Vorgeblättert

Leseprobe zu Francois Walter: Katastrophen. Teil 3

15.03.2010.
(S. 202 ff)

9. Die neuen Risikokulturen


Insofern das Risiko ein gesellschaftliches Konstrukt ist, verdienen alle Spielarten von Wahrnehmungen, die mit dieser Bezeichnung versehen werden, unsere Aufmerksamkeit, um herauszufinden, inwieweit Risiken im Feld empirischer Beobachtung als gegeben oder als konstruiert angesehen werden. Trifft Ersteres zu, bestehen die Risiken unabhängig von unserer Wahrnehmung, was dem Begriff der Unwägbarkeit, d.h. des Zufallsereignisses entspräche. Die Unwägbarkeit wäre so ein potentielles Ereignis mit mehr oder weniger hoher Eintrittswahrscheinlichkeit. Im zweiten Fall wäre das Risiko weit mehr das Ergebnis eines Evaluationsprozesses, der nicht nur von der außerhalb unserer Wahrnehmung bestehenden Realität abhängt. Wie Mary Douglas erinnert, ist das Risiko "keine Sache, sondern ein Denkmodus, und als solcher ein genialer Kunstgriff".(57) Es ist die Wahrnehmung einer möglichen Gefahr nicht nur mit einem bestimmten Grad an Wahrscheinlichkeit, sondern auch an Vorhersehbarkeit. Gruppen, die ihm ausgesetzt sind, versuchen sich in bezug auf sein mögliches Eintreffen und auf seine mehr oder weniger voraussehbare lokale und zeitliche Eingrenzung selbst eine Vorstellung zu machen.(58) Es impliziert mentale Repräsentationen, d.h. triftige Schemata der kollektiven, sozialen und kulturellen Realität, die sich als operativ begreifen. Das bedeutet, Risiken sind immer Ergebnis dialektischer Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Repräsentationen und Praktiken. Sie resultieren aus der Begegnung von Unwägbarkeit und Verwundbarkeit. In diesem Sinne sind sie Teil des Zivilisationsprozesses. Man muss sich folglich fragen, warum die Risikoempfindlichkeiten bzw. die Sicherheitsanforderungen im Lauf der Geschichte zugenommen haben. Ist das Leben heute risikoreicher als früher? Oder hat sich aus einer ganzen Reihe von Gründen nur die Risikoempfindlichkeit erhöht? Zu den Faktoren, die mehr für die Hypothese einer größeren Verwundbarkeit der Gesellschaft sprechen, gehören zweifellos "die Zunahme von Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Lebensvoraussetzungen, die innovationsbedingt abnehmende Vorhersehbarkeit von Zukunft, die Abnahme von Erfahrungswissen, das durch Vertrauen in Experten ersetzt werden muss". Letztere liefern immer mehr Informationen, die sich einer Überprüfung durch den gesunden Menschenverstand entziehen, während in der Öffentlichkeit eine spürbare Verbesserung des persönlichen Sicherheitsniveaus erwartet wird.59 Im 20.Jahrhundert steht das kulturelle Modell der Risikowahrnehmung in der Regel in offenem Gegensatz zum rationalen Modell von Wirtschaft bzw. Experten. Im Ersteren spielen Werte, persönliche Einstellungen und individuelle Erfahrung die größere Rolle. Im Zweiten werden momentane Präferenzen (wie die Aussicht auf wirtschaftlichen Gewinn oder die Notwendigkeit, eine technische Lösung durchzusetzen) höher gewichtet als diese Werte, und die Akzeptanz der eingegangenen und gebührend eingegrenzten Risiken wird vorausgesetzt. Einfach ausgedrückt, in der technokratischen Einschätzung dieser Dichotomie ist es gängig, den Standpunkt des einfachen Bürgers, der als labil, irrationalen Gerüchten gegenüber anfällig und gefühlsgeleitet gilt, dem des Experten entgegenzusetzen. Aus dieser komplexen Dialektik entstehen vielschichtige Kulturen, die mindestens drei Dimensionen aufzeigen: Risiken, die für das soziale System konstitutiv sind, das diffuse Fortbestehen des Heiligen und der Primat der Vorsorge.


9.1 Vom Risiko des Einzelnen zur Risikogesellschaft


Während "Naturkatastrophe" seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein gebräuchlicher Ausdruck ist, nicht mehr um ein unerhörtes Ereignis, sondern ganz einfach eine ungewöhnliche und erklärbare Krise zu bezeichnen, so begegnet man dem Konzept des Risikos in der Bedeutung, in der es dem gleichen semantischen Feld angehört, erst in den Jahren 1970-80. Umweltrisiken sind "das Produkt aus einem zufällig gegebenen Umstand (evaluiert anhand seiner Vorkommenswahrscheinlichkeit und seines Zerstörungspotentials bzw. seiner 'Wirksamkeit'), und der Schäden, das dieses an einem bestimmten Ort anrichten kann".(60) Der Terminus als solcher wird auch in der Kulturanthropologie recht häufig verwendet, wo das Wort "Risiko" sogar die Mittel bezeichnet, die die heutige Gesellschaft entfaltet, um kulturelle Schranken zwischen sozialen Gruppen aufrechtzuerhalten. Der Begriff fügt sich dort ein in die Perspektive der Governance (Lenkungs- und Strukturformen von Institutionen aller Art). Die Behörden erarbeiten einen Diskurs zur Verwaltung und Regulierung und suchen eine Risikopolitik zu entwickeln, die aus ihr ein echtes strategisches Machtmittel macht.
     Aber bis heute hat man bei der Analyse Schwierigkeiten, die beiden Komponenten des Konzepts, natürliche wie kulturelle Elemente, gleichzeitig zu berücksichtigen. Belässt man es doch oft bei dem vorherrschenden Paradigma der Trennung von Mensch und Natur. Dabei setzt man Risiken immer mit Katastrophen gleich, die aber eigentlich nur die sichtbare Form der Risiken darstellen. Und nicht zuletzt ist es schwierig, den individuellen Ansatz mit seinen Repräsentationen, die auch symbolische Dimensionen (die zumeist auf individuellen Ängsten beruhen) umfassen, mit dem leichter quantifizierbaren kollektiven Ansatz zu versöhnen.(61)
     Unter diesem Blickwinkel gehen manche so weit, die globale Wahrnehmung unserer Gesellschaft als "Risikogesellschaft" zu verharmlosen. Der Terminus ist von dem deutschen Soziologen Ulrich Beck geprägt worden. Seiner Meinung nach besteht der große Unterschied zwischen der Vergangenheit und unserer Epoche darin, dass Letztere sich "vor allem durch einen Mangel" kennzeichnet: durch die Unmöglichkeit, bedrohliche Situationen externen Ursachen zuzuschreiben. Im Gegensatz zu allen früheren Kulturen und Entwicklungsphasen sei die heutige Gesellschaft mit sich selbst konfrontiert.(62) Es gebe keine Welt außerhalb der Gesellschaft. Selbst die Natur werde unter sie subsumiert, und zwar so, dass "kein Reservat" mehr existiere, in das man die "Kollateralschäden" unserer Handlungen abwälzen könnte. Die Risiken seien von der Gesellschaft selbst gemacht.
     Nach Beck hat das Abendland bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von den Möglichkeiten der Distanzierung gelebt: Die Kategorie des "Anderen" war ein Mittel, materielle oder symbolische Schranken aufzurichten. So hat man beispielsweise, um Feuersbrünste in Städten und Dörfern zu erklären, häufig das Treiben von Randgruppen dafür verantwortlich gemacht (Landstreicher, Vagabunden, Bettler, Prostituierte, Juden, Zigeuner oder irgendwelche Reisenden) und all diese unerwünschten Personen verfolgt. So hatte jeder noch den Eindruck, sich vor Gefahren schützen zu können. Gleichzeitig konnte man im Diskurs der Experten, vor allem in der Medizin, das Augenmerk auf benachteiligte soziale Schichten und ethnische Gruppen lenken, die man für imstande hielt, die gesamte Gesellschaft anzustecken, sei es mit Geschlechtskrankheiten oder tropischen Infektionen. Möglichkeiten, diesen Gefahren abzuhelfen, standen zur Verfügung, von der Medizin bis zur Technik. So hat der vorherrschende Diskurs auch die unerschöpflichen Möglichkeiten wirtschaftlichen Wachstums und Entwicklung hervorgehoben, um Risiken der Verarmung und Ansteckung zu begegnen.
     Im 19. und 20. Jahrhundert wird die Verwundbarkeit durch Naturkatastrophen zum Zufall oder beschränkt sich offenbar auf die außereuropäische Welt. Weiß man denn beispielsweise, dass in den 1990er Jahren 99 Prozent der Opfer von Naturkatastrophen in Ländern außerhalb Nordamerikas und Europas lebten?(63) Diese Beobachtung hat zur Beförderung eines neuen Paradigmas geführt, das sich bei der Katastrophenbewältigung allmählich durchsetzt. Entsprechend diesem sogenannten strukturellen Paradigma ermittelt man den Zusammenhang zwischen Umweltkatastrophen und dem Entwicklungsstand der betroffenen Gebiete. Man interessiert sich nicht nur für geophysikalische Prozesse, sondern mehr für sozioökonomische Mechanismen der Verwundbarkeit.(64) Dies förderte so wichtige Entdeckungen, wie sie z.B. Jacob Bjerknes Ende der 1960er Jahre machte, der nachweisen konnte, dass die Äquatorialzone des Pazifischen Ozeans mit ihren Passatwinden die Niederschläge in der Gesamtheit der tropischen Regionen beeinträchtigt. So hat die schnelle Erwärmung der westlichen Hälfte der Äquatorialzone des Pazifiks vor allem schwache Monsunregen und Dürreperioden in Asien und Afrika zur Folge, ein Phänomen, das unter dem Namen El Niño bekannt ist. Erstmalig konnte man auch den Zusammenhang zwischen den unerbittlichen Mechanismen einer sich gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden Weltwirtschaft und einer der schrecklichsten Hungersnöte in Indien, Brasilien, China und Afrika als Folge weltweiter klimatischer Umwälzungen begreifen, die damals niemand für möglich oder auch nur für vorstellbar hätte halten können.(65)
     Die Globalisierung des Risikos nimmt mit den großen Industriekatastrophen neue Formen an. Seit Tschernobyl (1986) den Zusammenbruch der Reaktorsicherheit nachgewiesen hat, besteht keine Möglichkeit mehr, Gefahren definitiv auszuschließen. Die Hypothese einer eventuellen Umwandlung von Risiken in Sicherheit ist nun gar völlig obsolet. Seither geht man dazu über, die Beziehun-
gen zwischen Risiken und Rationalität neu zu definieren, auf einer Basis, die die Technokraten der Jahre 1950-1960 als überkommen verworfen hätten. Laut Ulrich Beck hat der Individualismus der Moderne dazu geführt, dass sich das Individuum vor Gefahren zu schützen suchte. Heute ist die Angst zum Produkt des am weitesten entwickelten Stadiums der modernen Welt geworden und jede Form von Distanzierung ist nunmehr unwahrscheinlich.
     Der Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft ist ein Konstrukt des 19. Jahrhunderts, als die Natur noch als etwas Externes angesehen wurde. Ende des 20. Jahrhunderts jedoch ist die gänzlich unterworfene und ausgebeutete Natur zum "internen Phänomen" geworden. Nach Beck ist "die Kehrseite der vergesellschafteten Natur die Vergesellschaftung der Naturzerstörungen, ihre Verwandlung in soziale, ökonomische und politische Systembedrohungen der hochindustrialisierten Weltgesellschaft".(66) Die Industriegesellschaft sowie die Moderne im allgemeinen haben sich historisch durchgesetzt, indem sie ihren Gegenpol zerstörten, während sich die postmoderne Gesellschaft reflexiv konstruiert. Deswegen stünde die "Wissenschafts-, Technik- und Fortschrittskritik nicht im Widerspruch zur Moderne", sondern sei "Ausdruck ihrer konsequenten Weiterentwicklung".(67) Wir befinden uns am Ende des Mythos vom Ende der Geschichte, der besagte, dass unsere gänzlich modern gewordene Gesellschaft, ein nicht mehr steigerbares Stadium an Vollendung erreicht hätte.
     Die Risiken der Moderne sind persönliche Risiken, die man auf sich nimmt, um ein Abenteuer zu bestehen oder ein wirtschaftliches Unternehmen zu gründen. Diese Variante hat beim Betreiben von Extremsportarten zweifellos einen erstaunlich hohen Faszinationsgrad erreicht. Unserer Gegenwart ist jedoch die spezifische Besonderheit eigen, dass alle ohne Ausnahme einer Anzahl globaler Risiken ausgesetzt sind, einschließlich dem der möglichen Selbstvernichtung allen Lebens auf der Erde. Früher konnten kollektive Risiken einer technologischen Unterversorgung angelastet werden, z.B. der mangelhaften sanitären Ausstattung der städtischen Wasser- und Abwasserversorgung mit ihren jeweiligen gesundheitlichen Konsequenzen. Heute erscheinen sie als implizite Folgen der Industrialisierung. Die Natur ist zum Artefakt geworden, sie ist selbstproduziert. Die Forscher, die sich mit ihr beschäftigen, können sich nicht mehr das Etikett einer ausschließlich naturwissenschaftlichen Position anheften, die Natur, mit der sie konfrontiert sind, ist eine "interne, in den Zivilisationsprozess hineingeholte Zweitnatur und insofern durch und durch mit wenig 'natürlichen' Systemfunktionen und -bedeutungen be- und überladen".(68) Die Natur birgt selbst in den Händen der Naturwissenschaftler politisches Potential, die, was jene auch immer tun (die kleinste Maßnahme, bar jeden Werturteils), die Gesellschaft als Ganzes betreffen. Damit ist "die Risikogesellschaft eine katastrophale Gesellschaft. In ihr droht der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden",(69) wobei dieses neue Stadium durch das Ende des Gegensatzes von Natur und Gesellschaft markiert ist, der die gesamte neuzeitliche Entwicklung gekennzeichnet habe. "Umweltprobleme sind keine Umweltprobleme, sondern durch und durch - in Genese und Folgen - gesellschaftliche Probleme, Probleme des Menschen, seiner Geschichte, seiner Lebensbedingungen, seines Welt- und Wirklichkeitsbezuges, seiner ökonomischen, kulturellen und politischen Verfassung".(70) Während in der ersten Moderne (der einfachen Moderne) Naturwissenschaft, Fachkenntnis und Kalkulation ermöglichten, die Unsicherheit zu ermitteln, ist in der neuen Moderne (der reflexiven Moderne) das Risiko aufgrund der Unfähigkeit, das Verhalten von Natur und Gesellschaft vorauszusehen, integraler Bestandteil der Gesellschaft. Mehr noch, die reflexive Moderne integriert die Möglichkeit der Vernichtung all dessen, was eine ganze Epoche hervorgebracht und genau die Industriegesellschaft konstituiert hat, die nun Vergangenheit ist.(71)

                                         *

Mit freundlicher Genehmigung des Reclam Verlages


Informationen zum Buch und Autor hier