich erst nach und nach entdecken: es war dieses Nagen, das sich mir langsam durch die Eingeweide fraß, dieses unbehagliche, aber nicht zu verscheuchende Gefühl, dass sie bei einigen entscheidenden Fragen recht haben könnte.

zu Teil 2