Vorgeblättert

Leseprobe zu Hannah Arendt, Gershom Scholem: Der Briefwechsel. Teil 2

30.08.2010.
[132 Scholem an Arendt
Jerusalem, 23./24. Juni 1963]

Jerusalem, den 23. VI. 1963

Liebe Hannah,
Es ist nun etwa sechs Wochen her, dass ich Ihr Buch ueber den Eichmann-Prozess erhalten habe, und wenn ich Ihnen erst jetzt darueber schreibe, so ist es, weil ich mich nicht gleich auf die Lektuere konzentrieren konnte. Dazu bin ich erst im Laufe der letzten Zeit gekommen. Ich habe mich nicht mit der Frage beschaeftigt, ob alle Angaben sachlicher und historischer Natur, die Sie machen, stimmen. Nach manchen Einzelheiten, die ich beurteilen kann, fehlt es da nicht an Missverstaendnissen und Irrtuemern. Aber die Frage der Richtigkeit auf dieser Ebene, die sicherlich von vielen Ihrer Kritiker, an denen es nicht fehlen kann, aufgenommen werden wird, ist fuer das, was ich Ihnen sagen moechte, nicht zentral.
     Ihr Buch bewegt sich um zwei Zentren, die Juden und ihre Haltung in der Katastrophe, und Eichmann und dessen Verantwortung. Ueber die Sache der Juden habe ich seit vielen Jahren nachgedacht und eine nicht geringe Masse von Literatur darüber studiert. Mir ist, wie wohl jedem ernsten Zeitgenossen der Ereignisse, durchaus klar, wie bitter ernst, verwickelt und keineswegs durchschaubar und reduzierbar diese Frage ist. Es gibt Aspekte der juedischen Geschichte (und mit der beschaeftige ich mich schliesslich seit 50 Jahren), die der Abgruendigkeit keineswegs entbehren: Daemonische Verfallenheit ans Leben, Unsicherheit in der Orientierung in dieser Welt (der die Sicherheit der Frommen gegenueber steht, von der in Ihrem Buch auf ergreifende Weise nicht die Rede ist), Schwaeche, die mit Heroismus auf unendlich vertrakte Weise verschlungen ist, auch Lumperei und Herrschsucht. Das alles hat es immer gegeben und in einer Zeit der Katastrophe waere es sonderbar, wenn es nicht in irgendwelchen Phaenomenen zur Geltung gekommen waere. So war es 1391 und in der damals beginnenden Generation der Katastrophe und so war es in unserer Zeit. Die Auseinandersetzung ueber diese Sache ist meines Erachtens legitim und unabwendbar, wenn ich auch nicht glaube, dass sie in unserer Generation im Sinne eines historischen Urteils wird gefuehrt werden koennen. Uns fehlt die echte Distanz, die zugleich Besonnenheit verbuergen wuerde, und sie muss uns fehlen. Aber die Fragen, die sich uns aufdraengen, bleiben. Die Frage der Jugend in Israel: warum eigentlich haben sie sich toeten lassen, ist tief begruendet, und die Antwort, wie man es immer anfaengt, nicht auf eine Formel zu bringen. In Ihrem Buch ist in allem Entscheidenden nur von dem Punkt der Schwaeche der juedischen Existenz die Rede, gerade wo es um Akzentuierung geht. Und so sehr es die wahrlich gegeben hat, ist Ihre Akzentsetzung, soweit ich sehe, voellig einseitig und wirkt dadurch bitterboese. Aber das Problem, das Sie aufstellen, ist wirklich eines. Warum also, wo wir das wissen, hinterlaesst Ihr Buch dennoch solch Gefuehl der Bitterkeit und Scham, und zwar nicht ueber das Referierte, sondern ueber die Referentin? Warum ueberdeckt Ihr Referat so weithin das darin vorgebrachte, das Sie doch mit Recht dem Nachdenken empfehlen wollten? Die Antwort, soweit ich eine habe, und die ich Ihnen gerade weil ich Sie so hoch achte, nicht unterdruecken kann, muss Ihnen sagen, was in dieser Sache zwischen uns steht. Es ist der herzlose, ja oft geradezu haemische Ton, in dem diese, uns im wirklichen Herzen unseres Lebens angehende Sache, bei Ihnen abgehandelt wird. Es gibt in der juedischen Sprache etwas durchaus nicht zu definierendes und voellig konkretes, was die Juden Ahabath Israel nennen, Liebe zu den Juden. Davon ist bei Ihnen, liebe Hannah, wie bei so manchen Intellektuellen, die aus der deutschen Linken hervorgegangen sind, nichts zu merken. Eine Auseinandersetzung wie die Ihre erforderte, wenn ich mich so ausdruecken darf, die altmodischste Art der sachlichen und gruendlichen Behandlung, gerade wo so tiefe Emotionen im Spiele sein muessen und heraufgerufen werden, wie in diesem Fall der Ermordung eines Drittels unseres Volkes - und ich betrachte Sie durchaus als Angehoerige dieses Volkes und als nichts anderes. Mit dem Stil der Leichtherzigkeit, ich meine das englische flippancy, den Sie nur allzu oft in Ihrem Buche dafuer aufbringen, habe ich keine Sympathie. Er ist auf unvorstellbare Weise der Sache, ueber die Sie sprechen, unangemessen. Gaebe es wirklich bei solchem Anlass nicht Platz fuer das, was man mit dem bescheidenen deutschen Wort Herzenstakt nennen duerfte? Sie koennen darueber lachen, ich hoffe Sie tun es nicht, jedenfalls mir ist es darum ernst. Ich kann Ihnen aus den vielen Stellen, die sich mir dabei ins Herz gegraben haben, keine deutlicheren Belege fuer das bringen, was ich meine, als Ihr Zitat ueber den Handel mit den Armbinden, die das juedische Zeichen enthalten, im Warschauer Ghetto, und Ihren Satz ueber Leo Baeck, "who in the eyes of both Jews and Gentiles was the 'Jewish Fuehrer'". Der Gebrauch des Nazibegriffes auf Deutsch in diesem Zusammenhang ist vielsagend - Sie sagen nicht etwa Jewish leader ohne Anfuehrungsstriche, was sinnvoll und ohne haemischen Beigeschmack gewesen waere - Sie sagen gerade das, was am falschesten und am beleidigendsten ist. Fuer niemand, von dem ich gehoert oder gelesen habe, war Leo Baeck, den wir beide gekannt haben, ein Fuehrer in dem Sinne, den die Leser Ihres Buches assoziieren muessen. Ich habe das Buch von Adler ueber Theresienstadt genau so gut gelesen wie Sie, und es ist ein Buch ueber das sich manches sagen liesse. Ich habe nicht gefunden, dass der Autor, der auf manche Menschen, ueber die ich anderes gelesen und gehoert habe, mit viel Ressentiment spricht, Baeck so bezeichnet oder indirekt schildert. Was unser Volk durchgemacht hat, mag mit dem Konto mancher dunklen Figuren, die ihre Kugel wohl verdient haben oder haetten, belastet sein - wie konnte es bei einem Trauerspiel dieses Ausmasses sich anders verhalten. Darueber aber in diesem so voellig inadaequaten Tonfall zu handeln, zum Benefit jener Deutschen, die zu verachten Ihr Buch staerkere Toene findet als dem Unglueck der Juden gegenueber, das ist nicht der Weg, den wahren Schauplatz dieses Trauerspiels freizulegen.
     Ich finde in Ihren Darlegungen des juedischen Verhaltens unter extremen Umstaenden, in denen wir beide nicht gewesen sind, kein abgewogenes Urteil, sondern vielmehr ein oft ins Demagogische ausartendes Overstatement. Wer von uns kann heute sagen, welche Entschluesse jene Aeltesten der Juden oder wie man sie nennen will, unter den damaligen Umstaenden haetten fassen muessen? Ich weiss es nicht, und ich habe nicht weniger darueber gelesen als Sie, und aus Ihren Analysen habe ich nicht den Eindruck, dass Ihr Wissen besser gegruendet ist als mein Unwissen. Es hat die Judenraete gegeben, einige unter ihnen waren Lumpen, andere waren Heilige. Ich habe ueber beide Typen viel gelesen. Es gab sehr viele Mittelmenschen wie wir alle, die unter unwiederholbaren und unrekonstruierbaren Bedingungen Entschluesse fassen mussten. Ich weiss nicht, ob sie richtig oder falsch waren. Ich masse mir kein Urteil an. Ich war nicht da.
     Gewiss, - ich habe mich fuer diese Karriere speziell interessiert - der Wiener Rabbiner Murmelstein in Theresienstadt haette, wie alle Insassen des Lagers, die ich gesprochen habe, bestaetigten, verdient von den Juden gehaengt zu werden, aber schon ueber viele Andere gehen die Urteile weit auseinander. Warum zum Beispiel wurde Paul Eppstein, eine jener umstrittensten Figuren, von den Nazis erschossen? Sie sagen es nicht. Der Grund ist aber, dass er gerade das getan hatte, was er nach Ihrer Behauptung eigentlich mehr oder weniger gefahrlos haette tun koennen: er hatte Leuten in Theresienstadt gesagt, was ihnen in Auschwitz bevorsteht. Stunden spaeter war er erschossen. Das weiss ich aus dem Munde von Baeck, Utitz und Muneles.
     Ihre These, als ob durch die bekannten Manoever der Nazis die klare Scheidung zwischen Verfolgern und Opfern gelitten haette und verwischt worden waere, eine These, die Sie zum Nachteil der Anklage gegen Eichmann benutzen, halte ich fuer ganz falsch und tendenzioes. In den Lagern wurden Menschen entwuerdigt und, wie Sie selber sagen, dazu gebracht an ihrem eigenen Untergang mitzuarbeiten, bei der Hinrichtung ihrer Mitgefangenen zu assistieren und dergleichen. Und deswegen soll die Grenze zwischen Opfern und Verfolgern verwischt sein?! Welche Perversitaet! Und wir sollen da kommen und sagen, die Juden selber haetten ihren "Anteil" an dem Judenmord. Das ist eine typische quaternio terminorum.
     Ich habe in diesen Tagen einen Aufsatz ueber das Buch des Rabbiners von Pjotrkow, Moses Chaim Lau, gelesen, der in der Zeit des Untergangs im Bewusstsein dessen was kam, ein Buch geschrieben hat: Der Weg zur Heiligung des Namens, das man jetzt gedruckt hat und der unter den Umstaenden, in denen er sich fand, genau zu fixieren versucht hat, was die Pflicht der Juden unter extremen Situationen sei. Nicht alles, was in jenem ergreifenden Text steht, der nicht der einzige ist, ist dem Inhalt (nicht dem Tonfall) Ihrer Betrachtungen fremd. Es kommt in Ihrem Buche ueberhaupt nicht zur Erscheinung, wieviel Juden im vollen Bewusstsein der Sachlage ihren Weg gegangen sind. Jener Rabbi ist mit seiner Gemeinde nach Treblinka gegangen, obwohl er die Gemeinde aufgefordert hat wegzulaufen und die Gemeinde ihn aufgefordert hat wegzulaufen. Der Heroismus der Juden hat nicht immer im Schiessen bestanden, und nicht immer haben wir uns dessen geschaemt. Ich kann den nicht widerlegen, der sagt, die Juden haben ihr Schicksal verdient, weil sie sich von Anfang an nicht anders gewehrt haben, weil sie feige waren und dergleichen. Ich habe das erst in den letzten Tagen in dem Buch eines aufrichtigen juedischen Antisemiten namens Kurt Tucholsky dargelegt gefunden. Ich bin nicht so fein wie dieser Tucholsky war, der natuerlich recht hatte: Wenn alle Juden weggelaufen waeren, besonders nach Palaestina, waeren mehr am Leben. Ob es unter den historischen Bedingungen der juedischen Geschichte und des juedischen Lebens moeglich war, und ob es Schuld und Anteil am Verbrechen im historischen Sinn bedingt, ist eine andere Frage.
Ich will Ihnen nichts ueber die andere zentrale Frage Ihres Buches sagen, ueber die Schuld oder das Mass von Schuld, das Eichmann zukommt. Ich habe den Text des Urteils ueber Eichmann gelesen, den das Gericht verfasst hat, sowie den von Ihnen substituierten Text. Ich finde den des Gerichts bei weitem ueberzeugender. Ihr Urteil ist ein sonderbares Exempel eines grossen Non Sequitur. Ihre Begruendung trifft auf Hunderttausende und vielleicht Millionen zu, von denen der Schlussatz ja genau so gilt. Und nur der Schlussatz begruendet, warum er haengen sollte, denn im vorhergehenden haben Sie ausfuehrlich dargelegt, warum Ihrer Meinung nach, die ich keineswegs teile, die Anklage in allen wesentlichen Punkten das was sie haette beweisen sollen, nicht bewiesen hat. Im uebrigen habe ich, zugleich mit meiner Unterschrift unter den Brief an den Staatspraesidenten gegen den Vollzug des Todesurteils, in einem hebraeischen Aufsatz dargelegt, warum ich den Vollzug dieses Todesurteils, das Eichmann in jeder Richtung auch im Sinne der Anklage verdient hat, fuer historisch falsch halte, gerade unserer Stellung zu den Deutschen wegen. Ich will damit diesen Brief nicht belasten. Ich moechte nur sagen, dass Ihre Darstellung Eichmanns als eines Konvertiten des Zionismus nur bei jemand denkbar ist, der ein so tiefes Ressentiment auf alles hat, was mit dem Zionismus zusammenhaengt, wie Sie. Ich kann diese Seiten in Ihrem Buch nicht ernst nehmen. Sie sind ein Hohn auf den Zionismus und ich fuerchte, dass es das ist, worauf es Ihnen dabei ankam. Darueber will ich nicht diskutieren.
     Nach der Lektüre Ihres Buches bin ich von der Banalitaet des Boesen, auf dessen Herausarbeitung es Ihnen, wenn man dem Untertitel glauben sollte, angekommen ist, in keiner Weise ueberzeugt. Es erscheint diese Banalitaet auch eher als ein Schlagwort denn als das Resultat einer so eingreifenden Analyse, wie Sie sie, unter ganz entgegengesetzten Vorzeichen, in Ihrem Buch ueber den Totalitarianismus auf weit ueberzeugendere Weise gegeben haben. Damals hatten Sie anscheinend noch nicht entdeckt, dass das Boese das Banale sei. Von dem radikalen Boesen, von dem Ihre damalige Analyse beredtes Zeugnis und Wissen ablegte, hat sich die Spur nun in einem Schlagwort verloren, das in der Lehre von der politischen Moral oder der Moralphilosophie doch wohl in anderer Tiefe eingefuehrt werden musste, wenn es mehr sein soll als das. Es tut mir leid, dass ich in ehrlicher und freundschaftlicher Gesinnung gegen Sie nichts positiveres zu den Thesen Ihres Buches vorbringen kann. Ich hatte, gerade nach Ihrem frueheren Buche, Anderes erhofft.
     Mit allen Wünschen für Sie Ihr alter Gerhard [handschriftl.]
 
                                                                                               
24. Juni 1963

Liebe Hannah,
ich schrieb dies gestern Morgen, und hoffe es erreicht Sie irgendwo. Haben Sie etwas dagegen, daß dieser Brief - 〈 oder evttll. 〉 durch Transformation in die 3. Person des Briefcharakters entkleidet - veröffentlicht wird? Geht doch die Sache Ihres Buches mehr als uns beide nur an.
Ihr Gerhard

[LoC, Arendt-Nachlaß; Original; Typoskript mit hand- schriftl. Bemerkungen von Arendt; handschriftlicher Zusatz vom 24. Juni 1963 auf gesondertem Briefbogen.]


Teil 3