Vorgeblättert

Leseprobe zu Götz Aly: Volk ohne Mitte. Teil 2

13.02.2015.
Röpke, ein Meister politischer Prognosen

Stets folgte Röpke seinem wissenschaftlichen wie politischen Leitprinzip, sich in jeder Lage »mit Geduld und Kaltblütigkeit ruhigen Erwägungen hinzugeben«, anstatt in »Hitzköpfigkeiten, Taktlosigkeiten und Einseitigkeiten« zu verfallen, in »Verdächtigungen und Missverständnisse «. Die staatswissenschaftlich betriebene Lehre von der Wirtschaft verstand er im besten Sinn des Wortes als Erfahrungswissenschaft. Nichts hielt er von »idyllischer Spezialisierung«, von »hastigem und irrelevantem Fragen« und von Kollegen, die sich, »von Glücksgefühlen durchrieselt«, »bei der Aneinanderreihung mathematischer Symbole als messerscharfe Denker« fühlten. Gemeint war damit neben anderen John Maynard Keynes. Röpke kam es darauf an, Probleme zu erkennen »und sie richtig zu formulieren«.

Auf solchen Fundamenten entwickelte er sich von seinen ersten Veröffentlichungen an zum politischen Ökonomen, dem es mit frappierender Sicherheit gelang, zutreffende Prognosen zu stellen. Das setzte verlässliche Diagnosen voraus. Nur wenige haben politische, wirtschaftliche und kriegerische Entwicklungen im 20. Jahrhundert besser vorhergesagt als er. Dazu, nach den bereits zitierten Prognosen der Jahre 1931 bis 1933, sechs weitere Beispiele:

1. Im September 1935 bemerkte er in einem Brief zu den soeben verkündeten Nürnberger Gesetzen: »Über die Katastrophe, die erst jetzt in ihrem vollen Umfange über die Juden hereinbricht und allmählich armenische Dimensionen annimmt, ist natürlich kaum etwas zu sagen, was auch nur entfernt ihre Furchtbarkeit ausmisst.« »Armenische Dimensionen « - wie wenige politische Beobachter verfügten 1935 über diesen Weitblick!

2. Gleichfalls in einem Brief wertete Röpke den heraufziehenden Krieg im April 1939 als Chance, den deutschen Abszess »mit Pech und Schwefel « auszubrennen. Als Ziel nannte er, dass »Deutschland endlich Ruhe vor sich selbst und Europa vor Deutschland haben soll«. Wenige Wochen später stellte er klar: »Mit dem Dritten Reich muss radikal und rücksichtslos Schluss gemacht werden.« Deshalb müsse den Deutschen und ihren regierenden Gangstern klargemacht werden, dass »es ohne den Fall des Dritten Reiches keine wie immer geartete Lösung« geben werde.

3. Am 3. Oktober 1939 versuchte Röpke, dem Chef des Genfer Instituts, an dem er arbeitete, den Ernst der Lage in einem schriftlich gefassten Statement klarzumachen: »Es ist eine soziale Katastrophe, die nun in einem Weltkrieg als ihrem logischen Endpunkt kulminiert ist, und dieser Krieg (…) verspricht, der wahre Ausdruck dieses Zeitalters der moralischen Auflösung und der sozialen Desintegration zu werden.« Mit Nachdruck plädierte Röpke dafür, die Ursachen der Katastrophe mit dem Ziel zu erforschen, Europa so wiederaufzubauen, dass sich ein solches Desaster nicht wiederholen könne. Er wollte wissenschaftlich zu der Frage beitragen, welche Alternative der Westen gegenüber dem Sozialismus zu bieten habe, und erläuterte im Herbst 1939: »Dieses Problem wird genauso entscheidend für den anderen Fall werden, der mir wahrscheinlicher erscheint als die Formierung eines festen Blocks zwischen Hitler und Stalin: für den Fall nämlich, dass Stalin Hitler zu diesem Krieg ermutigte, um den Prozess der Bolschewisierung Ost-, Südost- und Mitteleuropas und insbesondere Deutschlands durch Erpressung und Druck zu beschleunigen - oder endlich dadurch, dass er von der letztlichen Niederwerfung oder dem inneren Zusammenbruch Deutschlands profitiert.«

4. Im Januar 1942 stufte er den aktuellen Krieg »als den verheerendsten aller Kriege« ein und dozierte über die wirtschaftlichen Aussichten nach dem Waffenstillstand: »Dem Kriege unmittelbar folgt eine Phase, in der das Wirtschaftsbarometer auf Krise steht.« Doch könne die Anpassungskrise bald überwunden werden, sofern »die außerwirtschaftliche Konstellation nicht gar zu ungünstig ist«, und zwar wegen der im Krieg angerichteten Zerstörungen: »Da nun die Kriegskonjunktur nicht nur zu einer beispiellosen Güterentblößung und einem beispiellosen Verschleiß des gesamten Produktionsapparats geführt hat, sondern zugleich ebenso beispiellose Zerstörungen zurücklässt, brauchen wir uns nicht darum zu sorgen, woher denn die Nachfrage kommen soll. (…) Die Frage, wo das sich stauende Kapital lohnende Investitionen finden soll, (wird) auf lange Zeit hinaus fast wie ein Hohn klingen.« (...)

5. Als das Sterben, Morden und Zerstören endlich mit härtesten militärischen Mitteln beendet worden war, konstatierte Röpke sechs Wochen nach der bedingungslosen Kapitulation in der Neuen Zürcher Zeitung die alleinige Kriegsschuld Deutschlands und das Herabsinken der Deutschen zur Schande des Menschengeschlechts. Doch wandte er sich im selben Artikel sofort und in aller Nüchternheit der Zukunft zu: »Es ist menschlich begreiflich, dass die Saat des Hasses, die die Deutschen unter ihrer nationalsozialistischen Führung gesät haben, nun üppig aufschießt. Indessen muss dem Weiterblickenden klar sein, dass die Welt auf Dauer nicht in dieser leidenschaftlichen Erregung verharren kann. Nachdem unser erster Zorn verraucht ist, werden wir uns, wenn die Kette des Unheils jemals abreißen soll, wohl oder übel zu der ruhigen Frage entschließen müssen, wie es denn dazu kommen konnte, dass in einem großen Kulturvolke alle Kräfte des Bösen losbrachen, und was denn nun gerechter- und vernünftigerweise mit den Deutschen geschehen soll.« Röpke wusste von den deutschen Kriegs- und Menschheitsverbrechen, erwähnte sie jedoch selten, weil er, trotz aller Schuld, an die Möglichkeit der Rehumanisierung seiner Landsleute glaubte und daran mitarbeiten wollte.

6. In den letzten Monaten des Krieges arbeitete er fieberhaft an dem Buch »Die deutsche Frage«, das im Juni 1945 in der Schweiz erschien. Die folgenden konzeptionellen Gedanken des Schlusskapitels brachte er Ende April 1945 zu Papier. Mitten im Rauch des Endkampfes, allgemeiner Ratlosigkeit und Verzweiflung blickte er nüchtern bis ins 19. Jahrhundert zurück und in die Zukunft des kommenden halben Jahrhunderts. Er schlug vor, Deutschland zu föderalisieren und es »bis zur Lösung des russischen Problems« konsequent zu teilen. Derart herbe Klarheit unterschied ihn von fast allen Pläneschmieden, Pragmatikern und Politikern der Stunde null: (...)

Röpkes Ende April 1945 verfasstes Plädoyer für die Spaltung Deutschlands und für einen kalten Krieg von unbestimmter Dauer gipfelt in diesen Schlusssätzen: »Je mehr man auf der "Einheit" Deutschlands besteht, umso freigiebiger liefert man der russischen Infiltrationspolitik Ansatzpunkte und umso mehr schafft man Reibungsflächen zwischen den beiden Welten, deren Verschränkung auf deutschem Boden eine der größten Gefahren für den Frieden bedeuten würde. Weit entfernt, einen "Dritten Weltkrieg" zu begünstigen, mit dem man die westliche Welt heute einschüchtert, würde eine solche reinliche Scheidung der beiden Welten diese Gefahr entscheidend vermindern.«


Die Kritik des Exilierten an der NS-Herrschaft

Fast wesensfremd verschleiert und dennoch klar schrieb Röpke zwischen 1934 und 1944 immer wieder über den Nationalsozialismus. Selten nannte er ihn beim Namen, je schärfer er formulierte, desto weniger sprach er von Deutschland, Hitler oder dem NS-Staat, versteckte seine Kritik zwischen den Zeilen, in scheinbar allgemeinen Erwägungen oder beiläufigen Sätzen. Wurde er konkret, tarnte er sie als Angriffe gegen den Kommunismus oder als allgemeine Hinweise zum Verhängnis des Kollektivismus. In seinem Buch »Gesellschaftskrisis der Gegenwart« von 1942 kommen - obwohl es darum hauptsächlich geht - weder der Begriff Nationalsozialismus noch der Name Hitler vor.

Die Gründe für diese Zurückhaltung liegen auf der Hand. Der Genfer Exilant musste sich seit 1937 strikten Auflagen der schweizerischen Fremdenpolizei fügen und jede gegen das Deutsche Reich gerichtete politische Tätigkeit unterlassen. Zudem nahm er Rücksicht auf in der Heimat lebende Freunde, auch wollte er Deutscher bleiben und nicht in den Chor der Deutschenhasser eintreten.

So heißt es 1937 in seinem Buch »Lehre von der Wirtschaft« über die Planwirtschaft »kommunistischer Staatsleiter« und ihre »durchaus subjektiven Vorstellungen«: »Die Freiheit des Konsums hat ein Ende und die Bevölkerung hat sich derjenigen Verwendung der Produktionskräfte zu unterwerfen, die die den Staat beherrschende Gruppe für gut befindet. « Folglich entstehe »eine vollendete ökonomische Diktatur, die ohne eine gleichzeitige politische Diktatur mitsamt ihren Zwangsmitteln überhaupt nicht vorstellbar ist«. Wie aus den Nachkriegsausgaben desselben Werkes ersichtlich, meinte der Autor damit »das bolschewistische wie das ihm so ähnliche nationalsozialistische Wirtschaftsexperiment «.

Unter den wirtschaftspolitisch Verantwortlichen beobachtete Röpke im Frühjahr 1935 eine Polarisierung. Er sprach von einem weltweiten Phänomen, zielte jedoch auf Deutschland. Auf der einen Seite sah er tausende Kollegen, Publizisten und Politiker am Werk, »die die Uhr des bisherigen abendländischen Wirtschaftssystems für abgelaufen halten«, auf der anderen Seite »ein knappes Dutzend von Menschen, die sich diese fatalistische Ansicht nicht zu eigen machen«. Dazu gehörte er selbst und stellte abermals die 1933 noch verneinte Frage: »Lassen sich heute objektive Entwicklungskräfte nachweisen, die dem marktwirtschaftlichen Konkurrenzsystem ebenso eindeutig und unausweichlich ein Ende bereiten, wie die Erfindung des Schießpulvers den Ritterheeren ein Ende gesetzt hat?« Die Diagnose lautete:

Der vordem hochgeachtete Begriff »liberal« war binnen eines Jahrzehnts zu einem »der ärgsten Schimpfworte« gemacht worden und als solches in aller Munde. Er bezeichnete jetzt »eine abscheuliche und endlich überwundene Verirrung«. Folglich musste jeder Versuch scheitern, das einst von so viel Stolz und Edelmut getragene Wort im alten Sinne weiterzuverwenden. »Warum«, fragte er kampfeslustig, »sich weiterhin hinter einer Zielscheibe aufhalten, auf die sich die Masse glücklich eingeschossen hat?« Ganz anders das Schlagwort Sozialismus. Es erlebte eine von kollektivistischen Illusionen umkränzte Überhöhung. Zu den allgemeinen, in Deutschland besonders ausgeprägten Gründen des politischen, geistigen und moralischen Verfalls zählte er: »Monopolkapitalismus, Proletarisierung, Vermassung, Kollektivismus, Sozialismus, geistig-moralischen Erbgutverbrauch, Totalitarismus, Staatsvergottung, Bürokratisierung.«

Für neu hielt er nicht die Kritik an der freien Marktwirtschaft - neu erschien ihm, »dass viele Argumente, die früher nur von den Sozialisten gegen den Kapitalismus vorgebracht wurden, heute von den breitesten nichtproletarischen Schichten, insbesondere von den Intellektuellen übernommen worden sind«. Sie hatten den für die Fortschritte des 19. Jahrhunderts so wichtigen Leitbegriff Liberalismus als »eine Sache für Tröpfe« in den Schmutz getreten wie zum Beispiel Oswald Spengler 1920 in seinem Buch »Preußentum und Sozialismus«, worin er diese kollektivistische Symbiose so definierte: »Alle für alle: das ist preußisch. «

Jenseits von bis zur Unkenntlichkeit zerschlissenen Kampf- und Heilsbegriffen nannte Röpke 1934/35 vier dominierende Grundtendenzen: 1. das Misstrauen gegenüber dem marktwirtschaftlichen Konkurrenzsystem; 2. die damit verbundene Sehnsucht »nach einfacheren und daher zugleich historisch früheren Formen des wirtschaftlichen Lebens«, einem romantisierenden »ökonomischen Simplismus«; 3. den ökonomischen Nationalismus und schließlich 4. den ökonomischen Militarismus. Die Tendenzen widersprachen einander offensichtlich. Wer gegen die rationalistische und mechanistische Weise der industriellen Zivilisation agitierte und angeblich zum Urtümlich-Bäuerlichen zurückkehren wollte, der konnte nicht, wie es in Deutschland geschah, das ganze Land »mit einem unentrinnbar dichten Netz« von Verordnungen und Gesetzen überziehen.

1934 warnte Röpke vor den Tücken des staatsinterventionistischen New Deal der US-Regierung, weil die zwecks Arbeitsbeschaffung stark erhöhten öffentlichen Ausgaben im Desaster »einer ungeheuren Staatsverschuldung und einer planwirtschaftlich erstarrten und manövrierunfähig gewordenen Volkswirtschaft« enden würden, sofern sie nicht eine am Weltmarkt erfolgreiche Regeneration der (nationalen) Wirtschaft bewirkten. Im Unterschied zu den USA käme das Streben nach Autarkie in Deutschland erschwerend hinzu, so steht es in der Fußnote verborgen, verbunden mit dem Hinweis: Die politisch gewollte Abkehr vom Weltmarkt werde zu einer den Aufschwung vermindernden Importlücke führen und der allein mittels Staatsschulden erzeugten Wirtschaftsexpansion Grenzen setzen.

Kurzfristig havarierte das Deutsche Reich nicht auf diese Weise, weil seine Lenker, wie Röpke es im Mai 1938 diagnostizierte, eine auf totalitärem Zwang beruhende Politik der Vollbeschäftigung auf der Basis immer höherer Staatsschulden betrieben. Unter der populären Parole »Nie wieder Krise!« entfachten sie eine »die Massen besonders anziehende« Drift, »mit dem Winde des ökonomischen Nationalismus« in die Scheinwelt einer angeblich perpetuierten Hochkonjunktur zu segeln, in der die Zumutungen und Gefahren der liberal-kapitalistischen Epoche endgültig überwunden seien. Kurz gesagt: »Sicherlich kann schon heute das ganze Wirtschaftssystem des Dritten Reiches unter der Perspektive einer alle Konsequenzen in Kauf nehmenden Politik fortgesetzter Hochkonjunktur verstanden werden, was sehr gut zu der Tatsache passt, dass Keynes in keinem Lande so populär ist wie gerade in Deutschland.«

Gewiss, die demokratische Variante des Keynesianismus unterschied sich von der totalitären, die Hitler und die führenden Politiker des Dritten Reichs ins Werk setzten. Sie nutzten die damals weit über Deutschland hinaus gängigen Mittel überaus extensiv: staatlich verordnete Preise, Löhne und niedrige Zinsen, strikte Devisen-, Kapital- und Investitionskontrollen, die Errichtung unrentabler Staatsbauten, Erhöhung des Staatskonsums mittels riesenhafter Rüstungsaufträge und die »vertrauenserschütternde Methode wachsenden Staatsdefizits«. Sie errichteten eine bürokratisierte Kommandowirtschaft, setzten die Initiative des öffentlichen Sektors zunehmend an die Stelle des privaten und unterwarfen die weiterhin funktionsfähigen Teile der privaten Wirtschaft den Regularien des nationalen Sozialismus, einem »Massenaufgebot von destruktiver Dummheit«.

Spätestens 1938 zählte der Krieg zu den notwendigen - man muss es so sagen - Produktionsfaktoren der unter dem Primat der Politik stehenden Ökonomie des Dritten Reichs. Angesichts der soeben erfolgten Annexion Österreichs formulierte Röpke im Mai 1938 ebenso allgemein wie unmissverständlich: »Dass (eine solche Ökonomie) keinen friedlichen Ruhezustand bedeutet, sondern ihre eigene und zu besorgten Prognosen einladende Dynamik besitzt, wird wohl niemand im Ernst leugnen wollen.«

Wiederum ohne Deutschland ausdrücklich zu nennen, thematisierte er das »Zeitalter der Tyrannis« im Sommer 1939 in der Züricher Zeitschrift Friedens-Warte. Gestützt auf Max Webers Überlegungen zur charismatischen Herrschaft und, mehr noch, auf das posthum erschienene Buch des französischen Sozialphilosophen und Historikers Elie Halévy »L"ère des tyrannies. Études sur le socialisme et la guerre« (1938) fasste Röpke die Tyrannis als kollektivistische Herrschaftsform, geleitet von einem auf der Massengunst emporgetragenen charismatischen Führer und dessen Unterführern. Sie müssen sich die Massenloyalität »immer wieder aufs Neue sichern«, schrieb Röpke in scheinbarer Allgemeinheit, daher »auch die nervöse Gefallsucht und die Jagd nach immer neuen und sichtbaren Augenblickserfolgen, das ängstliche Schielen nach dem Beifall der Masse, das Fehlen jeder Gelassenheit, die eine legitime Regierung kennzeichnet, die ungeheure Empfindlichkeit für Beifall oder Tadel, der Minderwertigkeitskomplex, der sich hinter der Lautheit des Gebarens nur allzu verräterisch verbirgt, (…) die Erfindung immer neuer Anlässe, die die von Erregung gepeitschte Bevölkerung nicht zur Ruhe und zur klaren Besinnung kommen lassen und deren gelegentliches Ausbleiben die Gesellschaft sofort mit wilden Gerüchten und Ängsten erfüllt - gleich einem Kreisel, der nur durch schnelle Umdrehung im Gleichgewicht erhalten werden kann«. (...)

Solche Sätze über »die Tyrannis« - will sagen: Hitlerdeutschland - schrieb Röpke in den letzten Wochen vor Kriegsbeginn. Er fasste zusammen: »Auf denselben Weg wird ein solcher Staat durch die Notwendigkeit gestoßen, sich für die fehlende Legitimität einen Ersatz in immer neuen, die Bevölkerung in Atem haltenden Kolossalunternehmungen zu suchen und damit zu einem Stimulans zu greifen, das mit allen anderen Stimulanzien die Eigenschaft teilt, nur in immer gröberen Dosen wirksam zu sein. Und wenn er einmal, durch den ersten Anfangserfolg ermutigt, auf diesem Wege fortschreitet, so kann er nicht mehr zurück, ohne sich selbst aufzugeben. Schließlich und vor allem aber muss die sozialistisch-autarkische Wirtschaftsstruktur, die vom Wesen der Tyrannis nicht zu trennen ist, Tendenzen auslösen, die die Tyrannis auf der Bahn des extremen Nationalismus, der Eroberung mächtig vorwärtstreiben, Tendenzen, die dadurch verstärkt werden, dass die "charismatische Herrschaft" (…) im Wesentlichen eine Aufwands-, Substanzverzehr- und damit Beutewirtschaft zu sein pflegt.«


Rückblicke auf den Albtraum des Kollektivismus

Nach 1945 bezeichnete Röpke den zweiten, »noch weit schrecklicheren Weltkrieg« als »unvermeidliches Ende« des nazistischen »Höllentriumphes «. Er sah darin die Folge zwischen extrem beschleunigtem materiellen und technischen Fortschritt einerseits und der sittlichen Unreife vieler Millionen Menschen andererseits, den schnellen Veränderungen innerlich standzuhalten. Diese Kluft habe im himmelstürmenden »Kult des Kolossalen« geendet und in einem säkularen Glauben, der »Mensch und Gott zugleich der sinnlosen Mechanik« angeblich biologischer oder angeblich sozialer, sprich klassenkämpferischer »Gesetze« opferte: »Dehumanisierung und Entgöttlichung der Welt bedingen einander. Am Ende stehen der totalitäre Termitenstaat, der totale Krieg, die totale Zerstörung und die vom Humanen emanzipierte Technik. Das ist die furchtbare Bilanz.«

Die nationalsozialistische Politik »grimmiger Autarkie« und scheinbaren sozialen Fortschritts - gestützt auf Clearingabkommen, direkten Warenaustausch, Devisenzwangswirtschaft, Subventionen und Schutzzölle, schließlich auf Raub und Krieg - bewirkten, dass die Reichsmark »ihren Zusammenhang zum international gültigen Währungssystem« verlor. Das heißt, es ließ sich bald nicht mehr sagen, wie viel die Mark in Dollar oder Schweizer Franken wert sei. Damit war die »Mark den gleichen Weg gegangen wie früher schon der Rubel«. Die Zeit zwischen dem 8.Mai 1945 und der Währungsreform in den Westzonen am 20. Juni 1948 verstand Röpke als »nationalsozialistische Kriegswirtschaftsordnung im letzten Stadium ihrer Auflösung«.

Nach seiner Analyse tendierten die Staaten Stalins, Hitlers und Mussolinis zum Nationalkollektivismus und dazu, sich mit Gewalt wirtschaftliche »Großräume« einzuverleiben, um das für sie niemals erreichbare innere Gleichgewicht mit immer radikaleren Mitteln kurzfristig zu stabilisieren. Das taten sie im Zweifelsfall auch gemeinsam, wie die von Deutschland und der Sowjetunion einvernehmlich vollzogene Aufteilung Ostmitteleuropas zu Beginn des Zweiten Weltkrieges belegt. Gestützt auf pseudoreligiöse Heilslehren, auf raffinierte Propaganda und gezielten Terror, arbeiteten die Führer totalitärer Staaten an der »Seelenknetung « und »Seelenversklavung« ihres jeweiligen Volkes. Zu diesem Zweck zerstörten sie den Staat selbst im Sinne eines politischen Gebäudes, in dem die Beziehungen zwischen dem einzelnen Bürger, verschiedenen Körperschaften und dem Staatsganzen regelhaft und berechenbar geordnet sind.

Das »Massenfundament« bildeten viele Millionen atomisierter, »im modernen Sinne entwurzelter Menschen«. Sie hatten »ihre wirtschaftliche, soziale und geistige Eigenständigkeit verloren«, sich in einen strukturlosen »Sandhaufen« von Massenindividuen verwandelt. Ihre besinnungslose Verfügbarkeit befeuerte der ständig beschleunigte »Dynamismus und Futurismus«, das »geradezu nervöse Bestreben« der Massenführer, »fortgesetzt Neues zu bieten, fortgesetzt die Aufmerksamkeit auf die Zukunft zu lenken, fortgesetzt Wechsel auszustellen, die dann prolongiert (…) oder durch andere Wechsel ersetzt werden« mussten. Am Ende standen Eroberungs- und Beutefeldzüge, weil der kollektivistische Staat »nur unter der fieberhaften Überintegration des Krieges bestehen kann«.

Die politische bedurfte der »notwendigen Ergänzung der ökonomischen Diktatur«,die Röpke als »Albtraum des Kollektivismus und der zurückgestauten Inflation« beschrieb, als eigentümliche »Mischung von Sozialismus und Keynesianismus«, die als angeblich »moderne Ökonomie « den Weg zu »inflationärer Expansion und kollektivistischer Zwangswirtschaft« ebnete. Jenen Antifaschisten, die den Nationalsozialismus als Herrschaftsform konservativer, reaktionärer oder kapitalistischer Machtgruppen interpretierten, hielt er Blindheit und Anfälle von Geistesabwesenheit vor. Die totalitären Führer hatten liberales wirtschaftliches Denken und Handeln als weichliche und egoistische Ausgeburt der Freimaurerei denunziert, wahlweise der Bourgeoisie zur Last gelegt, den Juden, den »Intelligenzbestien« oder »Schwätzern«. Sie taten das »als Kenner der Massenseele, deren Ausdruck sie selber waren«, und »zogen es vor, die Massenleidenschaften durch die Parolen des Nationalismus und Sozialismus zu entflammen, die der Massenseele gemäß sind und in ihrer Mischung zu dem Dynamit wurden, das die Welt in die Luft gesprengt hat«.

In der erweiterten Neuauflage seines Buches »Die deutsche Frage« wies Röpke 1948 die mittlerweile weitverbreitete Lesart so vieler Deutscher energisch zurück, der Kapitalismus und namentlich das Großbürgertum hätten dem Nationalsozialismus zum Sieg verholfen. Solchen Ausflüchten setzte Röpke entgegen: »Zahllos sind die Beispiele, wie kurz der Schritt vom Demo-Sozialisten zum National-Sozialisten gewesen ist. Die Legende von den bösen Kapitalisten, die mit Hilfe des Nationalsozialismus die unschuldigen deutschen Massen vergewaltigt haben sollen, kann nicht rücksichtslos genug zerstört werden. Man kann nicht oft genug die Wahrheit aussprechen, dass es sich natürlich anders verhalten hat: Ohne die Unterstützung durch breite Massen des deutschen Volkes hätte der Nationalsozialismus weder zur Macht kommen noch sich an der Macht halten können, und an dieser offenkundigen Tatsache ändert es nichts, dass diese selben Massen zum Teil vorher sozialistisch und kommunistisch gewählt haben und heute wieder wählen. Man kann den Nationalsozialismus nicht ärger verkennen, als wenn man seinen Massencharakter leugnet.«

Die neuere Forschung zur Mitgliedschaft und zu den Wählern der NSDAP gibt den zeitgenössischen Wahrnehmungen Wilhelm Röpkes in jeder Weise recht. Wie Paul Madden, Detlef Mühlberger und Jürgen W. Falter eindrucksvoll belegt haben, kann der Zuspruch, den Hitlers Partei von 1930 an in schnell steigendem Ausmaß erreichte, nicht auf einen desorientierten, materiell bedrohten (unteren) Mittelstand reduziert werden, wie das einflussreiche Autoren in den 1970er- und 1980er-Jahren behaupteten. Vielmehr konnte sich die NSDAP als erste veritable Volkspartei in Deutschland durchsetzen. Es gelang ihr, in ihren Reihen die Klassenspaltung zu überwinden, sie fand in allen Berufs- und Altersgruppen erhebliche Unterstützung, sowohl von Männern als auch von Frauen. Das unterschied sie von allen anderen Parteien der Weimarer Republik.

Immerhin stammten schon vor 1933 an die 40 Prozent der Parteimitglieder aus der Arbeiterschaft. Ferner folgte ein erheblicher, weit überproportionaler Teil der geistigen Eliten Deutschlands der Partei Hitlers. Auch das spricht gegen die lange vertretene These von einer Partei, die sich vorzugsweise auf das Kleinbürgertum gestützt habe. Anders als viele Historiker im Deutschland der Nachkriegsjahrzehnte erkannte der Zeitgenosse Röpke den klassenübergreifenden Massencharakter der NSBewegung und deren starken Kern akademisch gebildeter Mitglieder und Sympathisanten bereits vor 1933.

Zu seiner Feststellung, dass der Schritt vom Sozialdemokraten und auch Kommunisten zum Nationalsozialisten in zahllosen Fällen kurz gewesen sei, fehlen systematische Untersuchungen bis heute. (...)

Die hier im Sinne von Wilhelm Röpke aufgeworfenen Fragen bezwecken keine Denunziation. Vielmehr geht es darum, Blockaden und Tabus zu überwinden, die einer zutreffenden Analyse des Nationalsozialismus bis heute im Weg stehen. Ebendeshalb ist es falsch, wenn ganze Hundertschaften von Historikern mit institutionell angelegten Spezialuntersuchungen den Blick fast ausschließlich auf Unternehmer, Banker und Staatsbürokratien lenken, bestenfalls noch auf Berufsverbände, Universitäten und Kommunalverwaltungen. Dadurch entsteht ein falsches, zumindest sehr unscharfes Bild. Wer die ungeheuerlichen zerstörerischen Kräfte des nationalsozialistischen deutschen Staates zutreffend analysieren will, muss fragen, wie es gelang, die unterschiedlichen Schichten, Berufs- und Altersgruppen im leeren Mittelfeld der deutschen National-, Staats- und Volksgeschichte zu einer ungeheuerlich zerstörerischen, explosiven Masse zu fusionieren.


(Gekürzter Auszug des Essays. Für das "Vorgeblättert" haben wir auf Fußnoten verzichtet. Alle Belege zu den Zitaten finden sich im Buch selbst. D.Red.)

Mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlags

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