Vorgeblättert

Leseprobe zu Hanna Krall: Rosa Straußenfedern. Teil 1

30.01.2012.
2005

KRYSTYNA H., ehemalige Einwohnerin von Kroscienko
Über die Nachbarn



     Die Deutschen schnappten sich eine schöne sechzehnjährige Jüdin, das Mündel des Synagogendieners, hielten ihr ein Gewehr in den Rücken und befahlen ihr, ihnen die jüdischen Häuser zu zeigen. Das Mädchen ging wie in Trance und zeigte ihnen die Häuser, und sie schossen. Als sie das ganze Städtchen durchhatten, gingen sie zum Wirtshaus "Przelom" gegenüber dem Jagiello-Denkmal, dem Mädchen befahlen sie, vor dem Wirtshaus stehen zu bleiben. Sie tafelten, und das Mädchen weinte. Als sie fertig waren, kamen sie heraus und erschossen sie. In Kroscienko leben Leute, die noch mehr solcher Geschichten kennen, vielleicht interessiert Sie das.

                                                   *


DOROTA N., Lehrerin im Ruhestand (in Katowice-Koszutka während einer Autorenlesung)
Über Türen


     ? Man hatte sie schon auf dem Marktplatz zusammengetrieben, eigentlich waren sie schon weg, nur zwei Mädchen, vielleicht sieben, acht Jahre alt, waren übrig. Sie waren allein, ganz allein auf der leeren Straße.
     Sie versuchten, irgendwo unterzukommen und klopften an die Türen. Sie liefen von Haus zu Haus und klopften.
     Die Türen waren verschlossen, die Fenster mit Gardinen verhängt.
     Die Mädchen begannen gegen die Türen zu hämmern und zu schreien.
     Sie waren so alt wie ich, ich war auch acht.
     Ich stand nicht weit weg, auf der Brücke.
     Sie hämmerten mit ihren kleinen Fäusten gegen die Türen und schrien: Hilfe! Hilfe!
     wissen Sie was? Keine einzige Tür ging auf.
     Und als die Mädchen weg waren, als die letzten Fuhren vom Marktplatz abgefahren waren, wissen Sie, was da geschah? Da gingen alle Türen auf und die Leute stürzten zu den jüdischen Häusern und trugen die Sachen hinaus, trugen, trugen, trugen.
     Die Frage?
     Ach so, man muss eine Frage stellen.
     Gut ? Dann möchte ich fragen, ob wir Polen so furchtbar sind, oder ob der Mensch so schlecht ist. Sie müssen nicht antworten, wenn Sie keine Lust haben.

                                                   *

EWA A.
Über Krzysiek


     ? Wacek war hier gewesen, Krzysiek auch, und jetzt ich. Ich ging den Flur entlang, an den Zellentüren vorbei und sagte mir immer wieder: Wacek war hier, Krzysiek auch ? Der Vergleich war unangemessen, denn jene hatten Gestapo und Sicherheitsdienst hergebracht und mich nur das Kriegsrecht, aber so oder so hielt ich die Familientradition aufrecht.
     Wacek wurde durch Julian Tuwim gerettet. Der schrieb schöne Briefen zu Gunsten von Verurteilten - "die Angelegenheit, in der ich mich an Sie wende, ist die wichtigste, vor die mich das Schicksal auf meinem bisherigen Lebensweg gestellt hat", schrieb er an Bierut, er ging zu ihm und las ihm den ganzen Brief vor - laut, vom Blatt. In Waceks Fall gab es keinen Brief, nur ein Telefonat. Tuwim wählte eine Nummer, sprach kurz mit jemandem, legte auf und sagte: Präsident Bierut hat versprochen, Sie zu begnadigen. Und tatsächlich, er begnadigte ihn, die Todesstrafe wurde in lebenslänglich umgewandelt, nur dass Rozanski zu einer Inspektion ins Gefängnis kam. Er sah Wacek auf dem Flur und sagte im Vorbeigehen, ohne stehen zu bleiben: Bist du das, Lipinski?(22) Lebend kommst du hier nicht raus ? Irgendjemand erzählte Krzysiek später, sein Vater hätte sich mit einem Handtuch an einem Heizungsrohr erhängt. Ein anderer, er wäre von der Galerie im dritten Stock des Gefängnisflurs gesprungen. Noch ein anderer, die Kriminellen hätten ihn auf Geheiß der Leitung in der Zelle erstickt und die Leiche ans Rohr gehängt ?
     Sie befahlen mir, mich in den Flur zu setzen und zu warten. Ich setzte mich auf den Boden, zu beiden Seiten standen zwei Ermittler - und wir warteten. Ich war ruhig, toll gekleidet, weil ich von Krzysiek eine rote Jeans aus den Westpaketen bekommen hatte - und plötzlich sah ich ein paar hohe Tiere den Flur entlangkommen. Alle in Uniform, sie sahen aus, als inspizierten sie das Gefängnis. Und ehe ich noch nachdenken konnte, hatte ich den Satz im Ohr - "Bist du das, Lipinski?" Mich packte eine irrationale, panische Angst ?
     Eins der hohen Tiere blieb stehen: Und du, Kind, weswegen bist du hier? Ich flüsterte: Ich bin eine Extremistin, eine Politische. Er fasste mich am Kinn und sagte: Es wird eine Amnestie geben, mach dir keine Sorgen ?
     Ich kam wieder zu mir.                    
     Es war gar nicht so schlimm.
     Ich habe ein paar Dinge gelernt, nicht die allerwichtigsten.
     Dass man sich um Handtücher bemühen muss, aus denen sich Fäden zum Sticken heraustrennen lassen.
     Dass sich aus Kippen und Zeitungen Zigaretten und sogar
Zigarren drehen lassen.
     Dass der Tee stärker wird, wenn man Schmerzmittel dazugibt.
     Dass man, wenn man einen Gegenstand verschluckt, gerade sitzen muss und sich nicht bewegen darf, bis das Verschluckte im Magen angekommen ist.
     Dass man nicht an Zuhause denken soll - weder an den Mann noch an die Kinder.
     Eines habe ich nicht gelernt: mich nicht nach Krzysztof zu sehnen.
     Der übrigens gar nicht mein Mann war.
     Mit dem ich drei Kinder habe.
     Der leicht stotterte.
     Der dem Gerichtsvollzieher half, unseren Fernseher und den Kleiderschrank zu versiegeln, und anschließend mit ihm Wodka trank und Käse aß, und der Gerichtsvollzieher lieh ihm Geld, damit er die Schulden bezahlen konnte, und zahlte es persönlich in die Gerichtskasse ein.
     Der immer strubbeliges, wie vom Wind zerzaustes Haar hatte, selbst wenn gar keinen Wind wehte.
     Der seit zwanzig Jahren tot ist.
                         
                                                        *

JANINA N.
Über Dinge


     ? Schon wieder hat jemand mein Radio kaputt gemacht.
     Jemand macht mir absichtlich alles kaputt - mal das Radio, mal das Telefon, mal die Uhr.
     Ich habe von deiner Mutter geträumt. Sie sagte: Ich habe unsere Hausbesitzerin getroffen, sie hat sich sehr gefreut, mich zu sehen, und gefragt: Was macht denn dein Französisch?
     Erinnerst du dich noch, wem du was geben sollst, wenn ich tot bin? Bringst du auch nichts durcheinander?
     Den Fernseher bekommt die Hausbesorgerin, das weißt du.
     Nein, nicht der Totengräber. Die Hausbesorgerin. Der Totengräber bekommt die Mangel. Wie, warum? Kann er etwa keine neue Mangel gebrauchen? Sie ist im Entresol, wie der Zylinder. Wie, gibt es nicht? In meiner Wohnung gibt es kein Entresol? Ich habe keine eigene Wohnung mehr?!

                                                        *
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(22) Waclaw Lipinski (1897-1949), Legionär, Oberst, Historiker, Freiheitskämpfer


zu Teil 2

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