Vorgeblättert

Leseprobe zu Geert Buelens: Europas Dichter und der Erste Weltkrieg. Teil 1

31.03.2014.
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Ein heißer Sommer
Juli-September 1914

Für mich ist es ein Vorspiel von schrecklicher Schönheit.
- Louis Couperus, München, 8. August 1914(1)


Am Donnerstag, dem 23. Juli 1914, kam die gerade fünfundzwanzig Jahre alt gewordene Dichterin Anna Achmatowa (1889-1966) in der Datscha ihrer Schwiegermutter in Slepnjowo nahe der Stadt Beschezk an.(2) Ihr fast zweijähriger Sohn Lew erwartete sie dort. Ihr Mann, der flamboyante Dichter und Weltreisende Nikolai Gumiljow (1886-1921), wollte lieber einen einsamen Sommer am Finnischen Meerbusen verbringen, im karelischen Grenzland. Obwohl es ruhig war in Slepnjowo und Achmatowa in den Sommern dort immer literarisch produktiv war, war ihr der Ort zuwider. An das mondäne Leben in Sankt Petersburg gewöhnt, konnte sie dem in jeder Hinsicht platten Landstrich in der abgelegenen Provinz Twer nichts abgewinnen. Nun, wo fünfhundert Kilometer weiter nördlich das sprühende Salonleben ihres geliebten Sankt Petersburg für ein paar Monate pausierte, war sie verurteilt zur Gesellschaft zweier Frauen - ihrer Schwiegermutter und einer alten Tante Gumiljows -, die die Zeit damit verbrachten, ihr eigenes Totenhemd zu besticken.(3) Das Leben dort sei manchmal unerträglich, schrieb sie dem symbolistischen Dichter Georgi Tschulkow, und die absolute Ruhe und die Langeweile hinderten sie sogar daran, an einem Text weiterzuarbeiten, der ihr erstes Langgedicht werden sollte, "Am Ufer des Meeres". Hin und wieder erreichten sie Nachrichten aus der Außenwelt, doch die kamen ihr, so betonte sie, "vollkommen unwahrscheinlich" vor.
     Am Sonntag nach ihrer Ankunft schrieb sie ihrem Mann und fragte ihn ungeduldig, ob er nicht auch nach Slepnjowo kommen wolle und ob er noch Neuigkeiten und Klatschgeschichten aus Sankt Petersburg für sie habe. Den stumpfsinnigen Nachbarn ginge sie aus dem Weg. Vier Tage später, am Donnerstag, dem 30. Juli, war alles noch öder: Nun herrschte auch noch schlechtes Wetter - "ich sage einen frühen Herbst voraus." (5) Mit Nachdruck bat sie ihren Mann, ihr Geld zu schicken. In dem Brief an Tschulkow sprach sie von Plänen, für sechs Wochen in die Schweiz zu reisen, doch wie sie diesen Aufenthalt bezahlen wollte, ist angesichts ihrer chronischen Geldsorgen unklar. Der Lauf der Geschichte machte eine Antwort auf diese Frage überflüssig.
     An diesem dreißigsten Juli ordnete Zar Nikolaus II. die Generalmobilmachung an. Die Spannungen zwischen Österreich und Serbien, dem Brudervolk der Russen, hatten sich in der letzten Juliwoche dramatisch zugespitzt.(6) Nachdem es nicht vorbehaltlos auf sämtliche Bedingungen eines - von Beobachtern als kriegstreiberische Provokation bezeichneten - Ultimatums Österreichs hatte eingehen können, hatte sich Serbien am 25. Juli gezwungen gesehen, mobilzumachen, und drei Tage später hatte Österreich auch im wörtlichen Sinn das Feuer eröffnet.(7) Die Hetze und die Provokationen von deutscher Seite machten den Zaren und seine Generäle sehr nervös. Länger zu zögern schien gefährlich, denn im großen russischen Reich würde es viel länger dauern als beim so modernen Feind, die Armee einigermaßen geordnet in Kampfbereitschaft zu versetzen. Kaiser Wilhelm II., Nikolaus' Cousin, der nicht einmal annähernd mitbekam, was seine Generäle hinter seinem Rücken alles ausheckten, bat den Zaren eindringlich, seinen Entschluss zur Mobilmachung zurückzunehmen: "Noch kann der Friede Europas durch Dich erhalten bleiben."(8) Nikolaus, der seinen Entschluss bereits bereute, ließ sich von seinen Generälen und Ministern überzeugen, dass es keinen Weg zurück mehr gab, und teilte dem Kaiser schweren Herzens mit, "die militärischen Vorbereitungen einzustellen" sei "technisch unmöglich", Russland liege es jedoch fern, einen Krieg zu wünschen. Am nächsten Tag war auch über Sankt Petersburg der Himmel grau; das entspreche seiner Gemütslage, notierte der Zar niedergeschlagen in seinem Tagebuch. Die militärischen Vorbereitungen dauerten inzwischen unvermindert an. Die österreichischen Truppen rückten rasch in Richtung Serbien vor und ließen die Grenze zu Russland nahezu unverteidigt zurück. Das erhöhte natürlich den Druck bei den Deutschen, die immer auf Österreichs Unterstützung gezählt hatten, um dem slawischen Riesen Paroli zu bieten. Am 1. August sah sich der Kaiser gezwungen, die unvermeidlichen Konsequenzen zu ziehen: Da Russland die Mobilmachung fortsetzte und auf ein deutsches Ultimatum nicht einmal reagiert hatte, nahm das deutsche Reich "die Herausforderung" an und erklärte Russland den Krieg. In Wirklichkeit suchte Deutschlands Militärführung schon seit Jahren nach einem Vorwand, den angestrebten Ausbruch eines europäischen Krieges Russland in die Schuhe schieben zu können.(9) Der Plan war gelungen.
     Als die Nachricht von der Kriegserklärung einen Tag später auch Slepnjowo erreichte, waren die drei Frauen - diesmal in seltener Eintracht - völlig fassungslos. Der kleine Lew wusste nicht, wie ihm geschah: Mutter, Großmutter, Großtante - sie alle schienen untröstlich. Einundfünfzig Jahre später erinnerte sich Achmatowa noch immer ganz genau daran. Die Frauen im Dorf brachen in eindrucksvolle Klagen aus, und in dieser Stunde der Verzweiflung teilte die dort sonst so abgeschottet lebende Dichterin die allgemeine Stimmung. Es war ein Gefühl, als stürze ihr Leben ein. In dem zweiteiligen Gedicht "Juli 1914", das sie an diesem Tag - dem 20. Juli nach dem julianischen Kalender - schrieb, spricht eine apokalyptische Seherin. Die außergewöhnlichen Wetterverhältnisse ("Schon seit Ostern dürstet das Feld") und der beißende Geruch von brennendem Torf, der anscheinend auch den Gesang der Vögel verstummen und das Laub der Espen erstarren ließ, waren Vorzeichen einer unvorstellbaren Katastrophe:

     Schreckenszeiten sind nahe,
Frische Gräber dicht an dicht.
Erwartet Hunger, erwartet Strafen
Und der Sterne verfinstertes Licht.

Wie bei Alexander Blok haben Achmatowas Visionen einen eschatologischen Beiklang, und es wird sehr konkret eine Verbindungslinie zum Schicksal von Mütterchen Russland gezogen. Der "Einbeinige", den die Dichterin in diesem Gedicht zu Wort kommen lässt, ist aber nicht ohne Zuversicht, denn eine noch größere Mutter wacht:

Und doch wird er nicht sich zur Freude
Unsere Erde zerteilen, der Feind:
Gottesmutter zum Schutz uns breitet
Weiß ein Linnentuch über das Leid.(10)

Könnte die unheilverkündende Stimmung in einem Gedicht, das vom Beginn eines Krieges handelt, noch eindrücklicher sein? Das Erste, was die Lyrikerin heraufbeschwört, ist Brandgeruch. Dann ist die Rede von frischen Gräbern, unsäglichem Kummer, Soldatenwitwen und zertrampelten Feldern. Achmatowas radikale, oft biblische Bilder, in denen ein Gebet um Regen mit der Nässe warmen Soldatenbluts beantwortet wird, legen nahe, dass "Juli 1914" nicht als eine realistische, dokumentarische Beschreibung der Ereignisse in diesen dramatischen Tagen gemeint ist. Dennoch deutet manches darauf hin, dass die Atmosphäre dieses Gedichts nicht nur ihrer dichterischen Vorstellungskraft entsprungen ist. Abgesehen von dem Gemeinplatz, dass sich praktisch ihr ganzes Werk als ein intimes Tagebuch liest, scheinen in diesem Teil Nordeuropas im Sommer 1914 tatsächlich seltsame Wetterphänomene beobachtet worden zu sein. Ob sie die gleiche Erfahrung oder aber eine ähnliche Phantasie teilten, ist nicht deutlich, aber in einem Gedicht von Achmatowas Mann Gumiljow über diesen Schlüsselmoment fällt eine ähnliche Beschreibung auf:

Der Sommer war gewitterschwül durchloht
Mit stickigen und glühend heißen Tagen,
so daß das Herz, von Dunkelheit bedroht,
erstickt von Schwüle, aufgehört zu schlagen.
Und schon am Mittag war die Sonne rot.
Die Ähren konnten kaum die Körner tragen.(11)

Ob Symbolik oder Wirklichkeit, worum es geht, dürfte deutlich sein: die atmosphärische Spannung konnte jeden Moment mit einem großen und erstörerischen Knall zur Entladung gebracht werden. Und als das geschah, so betonte Achmatowa später mehrmals, begann das zwanzigste Jahrhundert.(12)
     Die fast hysterische Stimmung im Russland jener Tage lässt Alexander Solschenizyn in seinem Dokumentarroman August Vierzehn (1971) durch eine Collage von historischen Zeitungsschnipseln aufleben. Patriotische Gedichte beschworen in den Blättern die Einheit mit den Serben als Slawen und Glaubensbrüdern. Gott würde den deutschen Aggressor strafen in dem,
was sich als der allerletzte und entscheidende Krieg in der europäischen Geschichte ankündigte. Gusseiserne Statuen wurden vom Dach der deutschen Botschaft gezogen und in der Moika versenkt. Vertreter jeder ethnischen Gruppe und Religion im russischen Reich versammelten sich in der Duma und erklärten sich solidarisch. Hunderttausend Russen strömten vor dem Winterpalais zusammen und knieten dort feierlich nieder, Fahnen und Ikonen in der Hand. Gott, Zar und Volk bildeten eine unbesiegbare Dreieinheit.

…Die Serben kamen, unsre Brüder,
Im hehren Glanz erschien der Hof,
Den Reservisten, immer wieder
Entrang sich einiges "Hurra!"
Man betete für unsre Waffen,
Und in der Kirche sang der Chor,
Da trat nach unsrer Väter Sitte
Zu seinem Volk der Zar hervor.(14)

Schriftsteller und andere Intellektuelle, die zuvor oft dem Vorwurf der Dekadenz und des Elitismus ausgesetzt waren, fanden plötzlich wieder Anschluss an das, was das Volk beschäftigte. Symbolisten der alten Garde (Fjodor Sologub, Wjatscheslaw Iwanow) ebenso wie ihr junger akmeistischer Kollege Sergej Gorodezki holten nicht nur das Reimwörterbuch, sondern auch den Säbel hervor und rühmten den ehrenvollen, heiligen Krieg, der die lang erwartete Neubelebung des russischen Geistes bewirken solle.(15) Für sie war es ein Kulturkampf, der Sieg über den Feind von außen würde auch das Übel im Innern töten.
     Im Hintergrund stand eine zentrale Frage, die Russlands Platz in Europa betraf: Ließ sich die slawische Seele überhaupt mit der deutschen in Einklang bringen? Für einen Dichter wie Wjatscheslaw Iwanow (1866-1949), der wie so viele seiner russischen Zeitgenossen in Deutschland studiert hatte und durch die Lektüre von Goethe, Novalis und Nietzsche geprägt war, war das keine theoretische Frage, sondern ein Problem, das den Kern seiner Identität berührte. Um dem Dilemma zu entgehen, unterschied Iwanow strikt zwischen dem "klassischen" und dem von preußischen militaristischen und materialistischen Werten durchdrungenen "modernen" Deutschland.(16) Die Organisationswut und der Kollektivismus des jungen deutschen Staates waren unvereinbar mit seinem Traum von sobornost, einer Art organischer Volksgemeinschaft auf der Grundlage gemeinsamer spiritueller Werte.(17) Der Krieg würde Russland die Chance bieten, wieder zu sich selbst zu finden und Europa zu beweisen, dass es viel mehr war als die rückständige Kultur, die vor allem Deutsche in ihm sahen. Wo Großbritannien und Frankreich in dieser Frage eingeordnet wurden, war nicht ganz klar: Auch das waren natürlich große westliche Mächte, die oft auf Russland hinabblickten und, vom russischen Standpunkt aus gesehen, nicht unbedingt die richtige religiöse und metaphysische, "östliche" Einstellung zeigten.(18) Der Krieg würde sichtbar machen, wer zu wem gehörte und warum. Der Vertrag, der Russland mit Frankreich und Großbritannien verband, würde von einer papierenen in eine geistige Allianz umgewandelt werden können. Wenn Deutschland nicht nur besiegt, sondern auch vernichtet würde, könnte Russland seinen Platz unter den freien europäischen Mächten finden, ohne ständig angstvoll auf seine Ostflanke achten zu müssen.
     Gleich am ersten Tag des Krieges brachte Waleri Brjussow (1873-1924) in einem Gedicht zum Ausdruck, dass es um einen entscheidenden europäischen Konflikt ging: "Und durch Europas alte Fluren / Zieht dieser letzte Krieg."(19) Noch am selben Tag verließ er seine Datscha und bemühte sich in Moskau um eine Anstellung als Kriegsberichterstatter. Der große Dichter wollte in vorderster Linie stehen, wenn Geschichte geschrieben wurde. Mehr noch: er hoffte, sie selbst mit aufzeichnen zu können. Wenn die Geschichte ruft, lässt sich sogar ein dekadenter Symbolist dazu herab, als Kriegsreporter tätig zu sein.(20)

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(1) Couperus 1918, S. 26
(2) biographische Daten kompiliert aus Davies 1988, Reeder 1994, Basker 1999, Anderson 2004 und Dokumenten, Einführungen und Anmerkungen in Achmatowa 1992 und 1997
(3) Davies 1988, S. 13
(4) Achmatowa 1992, S. 286
(5) a.a.O.
(6) Eine Tage-für-Tag-Beschreibung der Eskalation findet sich bei Fromkin 2005, S. 256-310
(7) Wenn nichts anderes angegeben ist, basiert die Chronologie aller in diesem Buch beschriebenen Kriegshandlungen auf Gleichen 2000 (1918-1920), Bent 1980, Burg/Purcell 1998, Hirschfeld et al. 2003, S. 985-992, und Audoin-Rouzeau/Becker 2004, S. 1283-1296
(8) Die Zitate aus der Korrespondenz zwischen dem Zaren und dem Kaiser stammen aus Geiss 1980 sowie Melching/Stuivenga 2006, S. 35-36, und Fromkin 2005, S. 277-294
(9) Tagebuchfragmente und Kommentare, die das belegen, unter anderem in Fromkin 2005, S. 295-302
(10) aus dem Russischen von Birgit Veit, in: Achtung! Achtung! Hier spricht der Krieg!, hg. von Ingo Langner, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2014
(11) aus dem Gedicht "Fünffüßige Jamben", 1916 aufgenommen in den Band Kolcan (Der Köcher), Übersetzung von Irmgard Wille in Gumiljow 1988, S. 51; Information aus Basker 1999, S. 225-226. Auch Orlov 1980, S. 431 beschreibt das Wetter als außergewöhnlich heiß und trocken und die Sonne als dunkelrot. Der Sowjetbiograph erwähnt in diesem Zusammenhang ebenfalls den Brandgeruch und schildert die Sonne als einen roten Ball und den Mond als violett. Ob das eine apokalyptische Projektion auf der Basis von Achmatowas und Gumiljows klassischen Gedichten oder eine auf Quellen gestützte Beschreibung ist, lässt sich aus diesem Buch schwer erschließen. Auch Hippius schreibt in ihrem Tagebuch, ein "beißender Dunst" habe den ganzen Sommer über dem Land gelegen (Hellmann 1995, S. 27)
(12) Achmatowa 1992, S. 11, 26, 48
(13) Figes 2001, S. 274, und Melching/Stuivenga 2006, S. 39-40
(14) zeitgenössische patriotische Lyrik, anonym zitiert in: Solschenizyn, August 1914 (hier zitiert nach der 5. Auflage der deutschen Übersetzung von 1974, S. 83)
(15) Strakhovsky 1950, S. 135-136, Orlov 1980, S. 343-344, Hellmann 1995, S. 84-102, und Jahn 1995, S. 106
(16) Hellmann 1995, S. 88 ff
(17) vgl. Hellmann 1995, S. 86-91; Billington 1966, S. 19, 635; Figes 2011, S. 160 u. 335
(18) vgl. Hellmann 1995, S. 95
(19) nach Hellmann 1995, S. 33
(20) Hellmann 1995, S. 40-41

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