Vorgeblättert

Leseprobe zu Einar Mar Gudmundsson: Vorübergehend nicht erreichbar. Teil 1

04.07.2011.
Kapitel eins
1


Ich bin gerade heimgekommen. Es ist seltsam, allein hier zu sein, und ein unerträglicher Gedanke, dass es die nächsten Wochen ? die nächsten Monate, die nächsten Jahre ? so sein wird.
     Was weiß ich?
     Ich möchte dir nur sagen, dass ich dich liebe und dass sich daran nichts ändert, auch wenn du eine Zeitlang weit weg von mir sein wirst.
     Es ist schlimm, dass du nicht bei mir bist, aber wenn wir geduldig und stark sind, dann wird am Ende alles gut werden. Ich habe abwechselnd geweint und geschlafen. Es ist, als ob mir die Tränen ausgegangen wären.
     Mein Schatz, ich lasse mich nicht beirren und werde stark sein. Mach du das auch für mich. Versuch es. Nicht aufgeben. Ich bin leer und mir ist komisch im Kopf. Ich muss einfach versuchen einzuschlafen.
     Ich weiß, dass du nicht mit mir sprechen kannst, aber ich darf dir schreiben. Das tue ich in der Hoffnung, dir damit ein wenig Kraft zu geben.

Lieber Einar Thor, ich kann einfach nicht aufhören, an dich zu denken. Sei stark, für dich, und auch ein kleines bisschen für mich. Du weißt, dass all das ein Ende nimmt, und dann sehen wir uns wieder.
     Ich habe Angst vor Morgen. Meine Mutter ist völlig fertig und sagte, dass ich schlafen gehen sollte. Ich sitze im Bett und versuche, meine Gedanken vom Boden aufzulesen. Es ist gut, das Foto von dir bei mir zu haben, auf dem du so strahlend lächelst, obwohl ich weiß, dass dir gerade nicht danach zumute ist.
     Wenn ich dir irgendwie Kraft geben kann, dann sollst du sie voll und ganz bekommen.
     Ich hoffe, dass mit den Kindern alles in Ordnung ist. Meine Mutter sagte, dass sie eingeschlafen sind. Nicht aufgeben. Ich bin bei dir.

...

Es ist acht Uhr. Ich bin gerade aufgewacht. Ich habe sofort meine Mutter angerufen, um nach den Kindern zu fragen. Ich laufe hin und her und denke an dich.
     Meine Mutter hat die Kinder gebracht. Bjössi ist in die Schule gegangen, aber Birna ist bei mir. Sie sitzt am Küchentisch und isst Weintrauben. Ich war so froh, sie zu sehen.
     Bjössi fragte, wo ich gewesen bin, und ich sagte, dass ich es ihm erklären werde, wenn er aus der Schule heim kommt. Er ist so groß und versteht mehr, als er zu erkennen gibt. Ist es nicht langsam an der Zeit, ihm das mit seinem Vater zu erklären?
     Ich habe keine Vorstellung davon, was du gerade denkst, aber wir können später miteinander reden. Ich werde auf jeden Fall hier sein, wenn du wiederkommst.
     Birna und ich haben ein Nickerchen gemacht. Ich habe von dir geträumt. Du warst einfach hier. Mir ist, als könntest du jeden Moment hier auftauchen.
     Ich werde nachher mit dem Brief hinunter zur Polizeistation laufen. Sie sagen, sie würden dir die Briefe schicken. Ich weiß, dass sie sie lesen.

Deine Eva


2

Ich habe keine Ahnung, was ich am Sonntagabend, den 27. Januar des Jahres 2002 gemacht habe, als mein Namensvetter Einar Thor Jonsson an der Ecke von Thorsgata und Baldursgata, wo er allein zu Fuß unterwegs war, festgenommen wurde.
     Ich kannte Einar Thor überhaupt nicht, nicht damals ? aber drei Wochen nach der Festnahme schrieb er mir einen Brief aus dem Gefängnis Litla-Hraun.
     Er beginnt mit diesen Worten:
     "Ich heiße Einar Thor Jonsson und bin zur Zeit Untersuchungshäftling B4. Ich sitze seit Ende Januar in Untersuchungshaft und will mich nicht näher darüber auslassen, was damit alles verbunden ist.
     Ich hoffe, dass dich dieses Schreiben nicht in meine Angelegenheiten verwickelt, sie sind ohnehin schon kompliziert ge-nug. Ich möchte dir in erster Linie für deine Werke danken. Deine Bücher haben mir immer sehr viel bedeutet, und nachdem ich hierher ins Südland nach Litla-Hraun gekommen bin, habe ich sie noch einmal gelesen.
     Sie geben mir Kraft, innere Ruhe, und mein Verständnis dafür, was es heißt, verwaist zu sein, hat sich durch deine Geschichten erweitert.
Ich bin Waise ?"

...

Nein, ich habe keine Ahnung, was ich damals gerade machte, es ist auch nicht wichtig. Es war ja nicht ich, der festgenommen wurde. Ich könnte ohne weiteres etwas erfinden, über den Film, der im Fernsehen lief, das Essen, das ich aß, oder das Bier, das ich trank.
     Ja, sagen wir einfach, dass ich in dem Moment, als Einar Thor die Handschellen angelegt wurden, eine Bierdose öffnete und spürte, wie mich das eiskalte Bier mit dem dazugehö-rigen Wohlgefühl durchströmte. Das ist naheliegend. An Sonn-tagabenden genehmigte ich mir oft ein Bier oder zwei, oder sogar drei.
     Ich war dann auf der Suche nach der Ausgeglichenheit, nach der ultimativen Entspannung des Wochenendes, und ich hatte es verdient, und wie ich es verdient hatte, denn es warteten große und wichtige Projekte auf mich, ein ganzer Roman, "nicht meine Geschichte, die draußen in der Dunkelheit gefror, sondern die große Geschichte, die Geschichte des Schweigens", wie Pall in der Kurzgeschichte "Vielleicht ist der Postbote hungrig" sagt.
     Das Buch Vielleicht ist der Postbote hungrig enthält 38 Kurzgeschichten. Einige davon werden von Pall erzählt, der auch der Erzähler in Engel des Universums ist. Pall schreibt seinem Bruder Rabbi einen Brief. Ich nahm das aus Engel des Universums heraus, da es mir zu nahe an der Begebenheit im Restaurant Grillid im Hotel Saga erschien, als Viktor zahlen möchte und dem Kellner einen Zettel reicht, auf dem steht: "Wir sind alle Insassen von Kleppur. Seien Sie so freundlich und rufen Sie sofort die Polizei. Es war eine überaus anregende Mahlzeit."
     Die Titelgeschichte in dem erstgenannten Buch handelt ebenfalls von einem Fest. Pall möchte ein Fest veranstalten und schreibt einen Brief an Rabbi. Er endet so: "Ich schicke dir in diesem Brief ein Kotelett mit. Wenn es nicht dabei ist, war der Postbote vielleicht hungrig und hat es gegessen."
     Vielleicht ist der Postbote hungrig erschien 2001, doch nun hatten wir das Jahr 2002, und ich schrieb den Roman Namenlose Wege, nach Fußspuren am Himmel und Träume auf der Erde der dritte Band der Trilogie. Der Erzähler Rabbi sagt, er zeichne diese Begebenheiten auf, "um dem Schweigen eine Sprache zu geben und an das Vergessene zu erinnern". Deshalb schreibt er die Geschichte des Schweigens, die Geschichte jener Leute, die nirgendwo sonst erwähnt sind.
     Schweife ich ab? Nein, das ist Teil dieser Geschichte, die ich erzähle, der Geschichte, die mit dem Brief von Einar Thor oder seiner Festnahme beginnt, der Geschichte, die mich stark beschäftigte, von der ich mich aber nicht weiter aus dem Takt bringen ließ. Aber dann kam sie wieder zu mir zurück, wie es ihr zweifellos zugedacht war, ungemein viel geschieht auf diese Weise.
     Deshalb trinke ich einfach weiter an dem Bier, mit dem ich an dem Abend dasaß, als Einar Thor an der Ecke von Thorsgata und Baldursgata festgenommen wurde. Damals und im Grunde schon lange vorher trank ich aus einem zwanghaften Bedürfnis heraus. Das ist kein Geheimnis. Trotzdem hatte ich noch einen weiten Weg vor mir, bis ich mich geschlagen gab, und mehr als drei Jahre vergingen, bis sich meine und Einar Thors Wege kreuzten, er kam gerade aus dem Gefängnis, ich aus einer Entziehungskur, und noch einmal vergingen einige Monate und dann plötzlich ging mir ein Licht auf und es war, als hätte man mir mit einem Rüssel über das Hirn geschlagen.

zu Teil 2