Vorgeblättert

Leseprobe zu Eugen Ruge: Cabo de Gata. Teil 2

30.05.2013.
Später lagen wir auf dem Fußboden, beide zurückverwandelt in Kinder, und inszenierten mit Socken und Schuhen, Buntstiften, Taschentüchern und was uns sonst in die Finger kam, irgendein im Moment erdichtetes Märchen, absurd und voller dramaturgisch nicht zu begründender Wendungen. Ich weiß nicht mehr, worum es in der Geschichte ging (es hatte irgendetwas mit chinesischer Oper zu tun, aber auch mit der Müllabfuhr und einem versehentlich verschrotteten Wesen, das wir Drei-Gramm-Kwautsch nannten), aber ich weiß noch, dass ich in einen regelrechten Flow geriet: Plötzlich, in dieser Stunde, schien all das Pedantische, Zwanghafte von mir abzufallen, all das Verschlossene und Verkopfte, das ich als das Erbe meines Vaters betrachtete und das mich, da war ich ganz sicher, sowohl im Leben als auch beim Schreiben behinderte.
Um Mitternacht stiegen wir aufs Dach, um uns das Feuerwerk anzusehen, mit dem Berlin das neue Jahr einböllerte. Ich erinnere mich, dass unter den Leuten, die auf dem Dach standen, auch die beiden Lesben waren, die mir von weitem ein (Betonung auf «eu») frohes neues Jahr zuriefen. Ich erinnere mich an die vereinzelten, schweren Flocken, die man in der Dunkelheit über den Dächern nicht sah, sondern erst spürte, wenn sie das Gesicht berührten. Ich erinnere mich an Sarahs feucht glänzende Wangen, an den Ausdruck des Glücks in ihrem Gesicht. Und ich erinnere mich an den Anflug von Zuversicht, der mich überkam, jener fast schon vergessenen, jugendlichen Zuversicht, die mich einmal - wie lange war das her? –- wie ein gütiger Engel durchs Leben getragen hatte.
Am nächsten Tag stieg ich in den Zug nach Barcelona.
 

6

Genauer gesagt, stieg ich in den Zug nach Basel, um dort den Nachtzug nach Barcelona zu nehmen. Das, so hatte sich bei der Bahnauskunft herausgestellt, war die einfachste und preiswerteste Verbindung in Richtung Süden, und dorthin wollte ich ja.
Vor der Abfahrt am Ostbahnhof hatte ich in der Bahnhofsbuchhandlung ein kleines spanisch-deutsches Wörterbuch gekauft und einen herabgesetzten, schon etwas veralteten Reiseführer, weswegen ich beinahe den Zug verpasste. Es war einer von den damals neuen Hochgeschwindigkeitszügen. Er fuhr an, ohne zu rucken, und wenn ich mich heute, erster Klasse fahrend, regelmäßig bei den (völlig schuldlosen) Schaffnern über das bei bestimmten Geschwindigkeiten auftretende Brummen und Jaulen beschwere, muss ich zugeben, dass mir der Zug damals geräuschlos erschien –- allerdings erinnere ich mich nur an die langsame Fahrt durch Berlin, das draußen, schon unerreichbar hinter den hermetischen Fenstern, vorbeirollte, und auch wenn ich dort nur die typischen Brachen neben dem Gleisbett sah, die Strommasten, Kleingärten, Bretterbuden, erinnere ich mich, dass sich beim Anblick all dessen meine Kehle verengte.
Von Basel weiß ich nur noch, dass ich spätabends auf dem Bahnsteig stand und der, wenn ich nicht irre, dreisprachigen Ansage lauschte: einer routinierten weiblichen Stimme, die vom Bahnhofshimmel widerhallte, so fern, so verkratzt wie aus einem historischen Radioempfänger.
Während ich von der Ansage so gut wie nichts verstand, erinnere ich mich noch genau an die ersten beiden spanischen Wörter, die ich aus dem Mund eines lebendigen Menschen hörte, nämlich aus dem des Nachtzugschaffners, der mir die Funktionsweise des elektrisch verstellbaren Liegesessels erklärte. Bajo –- sagte er, als er den Sessel per Knopfdruck nach unten bewegte, und alto, als er ihn wieder nach oben fahren ließ. Ich blies mein Nackenkissen auf und drückte auf bajo.
Das nächste Bild stammt schon vom Morgen: Der Zug zuckelt mit gedrosseltem Tempo durch unansehnliche Vororte. Schäbige rosa Neubauten, die an Rumänien oder Russland erinnern. Hoffnungsvoll registriere ich, dass die Topfpflanzen hier auch im Januar draußen auf den Balkons stehen.
Dann sehe ich mich eine lange, von Palmen gesäumte Allee entlanggehen, fast meine ich, den Rucksack, in dem ich mein restliches Leben verstaut habe, auf den Schultern zu spüren; meine Beine erinnern sich an das Gewicht: Ich ging langsam und gleichmäßig -– und wenn ich ein wenig in diesem Bild verweile, erinnere ich mich sogar daran, wie ich meinen Hut, der mir, da ich durch die Last gebeugt war, die Sicht nahm, in den Nacken zu schieben versuchte, was sich als schwierig erwies, weil die Hutkrempe am hinter mir aufragenden Rucksack anstieß.
Ich ging bis zur Plaza de Colon –- ein runder Platz mit Säule, darauf Kolumbus, der mit großer Geste übers Meer wies (allerdings, wie mir auffiel, in die falsche Richtung, nämlich nach Süden) –- und bog dann rechts in die Rambla ein, um in der nächsten oder übernächsten Querstraße das kleine Hotel zu suchen, das der spanische Reiseführer, den ich am Ostbahnhof gekauft hatte, als preiswert empfahl. Das Hotel hieß, glaube ich, Maritim, es befand sich im zweiten oder dritten Stock eines schwülstigen Gründerzeithauses. Hinter einer ebenso schwülstigen Wohnungstür stieß man auf eine Art Rezeption, eigentlich nur eine Theke, an der ein dicklicher Mann mittleren Alters sein Leben zu fristen schien. Sein Gesicht hatte die Farbe von Pflanzentrieben, denen das Tageslicht fehlt, seine Bewegungen waren schlangengleich, und sein Spanisch klang in meinen Ohren wie abfließendes Spülwasser. Er zeigte mir ein schmales, dunkles Zimmer, das sich bei näherer Betrachtung als Segment eines ehemals großzügigen Raumes erwies, das man durch eine Sperrholzwand abgetrennt hatte. An der Zimmerdecke sah man die brutal unterbrochene Stuckleiste. Das Zimmer kostete 1500 Pesetas, also etwa 18 Mark, und ich erinnere mich, dass ich sofort auszurechnen begann, wie lange mein Geld reichen würde, wenn ich hier bliebe.
Nachdem ich mein Gepäck abgestellt hatte, trat ich wieder hinaus auf die Rambla. Es muss gegen zehn Uhr morgens gewesen sein. Die Sonne wärmte schon, der Himmel war blau. Ich fühlte mich wunderbar leicht ohne Rucksack. In meinem Reiseführer hatte ich gelesen, das schöne Wort Rambla bedeute ursprünglich ausgetrocknetes Flussbett, und ich weiß noch, dass mir diese kleine etymologische Wendung sofort das Gefühl gab, orientiert zu sein, ein wenig von der Topographie der Innenstadt zu verstehen, die um dieses ehemalige Flussbett herum gewachsen zu sein schien.
Wie in jeder fremden Stadt begann ich sofort nach dem Besonderen, Abweichenden im Stadtbild zu suchen, nach dem typisch Barcelonischen. Ich erinnere mich an die zahlreichen Zeitungskioske, die sich, während ich vorbeiging, einer nach dem anderen entfalteten wie gigantische Schmetterlingslarven. Ich erinnere mich an Blumenverkäufer, die ihre Ware auf dem Gehweg auszubreiten begannen, an Bäuerinnen, die Käfige mit lebenden Hühnern aufeinanderstapelten. Ich erinnere mich an einen blinden Losverkäufer, der inmitten der Buntheit in einem telefonzellengroßen Häuschen saß und den Geldschein einer Kundin mit beiden Daumen und Zeigefingern befühlte.
Im Reiseführer hatte ich auch gelesen, dass es hier, auf dem Pflaster der Rambla, ein Miró-Mosaik zu besichtigen gab, und obwohl ich zugeben muss, dass ich mich nur mäßig für Miró interessiere, begann ich danach zu suchen, zuerst beiläufig, dann mit zunehmender Unrast. Mehrmals pendelte ich zwischen der Plaza de Colon und der Plaza de Catalunya hin und her, aber die Wahrscheinlichkeit, den Miró zu finden, wurde immer geringer: Mit jedem Mal war das Pflaster weiter zugestellt, die Rambla wurde immer voller, das Gedränge größer. Touristen in kurzen Hosen tauchten auf. Plötzlich waren überall Stände, an denen irgendwelcher Plunder verkauft wurde: sogenannte Souvenirs oder irgendwelche vermutlich in Vietnam gefertigten Textilien, und nachdem ich zum soundsovielten Mal an einem der auf dem Pflaster ausgebreiteten Blumenteppiche vorbeigegangen war, kniete ich nieder, um den Verdacht, der in mir aufstieg, prompt bestätigt zu finden: Die Blüten waren geruchlos.
Ich verließ die Rambla, marschierte eine Zeitlang durch die Altstadt, schaute mir sogenannte Sehenswürdigkeiten an, von denen ich nichts mehr weiß, im Grunde noch nicht einmal, dass ich sie sah. Das Einzige, woran ich mich erinnere, sind die blinden Losverkäufer, die plötzlich überall waren und die mir jetzt vorkamen wie Sklaven einer mächtigen, kriminellen Organisation; und ich erinnere mich an die Unruhe im Innern, die ich gleichsam aus der erfolglosen Suche nach dem Miró-Mosaik forttrug, die mich durch die alten Straßen und Gassen trieb, als würde ich noch immer nach etwas suchen. Irgendwann aß ich in einem Restaurant in der Nähe der Markthalle Bacalao, angeblich ein Nationalgericht: versalzener Fisch in dunkler Mehlschwitze. Danach schlief ich eine Stunde in der Sonne auf einer Bank und machte mich dann wieder auf den Weg– jetzt zur Kathedrale von Gaudí, der größten, berühmtesten Barcelonas, an der, wie mein Reiseführer mit merkwürdigem Stolz berichtete, seit über hundert Jahren gebaut werde, weil sie nur durch Spenden und Stiftungsgelder finanziert sei.
Ich weiß nicht mehr, ob die Kathedrale geschlossen hatte oder ob ich zu geizig war, das Eintrittsgeld zu zahlen, falls ein solches verlangt wurde, jedenfalls sah ich das Bauwerk nur von außen: eine monströse Kleckerburg, die ich mehrmals umkreiste, fassungslos vor so viel steingewordenem Wahn. Sechs oder sieben oder acht schwarze Türme stachen wie Lanzen in den seidenen Abendhimmel. Im Park auf der Rückseite der Kathedrale bettete sich eine Obdachlose zur Nacht.
 
zu Teil 3
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