Vorgeblättert

Leseprobe zu Daniyal Mueenuddin: Andere Räume, andere Träume. Teil 1

05.04.2010.
Saleema

Saleema wurde in den Jhulan-Clan hineingeboren, Erpresser und Schmuggler, mit der Teilung des Landes muslimische Flüchtlinge aus dem Nordwesten von Delhi. Sie hatten Glück, die neue Grenze lag nur fünfzig oder sechzig Kilometer entfernt, und von ihren Diebestouren her wußten sie, wie man sich ungesehen an Kanälen und Gleisen vorwärtsbewegte. Am Rande der Wüste Cholistan überquerten sie die Grenze nach Pakistan, und in der vierten Nacht erreichten sie ein Hindu-Dorf, das mit Ausnahme ein paar alter Frauen von allen verlassen worden war. Sie jagten sie davon und nahmen die Häuser in Besitz, fanden Töpfe und Pfannen, Eimer, sogar Wachhunde, die sich an sie gewöhnten.
     Zwanzig Jahre später, während Saleemas Kindheit, wurde das Dorf allmählich von den Slums geschluckt, die eine nahe gelegene Provinzstadt namens Kotla Sardar ausspie. Ihr Vater wurde heroinsüchtig und starb daran, ihre Mutter prostituierte sich für Geld und Gefälligkeiten, und sie selbst wurde mit vierzehn das Spielzeug des Sohnes eines kleinen Landbesitzers. Dann tauchte ein Freier auf, der auf Urlaub von seinem Job in der Stadt durch das Dorf stolzierte und sie mit sich nach Lahore nahm. Er sah so schlank und städtisch aus und erwies sich nach kurzer Zeit als nicht nur schwach, sondern verderbt. Diese Erfahrungen hatten ihre harte Schale nicht geknackt, sondern hatten sie einfühlsam werden lassen, skrupellos - und romantisch.
     Eines Morgens lag sie auf dem Bett in dem engen Dienstbotenquartier in Lahore, wo sie und ihr Ehemann lebten. Er war für den Tag weggegangen, um sich ziellos in den Straßen herumzutreiben, unerwünscht am Rand der Menge in irgendeiner Teebude. Obwohl er sofort gewußt hatte, daß sie in dem Haus, in dem sie als Dienstmädchen arbeitete, mit Hassan dem Koch schlief, tat sie beim ersten Mal, als er den Mund aufmachte, als wollte sie ihm eine Ohrfeige verpassen, und stieß ihn aus dem Zimmer; und am nächsten Tag steckte er gierig die paar Rupien ein, die sie ihm gab - um ein paar Tütchen Aufputschpillen zu kaufen, wegen seiner Amphetamin-Abhängigkeit.
     Sie zupfte am gesplitterten Lack auf ihrem langen, schlanken Zeh und tat sich selbst leid. Ihr ovales Gesicht, länger als breit, mit tiefliegenden Augen, wies eine Eleganz auf, die sich von ihrem unbekümmerten, fröhlichen Wesen abhob. Mit vierundzwanzig hatte dieses harte Leben sie noch nicht gezeichnet, und wenn sie lächelte, ließen ihre Grübchen sie sogar noch jünger erscheinen, fast wie ein Mädchen; sie hatte noch immer etwas von der Ernsthaftigkeit eines Mädchens. Es stimmte, der Koch, Hassan, hatte alles von ihr bekommen, wie immer hatte sie es zu schnell gegeben. Bisher war sie als Dienstmädchen in drei Häusern gewesen, da ihr Ehemann seine Arbeit als Bürobote verloren hatte, und in jedem hatte sie für den Koch die Beine breitgemacht. Erst seit einem Monat war sie hier, in Gulfishan, auf dem Anwesen des Landbesitzers K. K. Harouni, und schon hatte sie mit Hassan geschlafen. Köche verlockten sie, als Herren über die Küche, wo sie beim Duft von Brühe und garendem Blattgemüse und Saucen gerne saß. Und sie hatte Pflichten in der Küche, sie bereitete die chapatis zu, so dünn und leicht, daß sie beinahe an die Decke entschwebten. Sie hatte die Hände. Mr. Harouni hatte sie eines Tages beim Mittagessen ins Eßzimmer gerufen und gesagt, mit seinen siebzig Jahren habe er noch nie bessere gegessen, und sie war errötet und hatte auf ihre nackten Füße gesehen. Und dann die Leckereien, die Hassan ihr zusteckte - die besten Stücke, die eigentlich hätten auf den Tisch kommen sollen, ausländische Leckereien, Pistazieneis und süße Kuchenstücke, gebackene Tomaten mit Käsefüllung, Kartoffelrösti. Dinge, um die sie ihn bat, dörfliches Essen, Curry mit Mark und Möhren-halva. Der ganze Haushalt, vom Sahib abwärts, hatte gegessen, worauf sie Lust hatte.
     "Bitte mich darum, mein Kleines", sagte Hassan morgens, wenn sie zusammengekauert neben ihm in der Küche ihren Tee trank. "Ich muß dich mästen, ich mag sie dick."
     "Red nicht so, ich stamme aus einer anständigen Familie."
     "Nun, was für eine Familie auch immer, womit soll ich das runde Bäuchlein heute stopfen?"
     Und er fuhr mit seinem Fahrrad, auf das hinten ein großer Korb geschnallt war, schwankend davon zum Markt, mit auswärts gerichteten Knien in die Pedale tretend und so langsam, daß er zu Fuß beinahe schneller dort gewesen wäre.


Doch das hatte früh genug ein Ende gefunden. Warum sind Köche immer hinterhältig? Sie wußte, sie würde heute um die Mittagszeit wortlos in die Küche gehen und anfangen, die chapatis zuzubereiten, und Hassan würde am Herd stehen, mit den Topfdeckeln klappern und sie keines Blickes würdigen. Sie hatte nichts getan, sie hatte der Schlampe von Aufwischerin, die ständig in der Küche herumlungerte, gesagt, sie solle sich anderswohin verziehen, und er war in die Luft gegangen. Hassan regierte über die heiße, verdreckte Küche. Er kochte das Essen sowohl für den Tisch des Herrn als auch für sämtliche Bediensteten, mehr als ein Dutzend. Tagelang war dann das Essen der Dienerschaft ungenießbar - entsprechend Hassans Politik der kollektiven Bestrafung. Einmal, als der Hauptbuchhalter einen recht milden Kommentar zu Hassans sorglosem Umgang mit überhöhten Rechnungen abgegeben hatte, hatten sie eine Woche und länger nur noch wäßrige Linsen gegessen, bis der Buchhalter klein beigegeben hatte. "Nun, irgendwo muß ich schließlich sparen", bemerkte Hassan gern und schüttelte seinen graumelierten Kopf. Wie dem auch sei, Saleema wußte, daß er mit ihr fertig war, daß er sich gelegentlich von seiner netten Seite zeigen und versuchen würde, sie zu vögeln, aus Grausamkeit ebensosehr wie aus anderen Gründen, etwa zum Beweis, daß er es konnte - doch die sorglosen Tage waren vorüber, nun hatte sie niemanden, der seine schützende Hand über sie hielt. In diesem Haushalt galt ein Mann, der zehn Jahre im Dienst stand, als neuer Diener. Hassan war seit über fünfzig Jahren da, Rafik, der Kammerdiener des Herrn, ebenso. Sogar der namenlose jüngere Gärtner schon seit vier oder fünf. Mit einer Dienstzeit von weniger als einem Monat zählte Saleema nicht. Sie hatte keinen Förderer. Sie war zur Probe eingestellt worden, als Dienerin der ältesten Tochter des Herrn, Begum Kamila, die in New York lebte und in diesem Frühjahr gekommen war, um ihren Vater zu besuchen. Kamila, hochmütig und stolz, erlaubte keine Vertraulichkeiten.


Als nächstes warf Saleema ihre Netze nach einem der Fahrer aus - vergebliche Hoffnung! -, einem massigen Mann mit Hängeschnurrbart, der nicht einmal das Wort an sie richtete. Die beiden Fahrer teilten sich eine Unterkunft, einen Raum neben der kühlen, dunklen Garage, in der zwei alternde Mercedes standen, die selten gefahren wurden, da der alte Mann selten ausging. Tag und Nacht, ununterbrochen, hielten die Fahrer ein Kartenspiel in Gang, mit den Gecken aus dem nahen Slum, den Jungen, die dort den Ton angaben. Sie schlenderte an der Tür vorbei, wo sie auf ein paar zusammengeschobenen Betten herumlagen. Nachts tranken sie manchmal Bier und versteckten die Flaschen auf dem Fußboden.
     Als sie an einem windigen Frühlingsmorgen zum zweiten Mal an ihrem Zimmer vorbeiging, pfiff einer der Männer in dem Zimmer.
     "Scher dich zum Teufel", sagte sie.
     Das machte es nur noch schlimmer.
     "Gib uns was von der schwarzen Mango. Ist eine neue Sorte!"
     "Nein, sie ist zart wie Eiscreme, ich schwöre bei Gott, mir schmilzt die Zunge."
     "Du kannst deinen Meßstab abwischen, wenn du das Öl kontrolliert hast!"
     Einer von ihnen gab vor, sie zu verteidigen. "Wie kannst du es wagen, so etwas zu sagen!"
     Sie ging zur Latrine, unterdrückte die Tränen. Nicht einmal dafür hatte sie einen Ort, wo sie allein sein konnte, sie benutzte dieselbe Toilette wie die Männer. Das dunkle Gelaß stank, in den Ecken krochen Kakerlaken. Sie schloß die Holztür des Abteils hinter sich, lehnte Gesicht und Arme gegen die abblätternde weißgekalkte Wand und fing leise an zu weinen.
     "Was ist los, Mädchen?"
     Jemand mußte in der Dusche sein, neben der Toilette. Gewöhnlich machte sie sich bemerkbar, ehe sie eintrat.
     "Wer zum Teufel ist es?"
     "Bleib drinnen, meine Kleider hängen an der Wand. Ich bin gerade fertig geworden."
     Sie erkannte die Stimme von Rafik, dem Kammerdiener.
     "Du kannst dich auch zum Teufel scheren. Ich bin fertig mit euch Wichsern."
     "Ist schon gut, beruhige dich, ich gehe gleich." Sein dünner Arm griff nach den Kleidern, die an der Wand hinter der Tür an einem Nagel hingen. Sie hörte, wie er sich anzog und hinausging und die Tür sachte hinter sich zuzog.


Sie hockte in der Dunkelheit, zog ihren shalvar herunter und versuchte zu pinkeln. Nichts kam. Seine Stimme war sanft gewesen. Drei Lichtbalken zeichneten sich in der Luft über ihrem Kopf ab, von tanzenden Staubkörnern durchsetzt, und das erfüllte sie mit Hoffnung. In einem Monat war Sommer, der kalte Winter war vorbei. Sie liebte die Hitze, die dicke Nachtluft und den Geruch nach Wasser und Staub, die kühle Dusche, die über ihre Brüste sprühte, Wasser, das von den bepelzten Wänden des dumpfen Raumes spritzte; und ihren Körper, wenn sie abends herauskam und ihr Haar trocknete, den Kopf seitlich geneigt, das Ohr an der Schulter, und es zu voller Länge auskämmte.
     Rafik saß im Hof der Dienerschaft auf einem der schmutzigen weißen Metallstühle, rauchte eine Hookah und sah sie nicht an, als sie sich dicht neben seinen Knien auf einen niedrigen hölzernen Hocker setzte.
     Er umfaßte das Mundstück der Hookah mit rauhen, wettergegerbten Händen, einen schweren Achatring auf dem Zeigefinger. Sie hatte Rafik noch nie zuvor genau angesehen. Er trug saubere, schlichte Kleidung, eine wollene Weste aus den Bergen - und sprach mit dem undeutlichen, gutturalen Akzent der Salt Range, obwohl er seit über fünfzig Jahren in Lahore diente. Seine polierten schwarzen Schuhe hatten Risse über den Zehen. Er sprach die täglichen fünf Gebete, der einzige Diener, der das tat. Eine Woche zuvor hatte er sein Haar mit Henna rot gefärbt, um sich in dem herannahenden Sommer Kühlung zu verschaffen. Das Haar in der Mitte gescheitelt, von beinahe martialischem Aussehen, doch ohne jedes Machogehabe; eine schmale Bürste von einem Schnurrbart, die wulstigen Ohren eines alternden Mannes. Er mußte um die sechzig sein, hatte als Junge den Dienst angetreten, vor fünfzig Jahren. Er verbrachte mehr Zeit mit dem Herrn als irgend jemand sonst, weckte den alten Mann und brachte ihn zu Bett, servierte ihm den Tee, massierte ihm die Füße, zog ihn an, abends brachte er ihm einen Single-Whiskey. Jedermann in Alt-Lahore kannte Rafik, die Barone, die Landbesitzer, Magnaten und Politiker, die alten Drachen, die Gesellschaftsdamen von vor vierzig Jahren.
     Sie erlaubte sich noch ein paar Tränen - sie konnte weinen, wann immer sie wollte -, und dachte über ihre Lage nach, allein, der Ehemann auf Drogen, dieser vertrocknete Stecken, der sie aus dem Dorf weggeholt hatte, während sie geglaubt hatte, er werde sie retten. Sie war noch immer ein Mädchen, nicht nur damals, auch heute noch. Sie weinte heftiger und wischte sich mit einem Zipfel ihrer dupatta die Augen ab.
     Rafiks Mund arbeitete, sein geduldiges, resigniertes Gesicht verzerrte sich. Er nahm einen langen Zug aus der Hookah, dicker Tabakrauch hing in der Luft.
     Sie waren allein, sie konnte Hassan hören, der in der Küche das Mittagessen zubereitete und irgend etwas zerstampfte. Die Fahrer hockten in ihrer Unterkunft und spielten Karten, die Gärtner kümmerten sich um ihre Pflanzen, das Putzpersonal war im Haus und wischte die Toiletten oder die Fußböden oder fegte die Blätter von der langen, von Bäumen überschatteten Auffahrt an der Vorderseite des Hauses.
     "Ich weiß, was ihr alle denkt", begann sie. "Ihr denkt, ich sei eine Schlampe, ihr denkt, ich vergifte meinen Mann. Seinetwegen bin ich allein, und ihr alle macht mit mir, was ihr wollt. Ich versuche auch, hier zu leben, mußt du wissen. Ich bin kein Dummkopf. Auch ich komme von irgendwoher!" Die Worte strömten klar, gleichmäßig, wütend, vollkommen ungeplant aus ihr heraus.
     Er sagte nichts, rauchte, die Augen mit den schweren Lidern halb geschlossen.
     Nach einer Weile stand sie auf und wollte gehen.
     "Bleib einen Augenblick, Mädchen. Ich bringe dir einen Tee."
     Er machte Anstalten, aufzustehen, und legte den Bambusgriff der Hookah beiseite.
     "Einverstanden, Onkel. Aber laß mich ihn holen." Sein Angebot bedeutete viel für sie.
     Sie betrat kühn die Küche, schöpfte aus einem Kessel, der von morgens bis abends hinten auf dem Herd vor sich hin simmerte, Tee in zwei angeschlagene Tassen - das Geschirr für die Dienerschaft. Hassan ignorierte sie.
     Sie trug die Tassen herbei und reichte eine davon Rafik, und als sie sich auf eine Bank setzte, hoffte sie, daß jemand kommen und sie zusammen sehen würde.
     Sie hob den heißen Tee an ihre Lippen und sah ihn an.
     Er goß den Tee in die Untertasse und blies die Sahne beiseite, dann nippte er daran. "Das ist gut, nicht wahr?" sagte er.
     Sie wollte es unterdrücken, denn es schien zu schnell nach den Tränen, doch ein Lächeln überkam sie, stieg in ihr hoch. Sie strahlte, und ihr mädchenhaftes und dennoch wissendes Gesicht leuchtete auf und veränderte sich.
     "Worüber lachst du?"
     "Nichts. Du siehst aus wie mein Onkel, außer daß er riesig war und fett, und du bist dünn. Er hat immer auf seinen Tee geblasen und dann daran genippt, und hat irgendwie düster und wichtig ausgesehen, so wie du."
     "Düster?" Er sagte es auf komischste Weise, überrascht.
     Ich kann ihn kriegen, dachte sie, und das jagte einen glücklichen Schauder durch ihren Körper.
     "Ich mache nur einen Scherz mit dir. Du bist ganz anders als mein Onkel. Ist das besser?"
     Er lächelte, nicht wie ein Erwachsener, sondern wie ein Kind, er lächelte mit den Augen und mit dem Mund und den Falten, die sich in sein Gesicht gegraben hatten, fröhlich. Sie bemerkte es und dachte: "Er lächelt mit allem, was er hat, genau wie ich."
     "Du machst dich über mich lustig. Schon gut, mach weiter, ich bin ein alter Mann. Es ist an der Zeit für mich, ein Dummkopf zu sein."
     Sie überlegte, ob sie ihm widersprechen sollte und sagen, daß er niemals ein Dummkopf sein könnte - hielt sich aber zurück. Statt dessen sagte sie: "Nun, egal wie spät es ist, ich glaube nicht, daß die Dummheit eine Uhr trägt."
     "Du bist voller Rätsel, kleines Mädchen."
     "Kleines Mädchen." Sie trank ihren Tee aus und nahm ihre und auch seine Tasse mit in die Küche und wusch sie sorgfältig ab. Als sie wieder herauskam und an ihm vorbeiging, sagte sie: "Danke, Onkel, ich fühle mich besser, seit ich mit dir gesprochen habe."
     In ihrem Zimmer saß sie mit gekreuzten Beinen auf dem Bett, schloß die Augen, lehnte sich an die Wand und dachte: Schließlich, warum nicht? Warum sollte ich es nicht tun?

Teil 2