Vorgeblättert

Leseprobe zu Elizabeth Taylor: Blick auf den Hafen. Teil 2

25.07.2011.
"Yvette und Guilbert", sagte Prudence. "Schauen Sie - sie sehen aus, als hätten sie lange schwarze Handschuhe an. Mein Vater hat ein Foto von ihrer Gattung in einem Buch."
     "Züchten Sie sie weiter?", fragte Bertram ohne echtes Interesse, den Blick auf jene Haustür gerichtet.
     "Nein, sie mögen sich nicht."
     "Wie unpraktisch."
     "Ja. Vor allem, weil Yvette manchmal sehr schwierig ist."
     "Verstehe." Sein Mund zuckte, und schon kam das weiße Taschentuch wieder hervor.
     In dem Moment erschien Tory an der Haustür und winkte. Sie sahen ihr nach.
     "Sie fährt nach London", sagte Prudence.
     "Ist sie ? ist sie Witwe?"
     "Nein. Geschieden. Ihr Mann ist mit einem von diesen weiblichen Offizieren auf und davon ?"
     "Bitte", sagte Bertram. "Ich bin ein Fremder. Ich habe kein Recht, das zu erfahren."
     Jetzt löste sich das Bild friedlicher Aufgeräumtheit, das der Hafen bis eben geboten hatte, auf und wurde von Menschen durcheinandergebracht, die mit ihrem Tagwerk begannen. Vor Mrs Braceys Haus tauchten Leitern auf und das Lachsrosa wurde mit dem ersten Strich nasser Schokoladenfarbe übermalt; ein Wischlappen wirbelte oben aus Mrs Wilsons Fenster; die Männer kehrten zurück und standen zwischen den rostigen Drahtspiralen, in denen sich schlaff herabhängender schwarzer Tang, Stoff- und Papierfetzen, auch zerbrochene Flaschen angesammelt hatten. Die Tür des Lokals öffnete sich mit einem Knall, und der Besitzer warf eine Kokosmatte hinaus und begann den Boden zu fegen, nachdem er die Stühle ordentlich auf die Tische gestellt hatte.
     "Der Chef", sagte Bertram lächelnd zu Prudence. Sie zuckte die Schultern. Ihr Geist streckte seine ruhelosen Fühler aus, hierhin und dorthin, sie saugten sich fest, ließen wieder los, und die Frage war stets: 'Was ist für mich von Nutzen?' Ganz gewiss nicht der "Chef", dieser schmuddelige, hart arbeitende Mann, der wie Charlie Chaplin aussah.
     Nur das Wirtshaus dämmerte noch in seinen Biergerüchen vor sich hin. Bertrams Fenster stand weit offen, sodass die Vorhänge heftig bewegt wurden. Das beunruhigte Mr Pallister immer, der einen Gutteil seines Lebens damit zugebracht hatte, die Meeresbrisen draußen zu halten, indem er Filz rund um die Türen nagelte und dicke Vorhänge in die Fenster hängte. Die Begeisterung für frische Luft schien ihm eine Marotte der Binnenländer zu sein, die er bei einem alten Seemann nicht erwartet hätte.
     Mrs Flitcroft, die tägliche Hilfe, wie sie sich selber nannte, stieg auf ihren berühmten kranken Beinen schwankend die steile Treppe neben dem Wachsfigurenkabinett hinunter, die Schürze eingerollt in ihrem Korb. Sobald sie Prudence sah, begann sie, mit einem Arm zu fuchteln und zum Haus zu zeigen, und gleich darauf übertönte ihr lautes Rufen die Wind- und Wassergeräusche.
     "Nun geh schon hinein!", schrie sie. "Ins Haus mit dir!"
     Prudence drehte den Kopf weg und ihr Hals rötete sich.
Auch die Katzen wandten vornehm und beleidigt den Blick ab.
     "Du mit deiner Brust!", rief Mrs Flitcroft im Näherkommen.
     Das Blut stieg vom Hals in die Wangen und mit dunkelrotem Gesicht begann Prudence zu husten.
     "Ohne Mantel! Ich weiß nicht, was deine Mutter sich denkt. Jetzt gehst du aber ganz schnell hinein."
     Unglücklich bewegte Prudence, von den Katzen behindert, den Kopf. Bertram gab ihr sein schönes sauberes Taschentuch.
     'Nicht doch', hätte er gern zu ihr gesagt. 'Du brauchst dich nicht gedemütigt zu fühlen, denn in meinen Augen bist du es nicht.'
     Sie beobachteten, wie Mrs Flitcroft um die Hausecke bog und den Seiteneingang der Cazabons ansteuerte, und als sie nicht mehr zu sehen war, hielt Prudence ihm das zerknüllte Taschentuch hin und lächelte. "Dumme alte Schnepfe!", begann sie mit unsicherer Stimme. "Sie ist schwer zu ertragen."
     'Nein, so geht es auch nicht', dachte er. Er hatte es lieber, wenn Frauen, auch sehr junge Frauen, sanftmütig waren. Diese spröde Flapsigkeit irritierte ihn. Junge Leute bilden sich Kränkungen ein, blasen sie auf, überwinden sie mit enormer Mühe oder schlagen zurück. Eine Vergeudung von Gefühl, fand Bertram, nicht bedenkend, dass man mit Gefühl nicht zu geizen braucht.
     "Auf Wiedersehen", sagte er.
     Die Katzen lagen an ihrer Schulter, die enzianblauen Augen weit geöffnet, während ihre seidigen Nasen in der verhassten frischen Luft ein wenig zitterten und der Wind ihr Fell in kleine Abteilungen zerpustete. Sie sehnten sich danach, wieder im Haus zu sein, im Sprechzimmer auf der Heizung zu liegen oder am Boden des Wäscheschranks. Als Prudence sie zum Haus zurücktrug, blickten sie über ihre Schulter hinweg verächtlich zum Meer.
     Die Männer zwischen den Stacheldrahtrollen pfiffen Iris nach, die vor dem Anchor stand und wartete, dass man sie hereinließ. Sie starrte geradeaus auf die Milchglasscheibe in der Tür.
     "Guten Morgen", sagte Bertram.
     "Guten Morgen." Ein ehemaliger Offizier, dachte sie. ('Dies ist mein jüngerer Bruder' - denn ihre Träume waren vorausgeflogen, hatten ein oder zwei Stadien übersprungen - 'Wie geht es Ihnen?' Sie trug ein graues Kostüm wie Mrs Foyle und eine Diamantbrosche. Seine Ärmel waren mit goldener Litze geringelt. Sie stand auf der anderen Seite des Tresens. Sie tranken rosafarbenen Gin.)
     Ned Pallister öffnete ihr nur in Hemd und Hose die Tür. Er war gerade mit dem Rasieren fertig, und neben seinen Ohren klebte noch ein wenig Schaum. Iris sah sich nach Bertram um, der weiter am Wasser entlangspazierte. Er sah herrlich sauber aus in seinem adretten marineblauen Anzug und dem leuchtend weißen Hemd, doch durch sein Haar schimmerte es rosa. Und wenn er einen Bruder hatte, dann war der mindestens sechzig (sie betrat jetzt die düstere Bierseligkeit des Schankraums) - und lebte am anderen Ende der Welt, auf den Kanarischen Inseln vielleicht oder in Panama.
     Sie zog die Vorhänge zurück, war aber klug genug, nicht die Fenster zu öffnen.

Lily Wilson sang, während sie ihren Wischlappen in der glitzernden Luft ausschüttelte. Sie überlegte sich, dass sie ja nicht für sich zu kochen brauchte, sondern zum Lokal hinuntergehen und dort etwas essen konnte. Als sie das beschlossen hatte, kam sie sich kühn und abenteuerlustig vor und vergaß, sich beim Abstauben von Bobs Foto auf der Kommode einsam zu fühlen.
     Auf dem Weg nach unten, mit ihrem Einkaufskorb in der Hand, war ihr leicht ums Herz, weil sie wusste, dass der Frühling bald da sein würde und die Abende wieder länger wurden - anhaltendes Tageslicht, in dem all die Wachsfiguren blieben, was sie jetzt waren, wertlos und unwirklich, und sie ins Kino oder auf einen Plausch zu Mrs Bracey gehen konnte, ganz ohne Angst, bei Dunkelheit nach Hause kommen und das hohe, knarrende Gebäude allein betreten zu müssen.
     Sie ging an der verglasten Eintrittskasse vorbei und sperrte die Tür auf. Bertram blickte in den Schaukasten, obwohl es dort außer schmutzfarbenem Papier und dem alten Plakat nichts zu sehen gab. Sie schämte sich und begann, von seinen neugierigen Blicken angestachelt, Vorsätze zu fassen. Als er ihr guten Morgen sagte, zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und nickte.
     Bertram schlenderte weiter zur Rettungsstation. Ihm schien, dass er nichts anderes tat, als herumzuwandern und den Leuten einen guten Morgen zu wünschen. Er betastete das Skizzenbuch in seiner Tasche und blickte aufs Meer hinaus. Eine kleine Jacht tauchte hinter der Landzunge auf, mit weißem Segel, schmuck, wie aus einer anderen Welt. Die Rettungsstation war verwaist. Er ging hinein und schritt um das Boot herum, als wäre dort jemand aufgebahrt. An den Wänden standen die Namen geretteter Schiffe und dazu die Daten: die Scarborough Belle, die Bounteous Sea, Pride of Lowestoft.

zu Teil 3

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