Vorgeblättert

Leseprobe zu Jacques Roubaud: Der verlorene letzte Ball. Teil 1

20.07.2009.
Erster Teil
1933 - 1943


Sein Name war Akapo, sein Vorname Laurent.
Er wurde 1933 geboren, am gleichen Tag, an dem ein sattsam bekannter Deutscher an die Macht kam, Reichskanzler Hitler.
Sein Vater, John Akapo, schätzte diesen Zufall überhaupt nicht.

John Akapo, 1906 geboren, war durch seine Mutter Schotte und väterlicherseits von entfernter baskischer Abstammung.
Seine Frau Eleonore verfügte über ein kleines Familienvermögen. Sie war blond, von einem fahlen Blond. Auch sie selbst war fahl; geduldig, langsam, melancholisch. Laurent zur Welt zu bringen, hatte sie erschöpft, seelisch ebensosehr wie physisch. Sie kränkelte oft und wurde von heftigen Migräneanfällen geplagt. Laurent besuchte sie in dem großen Schlafzimmer, setzte sich auf die Bettkante, hielt schweigend ihre Hand, dann ging er wieder spielen. Er hatte weder Bruder noch Schwester.
Sie lebten in einer Villa am Meer, in der Stadt B., nicht weit von der spanischen Grenze.
Das Haus war groß. Auf den Plänen des Architekten wurde es als "Bungalow" bezeichnet. Der erste Besitzer, der es zu Beginn des Jahrhunderts hatte erbauen lassen, war ein Engländer, ein Lord. Zu Ehren der Königin Victoria und ihres geliebten, viel zu früh verstorbenen Gatten Prinz Albert wollte er, daß es zwei völlig gleiche Hälften hatte, die durch einen Mittelteil getrennt waren. Auf der Fassade der linken Hälfte prangte das Wort VOICI, dessen erster Buchstabe größer war als die anderen (das "V" von Victoria); auf der anderen das Wort VOILA, wobei diesmal der letzte Buchstabe des Wortes, das A (für Albert), hervorgehoben war. An die Herkunft der Inschrift erinnerte sich niemand mehr. In der Stadt kannte man das Haus als die "Voici-Voila-Villa".
In jeder der beiden Hälften hatte die Villa zwei Stockwerke und viele, viele Zimmer. Die Akapos lebten fast ausschließlich auf der Voila-Seite. Auf die Voici-Seite gelangte man über einen Flur im ersten Stock, zwischen zwei Türen. Laurent brauchte sehr lange, bis er alle Räume und Winkel seines Wohnhauses kannte. Manchmal hatte er den Eindruck, sich nicht mehr in ihm zurechtzufinden, so als hätte man bei Nacht ein neues Zimmer hinzugefügt. Es gab auch einen riesigen Keller, tief, kalt, dunkel, feucht. Die Tür zu ihm lag in der Küche und mußte mit einem schweren Schlüssel geöffnet werden. Man stieg eine steinerne Wendeltreppe hinab. Im Keller gab es Flaschengestelle und fleißige Spinnen, verhuschte Mäuse. Eleonores Eltern, Lyoner Seidenhändler, sogenannte "Soyeux", hatten die Villa für ihren Ruhestand gekauft, dann waren sie, obwohl noch recht jung, unfreiwillig kurz hintereinander gestorben. Eleonore hatte das Haus in B. geerbt; die ältere Schwester ihrer Mutter, Großtante Jeanne, das in Lyon.
Der Garten war zu drei Vierteln von Mauern umgeben, an denen man leicht hochklettern konnte. Jenseits davon, andere Gärten anderer Villen; auf der einen Seite bis hinaus aufs Land, bis zu den Hügeln; auf der anderen, leicht abfallend, bis hinunter zum Meer. Es gab ein wenig Garten hinter dem Haus und auf beiden Seiten, ein wenig mehr Garten davor. Hinten waren Himbeersträu-cher zu sehen und Blumen: Dahlien, Rosen; ein paar Tomatenstauden. Davor nichts als Zierpflanzen; und ein paar Bäume, die artig in der Wiese standen, Linden, Apfelbäume, falsche Akazien, auf denen sich Amseln, Meisen, Spatzen niederließen. Alles war gepflegt, gestriegelt, gegossen. Wenn man das Haus durch die Verandatür verließ, stieg man ein paar Stufen hinunter und konnte zwischen zwei Mäuerchen, die von Buchsbäumen überragt wurden, auf einer sandbestreuten Allee spazierengehen. Hier hatte Eleonore einen birdtable eingerichtet, ein Restaurant für Vögel. Sie zerkrümelte Brot, und sogar Brioche. Laurent half ihr dabei. Zeitig am Morgen, im Frühjahr oder Sommer, setzten die Vögel sich frohgelaunt an den Tisch und kommentierten das Tagesmenü. Hatte sie durch Zufall einmal vergessen, den Tisch zu decken, drangen die empörten Beschwerden bis hinauf zu den Fenstern des Hauses. Die Einfahrt, das große Tor, die Garage waren linker Hand. Gegenüber, zum Park der Nachbarvilla hin, stand eine durch Drahtgeflecht verstärkte Schilfrohrhecke. Zwischen den Schilfrohren schlichen geräuschlos die Katzen, angelockt von der Gegenwart so vieler Vögel; ihre Absichten waren sonnenklar, räuberisch. Eleonore wußte nicht, was sie tun sollte. Sie schimpfte mit ihnen, verjagte sie, doch sie kamen immer wieder.
"Siehst du", sagte John zu Laurent, "die edelsten Taten haben oft unvorhergesehene Folgen."
Laurent ergriff keine Partei: Er mochte die Meisen, aber er mochte auch die Katzen.
Mit vier Jahren bekam Laurent sein eigenes Zimmer, im zweiten Stock, mit schrägem Plafond, unter dem Dach. Ein großes Zimmer. Er verließ es nie. Wenn er plötzlich erwachte, schien ihm von seinem Bett aus, er sehe das große Fenster auf sich zukommen, bis es mit den Scheiben seine Augen berührte. Im Halbschlaf des Morgengrauens hörte er, wie direkt über seinem Kopf die Tauben hin und her liefen, die Möwen sich zankten, ohne jede Zurückhaltung. Der Ozean sprach unaufhörlich zu ihm, aus der Ferne, mit mehr oder weniger lauter Stimme, je nach Wind. Heftiger Regen kam in schiefen Böen, in Schauern, bombardierte im Sturzflug die Ziegel, die Fliesen, wie Maschinengewehrfeuer aus deutschen Stukas, englischen spitfires. Nach dem Regen kamen die Schnecken aus ihren Schlupfwinkeln in den Mauerritzen, in den Buchsbäumen. Sie krochen an den Fenchelstangen hoch, tropfnaß, ihre Periskop-Fühler gen Himmel gereckt. John Akapo befaßte sich auf etwas legere Weise mit Weinhandel. Die Firma, Wedderburn, Wedderburn & Akapo, gegründet 1853 in Edinburgh, war jetzt in London ansässig. Aber sie hatte auch ein office in B. Thomas Wedderburn, Tom, war Johns Geschäftspartner und sein Freund. Er hatte das 19. Jahrhundert gerade noch kennengelernt, denn er war 1899 geboren. Gemeinsam besuchten sie Kellereien, wählten die Weine aus, kauften, kümmer
ten sich um den Versand. Sie verkauften Claret, einen Bordeaux (rot), den englischen Wein schlechthin, an die Gentlemen der Londoner City, an die colleges von Cambridge und Oxford. Sie verkauften auch Portwein.
Tom, ein Junggeselle, kam oft nach B. Er wohnte bei den Akapos, schenkte Eleonore Rosen, plauderte mit dem kleinen Laurent in unzusammenhängendem Französisch, durchmischt mit Pausen, Stockungen und englischen Wörtern. Er schenkte ihm Pralinen. In den Straßen von B. begegnete man vielen Engländern. Wenn schönes Wetter war, lud Tom nachmittags Laurent auf eine Limonade ins Grand Hotel du Palais ein. Sie setzten sich auf die Terrasse, die über dem Meer lag. Er selbst trank Whisky; einen, nicht mehr; mit Blick auf das flimmernde Wasser, die Wellen, den Sand. Es war Ebbe oder Flut. Tom betrachtete die offene See, die wenigen Schiffe, die Schwimmer, den ständig für Wolken bereiten Horizont. Die Tische waren weiß, rund, von Sonnenschirmen überdacht. Unter den Tischen lag eine unendliche Menge weißgrauer Kieselsteine in allen erdenklichen Formen. Tom trank, schwieg. Unter dem Tisch sortierte Laurent Kieselsteine. Als er ein wenig größer war, legte er sie in eine gerade Reihe, zählte sie. Thomas Wedderburn sah immer elegant aus, ein Liebhaber von Tweed. Laurent nannte ihn Tom. Tom nannte ihn Sir. Er trank seinen Whisky aus, schob den Sessel zurück und sagte: "Sollten wir nun nach Hause gehen, Sir?"
Sie gingen nach Hause. Laurent lief im Kreis um Tom herum. Es war Zeit für den Nachmittagsimbiß, den Tee, tea. Mit sechs besuchte Laurent seinen Vater und Tom ganz allein in deren Büro, in der Avenue de la Reine-V. Tom tat so, als wolle er ihm etwas zu trinken anbieten: "Möchten Sie ein Gläschen von diesem vorzüglichen Port probieren, Sir?" fragte er.

Teil 2
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