Vorgeblättert

Leseprobe zu Ina Hartwig: Das Geheimfach ist offen. Teil 1

01.03.2012.
Obsession der Schläge

Die Literaturkritikerin stellt im Laufe ihres Berufslebens fest, dass unter den Schriftstellern nur wenige existieren, die keinen schützenden Wall um sich bauen; die keine Furcht verspüren, sich preiszugeben, sich leer zu sprechen. Zu ihnen gehört Georges-Arthur Goldschmidt. Wer ihn treffen möchte, wird ohne Umschweife in ein geräumiges Café an der Place du Châtelet gebeten, unweit des Pariser Rathauses, wo er völlig ungeschützt über sein Seelenleben spricht. Es scheint, als wären das Tassenklirren und Stimmengewirr des Cafés dem deutschen Franzosen eine beruhigende Inspiration seines - das ist unmittelbar spürbar - getriebenen, nervösen Wesens. Den norddeutschen Zungenschlag hat er sich bewahrt über mittlerweile siebzig Jahre Abwesenheit aus der alten Heimat. Seine Präsenz ist so evident wie seine Obsessionen; Letztere erkennt man daran, dass sie ihre Frische trotz der Wiederholung nie einbüßen. Das oft schon Erzählte, oft Formulierte, oft Reflektierte wird von Goldschmidt mit gleichbleibender Kraft repetiert, als sei das, worum es im Kern geht, nicht abtragbar. Nicht abtragbar, obwohl er sich, im Unterschied zu einigen anderen, die in ihren jungen Jahren ebenfalls furchtbar geschlagen wurden, als einen Geretteten sieht.
 
"Ist es wahr, dass sie dich schlägt?" Als seine ältere französische Cousine Noémie de Rothschild ihm diese Frage stellt, ist der Krieg vorbei und Georges-Arthur Goldschmidt schon fast erwachsen. Mit dieser Frage - die er bejahen muss - geht ein düsteres, aber wesentliches Kapitel seines Lebens zu Ende. Seine Cousine entfernt den Abiturienten aus dem Internat in den französischen Alpen, wo der deutsche Junge die Hitler-Zeit überlebt hat, und schickt ihn nach Paris, in jene große Stadt, von der er noch nicht weiß, dass er dort einen völlig unbekannten, freien Geist und einen spielerischen Umgang mit erotischen Dingen kennenlernen wird. Er weiß noch nicht, dass er bald seine Frau treffen wird und mit ihr das größte Wunder von allen, die Normalität. Er kann noch nicht wissen, dass es ihm, dem tausendmal geschlagenen, dem als Jude Verfolgten, dem in seinem Inneren völlig verknoteten Jüngling vergönnt sein würde, in eine erzfranzösische Familie aufgenommen zu werden, ein Leben als Ehemann, Vater und Großvater zu führen und den Sommer - wie alle Franzosen, die es sich leisten können - auf dem Land zu verbringen. Er ahnt nicht, dass er als naturalisierter Franzose eines Tages zu dem Übersetzer Peter Handkes würde, dass er als Schriftsteller und Essayist große Erfolge feiern würde, in beiden Sprachen, dem Deutschen - seiner Muttersprache - und dem Französischen, seiner Lebenssprache. Weil Georges-Arthur Goldschmidt all das nicht wissen kann und weil er sich eingerichtet hat in seinem Alpeninternat, wo er als Hilfskraft geduldet wird, will er nicht weg.
     Lange hat es gedauert, viele Jahre, bis seine Beschützerin Noémie de Rothschild etwas ahnt und ihn auf das Skandalon seiner damaligen Existenz anspricht: auf die Rituale der Züchtigung, durchgeführt von einem zähen älteren Fräulein namens Marie-José Lucas, der Leiterin des Internats in Megève. Beide Frauen - die französische adlige Verwandte und die katholische Direktorin - handeln nicht von Herzen, sondern instinktiv. Im Unterschied zu den englischen Verwandten der Goldschmidts, die keinen Finger für die in Deutschland in Not geratene Familie zu krümmen bereit waren, bietet die in Frankreich lebende Noémie de Rothschild, geborene Halphen, ihre Hilfe an. Sie sorgt dafür, dass Georges-Arthur - damals noch Jürgen - und sein Bruder, der sich später dem französischen Widerstand anschließt, das Kinderheim in den Alpen der Haute-Savoie erreichen, wo die beiden Jungen nur dank der Zivilcourage einiger weniger den deutschen Besatzern entkommen. Zu diesen wenigen gehört Marie-José Lucas, eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Sie steht der katholischen Rechten nahe, ist eine Gaullistin der ersten Stunde und verkörperte - wie Goldschmidt in seiner Autobiographie Über die Flüsse (dt. 2001) schreibt - "den alten französischen Oppositionsgeist, der sie dazu brachte, ganz einfach ihr Leben für gewisse ihrer Internatsschüler zu riskieren […], die ihr eigentlich nichts bedeuteten".
     Obwohl sie ihn (und nicht nur ihn) ausgiebig schlägt, mit Vorliebe auf den nackten Hintern, aber auch auf die Fingerspitzen, mit Ruten, die er selbst im Wald suchen und schneiden muss - was Goldschmidt in bewundernswerter Klarheit auch in seinen Büchern Die Absonderung (1991), Der unterbrochene Wald (1992), Die Aussetzung (1996) und Die Befreiung (2007) dargestellt hat -?, obwohl sie ihn schlägt, rettet sie ihn. Obwohl? Das Wort ist falsch gewählt, denn hier geht es nicht darum, einen Widerspruch zu begreifen, sondern, auch wenn es noch so schwerfallen mag, ein düsteres Paradox zu erfassen. Die Züchtigungen retten den Jungen nämlich davor, verrückt zu werden, durchzudrehen, vor Heimweh und Sehnsucht umzukommen. Der durch die Schläge verursachte Schmerz verdeckt ganz offenbar einen noch viel größeren Schmerz. Welcher das sei, das kann man nur ahnen, und auch Goldschmidt vermag bloß Andeutungen zu machen.
     Er hat seine Eltern zuletzt 1938 auf dem Bahnsteig in Hamburg gesehen, die Hüte in der Hand haltend für die dramatische Abschiedsszene, so dass ihre beiden Söhne - zehn und zwölf Jahre alt - sie "ohne Kopfbedeckung in Erinnerung behielten" auf dem ungewissen Weg ins zunächst italienische, später französische Versteck. Den Krebstod der Mutter - zu Hause - teilt der Vater drei Jahre später in seinem "schlimmsten Brief" mit. Was den Vater betrifft: Ein Bauer aus dem Alten Land und ein hugenottischer, sozialdemokratischer Hafenarbeiter haben dem suspendierten Oberlandesgerichtsrat angeboten, ihn zu verstecken - vergeblich. Er wird deportiert ins Konzentrationslager Theresienstadt, das er, welche Absurdität, als Lagerpastor überlebt. Die Treue dieses protestantisch getauften, kaisertreuen Juden zu Deutschland ging so weit, dass er noch 1945 glaubte, seine Deportation sei ein bedauerlicher Irrtum gewesen. "Mein Vater", fasst Goldschmidt zusammen, "war das Opfer der totalen und unwiderruflichen Verblendungen seiner Zeit".
 
In den französischen Internatsjahren nehmen die Schläge mit der Rute den zentralen Platz in der inneren Geographie des Schülers Georges-Arthur Goldschmidt ein. Die immer und immer wieder erwarteten Schläge sind fester Bestandteil seines fragilen, von Begriffsstutzigkeit, Provokationlust, Wutausbrüchen und Angst bestimmten Seelenlebens. Sie sind das, woran er sich detailliert erinnert - sie sind der einzige Halt in seiner katastrophalen Seelenlandschaft. Darüber hinaus stellt Goldschmidt bis heute eine hartnäckige Gedächtnislücke fest. Er könne noch so sehr grübeln, er sei absolut unfähig, sich der kleinsten Einzelheit der Jahre 1941 und 1942 zu erinnern, also des Zeitraums, in dem seine Mutter stirbt und in dem die Deutschen Frankreich besetzen: Jahre unsäglicher Angst. Die Schläge durch Fräulein Lucas verhinderten, dass er sich verlor, und zwar wohl in dem, woran er sich partout nicht erinnern kann. Die Züchtigung als Selbstbegrenzung wurde auf diese Weise zu seinem Lebensinhalt; an die Strafe zu denken bedeutete, an nichts anderes denken zu müssen: nicht an die feine gelbgestrichene Villa der Eltern in Reinbek bei Hamburg, nicht an den lichtdurchfluteten großen Garten, nicht an die Waldgänge mit dem bereits zwangspensionierten Vater, der sich ins Malen flüchtete und der ihm auf langen Spaziergängen das Sehen beibrachte, nicht an den sanften Freund Günter Picker aus der lebenslustigen kommunistischen Familie, vor allem nicht an die Mutter, mit der ihn eine wüste, innige, gefährliche, aber trotzdem herrliche Liebe verbunden hatte.
     Es ist ganz und gar außergewöhnlich, mit welch analytischer Schärfe Goldschmidt das zugleich tragische und liebenswürdige Porträt seiner überschwänglich-repressiven, glücklich-gequälten, zärtlich-abweisenden Mutter entwirft, einer Frau, die ihn erst Mitte vierzig zur Welt brachte und weder die körperliche noch die seelische Kraft hatte, ihm jene Ruhe und Sicherheit zu vermitteln, deren er so bedürftig war - und die er bei einigen wenigen Ausnahmemenschen findet. Er schämt sich für seine Mutter, die sich öffentlich oft ungeschickt benimmt, und schämt sich zugleich dafür, dass er sich schämt. Er verspürt ein peinigendes Schuldgefühl, ist wie gelähmt, fühlt sich dumm und leer. Zugleich ist er wütend und von Lüsternheit geschüttelt - einer Lüsternheit, der er in jener Epoche, in der die Erwachsenen ihre ganze, krankhafte Aufmerksamkeit auf die Unterdrückung kindlicher Sexualregungen lenken, nicht nachgeben darf. "Wenn du das tust, wirst du operiert", droht man ihm in der schlimmsten Hilflosigkeit, die sich keinen Begriff von der Wirkungsmächtigkeit der Sprache macht. In den Familienroman des Neurotikers (um einen Ausdruck Freuds zu verwenden, dem Goldschmidt so viel verdankt) mischt sich das explosive Gebräu des Judenhasses und der Untertanenlust, das die Um- und Mitwelt in Reinbek langsam, aber sicher erfasst und das der Nazismus so genial und zynisch aus den Deutschen herauszupressen verstand. Man weiß also nicht, was zuerst da war in diesem kindlichen Unglück, diesem "steinernen Block aus Hass", zu dem er vertrocknet sei: die gewalttätige, schwüle Sexualatmosphäre der Zeit, der rücksichtslose, mit Egoismus und Eigennutz vermengte Antisemitismus der Nachbarschaft oder die schwere Depression der überforderten Mutter.
     Die Prügelstrafe jedenfalls, insbesondere die auf den nackten Hintern, zuerst gesehen im Sportunterricht in Reinbek, gehört bereits zu seinen Obsessionen, als er an eine Verwirklichung noch gar nicht denkt. Als er noch einem diffusen Gefühl ausgesetzt ist, einem Gemisch von Angst, Unterwerfung und Lust und - sehr wichtig - von Unwissenheit. In einer so komischen wie erschütternden Passage seiner Autobiographie schildert Goldschmidt diesen heiklen Zusammenhang: "[Einmal] hatte ich die Tochter meines Patenonkels B. - sie war genauso alt wie ich - völlig nackt gesehen. Sie hatte einen mir vollkommen ähnlichen Körper, nur dass bei ihr das Glatte weiter bis zwischen die Beine reichte. Ich fand das sehr elegant und mehr zur Nacktheit passend als diesen kleinen Haut- und Fleischzipfel, der bei mir herunterhing, den ich mit nichts in Zusammenhang setzen konnte und besonders nicht mit dieser Steifheit, die mir manchmal abends an der Stelle erwuchs. Von da an hörte die Nacktheit nicht mehr auf, mich zu beschäftigen, sie nahm in meiner Vorstellungskraft ihren Platz ein, und da man doch nackt war, nur um Prügel zu erhalten, wie in der Schule, wünschte ich mir, die Hose herunter zu bekommen und gezüchtigt zu werden. Die ganze Zeit der Adoleszenz baute sich um dieses Begehren herum auf, und seltsamerweise kreuzten sich für einmal sehr genau die Wirklichkeit und die Wege der Phantasie."

zu Teil 2