Vorgeblättert

Leseprobe zu Diego Marani: Neue finnische Grammatik. Teil 1

22.09.2014.
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Rückkehr nach Helsinki


Das erste Lebendige, was ich sah, waren die Augen von Doktor Friari. Ich nahm das Knistern von gestärktem Baumwolltuch wahr, dann tauchte er vor mir auf, umgeben von einem blauen Lichtschein, und beobachtete mich eine Zeit lang eingehend. Aber es gelang mir nicht, durch meinen verschwommenen Blick hindurch die Umrisse seines Gesichts zu erkennen. Es war, als wäre alles in eine zähe Flüssigkeit getaucht, die die Bewegungen verlangsamte, die Geräusche erstickte. Es folgten reglose Tage, deren Oberfläche nur ab und zu gekräuselt wurde durch gedämpfte Stimmen oder Schatten, die hinter einer Glaswand vorbeihuschten, dann lange Momente gelber Stille. Ich versuchte die Augen so lange wie möglich offen zu halten und den Schleier darauf wegzublinzeln, damit ich den Doktor sehen konnte, wie er mich ansah. Aber kaum bemühte ich mich, zwang mich ein stechender Schmerz, sie gleich wieder zu schließen. Tief hinter den Schläfen begann er wie ein Bienenschwarm surrend anzuschwellen, bevor er meine Augenwurzeln angriff. Manchmal überlief mich ein plötzlicher Hitzeschauer. Mir brach der Schweiß aus, und ich spürte meinen Kopf unter dem Verband pochen. Die Krankenschwestern merkten das wohl, denn sofort sah ich neben mir die Luftblase des Venentropfs, und etwas Kaltes wurde mir auf den Arm gestrichen. Langsam verschwand dann das Stechen, und rundherum schien alles wieder klarer. Der blaue Lichtschein wurde zu einem Bullauge; die langen Momente gelber Stille zu Nächten, schwach erhellt vom Notlicht, das in einer kleinen Nische in der Korridorwand angebracht war.
     Ich befand mich also auf einem Schiff. Ich spürte sein leichtes Schaukeln, aber es schien sich nicht von der Stelle zu bewegen. Zwar war mir bewusst, dass ich geschwächt war, doch sah und erlebte ich alles auf eine losgelöste, unbeteiligte Weise, so als wäre nur ein Teil von mir lebendig und empfindungsfähig und würde in einer mir fremden Masse dahintreiben. Viel später erinnerte ich mich daran, wie gleichgültig in jenen Tagen langsamen Wiederaufwachens mein Gehirn auf den Zustand meines Körpers reagierte; so als hätte es jedwede Lust oder Kraft verloren, sich weiter darum zu kümmern. Jetzt kamen vor jedem Besuch des Doktors zwei Krankenschwestern und setzten mich neben das Bullauge auf einen Stuhl mit Armlehnen. Ich hatte bemerkt, dass es zwei Rotkreuzschwestern waren, und konnte mich noch dunkel daran erinnern, dass Krieg herrschte. Auch reimte ich mir zusammen, dass ich ein Überlebender irgendeiner kriegerischen Operation sein musste. Aber ich wusste nicht mehr, wer ich war, und war auch gar nicht neugierig darauf. Meine Gedanken schienen aus dem Nichts aufzutauchen, um dann gleich wieder im sandigen Boden meines Bewusstseins zu versickern. Wenn ich später an diesen Zustand dachte, sehnte ich mich beinahe danach zurück. Für einige wenige wundersame Tage war ich allem gegenüber unempfindlich, befreit von Erinnerungen und Schmerzen. Nichts als eine Anhäufung von Zellen, ein primitiver Organismus jener Art, wie sie die Erde vor Millionen von Jahren bevölkerte. Vom Stuhl aus konnte ich die andere Hälfte der Kabine sehen, meine Pritsche und den Nachttisch. Vor allem aber sah ich durch das Bullauge hindurch das Meer, auch wenn es mir nur mit Anstrengung gelang, den Kopf seitwärts zu drehen. Dass ich es bis zum Stuhl schaffte, musste einen großen Fortschritt bedeutet haben, denn immer wenn Doktor Friari jetzt zu mir kam, lächelte er. Er hielt meine Augenlider auseinander und leuchtete mir in die Augen. Er klappte einen Tisch herunter, der an der Wand befestigt war, legte Bildmotive aus buntem Karton darauf aus und forderte mich auf, sie einander zuzuordnen. Dabei war er jedes Mal sehr zufrieden mit mir und notierte die Ergebnisse in ein Heft.
     Am Anfang spielten sich unsere Zusammenkünfte schweigend ab. Es war ein Tanz von Bewegungen und Höf lichkeitsgesten, skandiert von liebenswürdigem Kopfnicken. Nach einigen Tagen begann Doktor Friari zu mir zu sprechen. Aber seine Worte hörten sich anders an als jene, die er üblicherweise an die Schwestern richtete, ihr Klang war runder und voller und nachhaltiger. Ich hatte noch kein Bewusstsein vom Ausmaß meiner Tragödie, wusste nicht, dass das Trauma, das ich erlitten hatte, mir nunmehr die Welt der Sprache verschloss. Mein Verstand war wie ein Schiff, dessen Leinen vom Sturm losgerissen waren. Nicht weit vor mir sah ich den Landungssteg vorbeiziehen und glaubte, sobald ich wieder bei Kräften war, ihn erreichen zu können. Dabei merkte ich nicht, dass der Wind der Verzweif lung mich immer weiter auf das offene Meer hinaustrieb. Weder verstand ich, was Doktor Friari sagte, noch verspürte ich den Wunsch, ihm zu antworten. Aber das beunruhigte mich nicht. Ohne weiter darüber nachzudenken, schob ich es auf meine Verletzung und auf die unendliche Kraftlosigkeit, von der ich mich nur langsam erholte. Außerdem entstand in meinem Kopf eine vage Vorstellung von Fremdsprache, obwohl mir jegliche objektive Kenntnis fehlte, und deshalb erschien es mir in meinem halb bewussten Zustand plausibel, dass ich die Worte des Doktors nicht verstand.
     Wie ich später erfuhr, sprach der Doktor von jenen ersten Tagen an Finnisch zu mir, in seiner Muttersprache, von der er glaubte, es sei auch meine. Er hoffte, der weiche und einladende Klang würde meinen Schmerz lindern und meine Verwirrung besänftigen und mich fühlen lassen, als sei ich unter Freunden. Ich versuchte nicht zu sprechen, denn ich verspürte kein Bedürfnis danach. Meine sprachliche Intelligenz, meine sprachliche Neugier, überhaupt jedwedes Interesse am Wort war wie ausgelöscht. Ich konnte keine einzige Sprache mehr sprechen und wusste nicht einmal, welche meine eigene war. Aber das alles blieb mir unbewusst. Ein kaum wahrnehmbarer Schleier, wie eine Art Hypnose, schützte mich vor den schrillen Farben der Wirklichkeit.

Eines Morgens breitete Doktor Friari eine Landkarte Europas auf dem Tisch aus und forderte mich mit einem Handzeichen auf, etwas zu tun, was ich nicht verstand. Da ich glaubte, es handle sich wieder um eine neue Übung, versuchte ich, mich auf die grünen und braunen Flecken zu konzentrieren, die gezackten Linien des blauen Meeres und die tiefen Falten der Flüsse. Ich wusste, das war eine geografische Karte, die Umrisse der Länder waren mir vertraut, unzählige Male schon hatte ich sie gesehen. Ich hatte einen klaren Begriff von den Dingen, die ich sah, doch mein Bewusstsein davon drang kaum unter die Oberhaut der Wirklichkeit. So erkannte ich zwar, wie jeden anderen Gegenstand in meiner Umgebung, auch die Formen und Linien auf der Karte, konnte sie jedoch nicht bezeichnen. Es war, als verweigerte mein Verstand jede derartige Anstrengung; später begriff ich, dass ihm einfach die Instrumente dazu fehlten. Mein Körper, meine Hände hatten begonnen, sich wieder zu bewegen. Mit der Beweglichkeit der Gelenke kehrte allmählich auch das Körpergefühl zurück. Alles, was ich sah, fasste ich an; indem ich die Dinge berührte, erlangte ich neues Bewusstsein dafür. Mein Verstand war allerdings nicht mehr in der Lage, eine Verbindung zwischen den Dingen und den Wörtern herzustellen. Wie abgetrennt von mir und doch lebendig in mir, bewegte er sich wie ein Fisch im Aquarium, der durch Glas und Wasser weit weg erscheint und doch ganz nah ist. Ich verstand also nicht recht, was ich mit dieser Landkarte anstellen sollte.
     Um mir Mut zu machen, deutete der Arzt mit dem Zeigefinger auf einen breiten grünen Streifen, der mit blauen Punkten durchsetzt war. Ich schaute abwechselnd in seine Augen und auf die Karte, runzelte die Augenbrauen und wurde immer verlegener. Endlich begriff ich. Klar doch! Der Doktor wollte, dass ich ihm zeigte, woher ich kam. Ich hüstelte erleichtert und hob schon den Finger, während ich noch die Karte absuchte. Da schoss es mir eiskalt durch die Adern. Es war, als lehnte ich mich über den Rand eines Abgrunds. Denn ich erkannte zwar die Formen, die von den roten Grenznarben auf der Karte herausgehoben wurden, aber ich hatte keine Ahnung mehr, was sie bedeuteten. Die sich über Täler und Berge ziehenden Großbuchstaben sagten mir überhaupt nichts. Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn, Rumänien zogen vor meinem inneren Auge vorbei als bloße Umrisszeichnungen, welche ich nicht mehr imstande war zu benennen. Meine Gedanken reichten gerade einmal bis zur Schwelle jener Bedeutungsräume, fanden dann aber nicht die Türklinke, um einzutreten. Mit Entsetzen musste ich zusehen, wie die Hälfte meines Verstands sich mir entzog. So als wäre einer tief im Gehirn verborgenen Ader der Blutstrom abgeschnitten. Sobald ich versuchte, noch so banale Gedanken in Begriffe zu fassen, lösten diese sich vor meinen machtlosen Augen in nichts auf. Auch die Buchstaben, von denen ich jeden einzelnen zu kennen glaubte und das sichere Gefühl hatte, sie ohne jedes Zögern aufschreiben zu können, waren jetzt nur mehr Zeichen ohne Klang, stumme Hieroglyphen einer verschwundenen Zivilisation.

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