Vorgeblättert

Leseprobe zu Jacques Roubaud: Der verlorene letzte Ball. Teil 2

20.07.2009.
Unterwegs kam das Kind am Laden des Faßbinders vorüber, Monsieur Dusseaux. Monsieur Dusseaux war sein Freund. Er war von kleinem Wuchs, wie ein Knirps, nicht sehr gesprächig, immer gut gelaunt. Er war rundlich, sein Gesicht rot, von der Farbe seines natürlichen Elements, des Weins. Laurent und er wechselten nie mehr als vier Worte. Aber sie waren Freunde. Unter den Händen des Faßbinders brachen die Fässer auseinander, ihre eisernen Ringe fielen herunter, rollten zu Boden wie Reifen. Manchmal sickerte ein wenig Flüssigkeit heraus. Laurent schaute gebannt zu. Von dem gestampften Lehmboden, dunkel und braun, von einer violetten, mit kleinen Schimmelblumen übersäten Pfütze, stieg hartnäckiger und berauschender Weingeruch auf. Später, an einem Winternachmittag 1944, John war seit Monaten abwesend, Eleonore lag mit
einer Migräne in ihrem Zimmer, nahmen Laurent und Norbert, "NO", sein dicker Freund, weil sie sich selbst überlassen waren, den wuchtigen Schlüssel, der in der Küche an der Wand hing, öffneten die Tür und stiegen in den Keller der Villa hinab. Aus einem Regal holten sie eine verstaubte Portweinflasche, entkorkten sie, gossen ein wenig von der Flüssigkeit in ein Glas, kosteten. Es war süß, von schöner Farbe, nicht zu stark. Sie tranken mehr davon. Dann spielten sie, wer am schnellsten trinken konnte. So leerten sie die Flasche. NO gewann den Wettbewerb. Am Abend mußte Laurent sich erbrechen. Lange Zeit, noch Jahre später, verursachte ihm der Anblick von Wein, von ganz gleich welchem Wein oder alkoholischen Getränk, Übelkeit. Das legte sich. Doch er versuchte nie wieder zu trinken.


2

Von Oktober an flitzte man im Hof der "Ecole annexe", der Volksschule, die der Lehrerbildungsanstalt von B. angeschlossen war, kreuz und quer durcheinander, wie Moleküle in einem Gas, man zankte sich, spielte: mit Murmeln, "Barlauf". Man stellte sich diesseits und jenseits der Trennlinie auf, jeder in seinem Lager, eine Baskenmütze
in der Mitte. Laurent lief schnell. Die Kastanien ließen ihre Fruchtschalen fallen; sie öffneten sich; die frischen Kastanien sprangen heraus, neu, glänzend. Ein feiner, weißer Staub überzog sie. Sie waren schön. Aber sie wurden schnell stumpf. Bei Prügeleien wurden sie als Munition benutzt. Norbert Couarat, NO, war sein Freund. NO nannte ihn "Laurent"; Laurent nannte ihn "NO". NO hatte immer Pralinen in der Hosentasche. Sein Vater war Schokoladenfabrikant. Er verkaufte Pralinen in Schachteln, unverpackte Pralinen und Tourons aus Marzipan, weiße, rosa, grüne. Um von der Villa ins Büro oder vom Büro zur Villa zu gehen, mußte Tom Wedderburn am Geschäft von NOs Eltern vorbei, COUARAT CHOCOLATS. Auf dem Hinweg nickte er Madame Couarat zu, die mit kratzbürstiger Miene hinter ihrer Kasse saß. Auf dem Rückweg betrat er den Laden und kaufte ein paar Pralinen für Laurent. "Bitte ohne Likör, Madame; sie sind für Laurent", sagte er jedesmal. Die Glöckchen an der Tür klingelten.
Laurent und NO waren gleich am ersten Tag ihres Eintritts in die Grundschule Freunde geworden. Sie hatten sich im Klassenzimmer in der dritten Reihe, ganz in der Nähe des Fensters, nebeneinander gesetzt und waren im selben Augenblick Freunde. Sie sagten sich nicht: "Wir sind Freunde"; sie waren es; dann blieben sie es, das ist alles. Sie konnten noch kaum lesen, noch kaum schreiben; und Norbert malte stolz seinen Namen in zwei Großbuchstaben auf einen Zettel: NO. Laurent schaffte es, ihn zu lesen: "N... O". Laurent antwortete, er heiße Laurent. NO war knapp zwei Monate älter. Sie standen nebeneinander in der Reihe, bevor sie morgens die Klasse betraten; nach der Pause; bevor sie am Ende des Schultags nach Hause gingen. Sie hängten ihre Mützen und Pelerinen nebeneinander an die Kleiderhaken. Die kleine Schule bestand nur aus zwei Klassen: eine für die Kleinen, eine für die Großen. Als sie im vierten Schuljahr in die große Klasse wechselten, in den Cours moyen, nahmen sie genau dieselb"en Plätze ein: NO am Fenster, Laurent neben dem Mittelgang.
Die Bänke und Tische waren aus Holz, die Tische hatten schräge Schreibpulte, die man hochklappte, um seine Hefte wegzuräumen. Vorne am Tisch war eine schmale, horizontale Fläche: ein Loch mit einem weißen Tintenfaß aus Porzellan, gefüllt mit einer violetten, dickflüssigen, stark schmutzenden Tinte; und eine längliche Vertiefung, in die man den Federhalter legte. Wenn die Schule aus war, zog man die Feder aus dem Federhalter, trocknete sie auf einem Löschblatt und legte sie in ihre Schachtel. NOs Finger waren immer voll Tinte, genauso wie seine Nase, seine Schulkittel und sogar seine Haare. Jeden zweiten Tag vergaß er seine Mütze, jeden dritten Tag seine Pelerine, hin und wieder seine Schultasche. Laurent war ordentlich, fleißig, sorgsam, ernst. Er machte sich nicht über NO lustig, weil der unordentlich war und zerstreut, und NO machte sich nicht über ihn lustig, der immer artig war. NO war eben, wie er war. Laurent war eben, wie er war. Die anderen Schüler waren ihnen mehr oder weniger gleichgültig. NO war von lebhafter Phantasie, schalkhaft, unordentlich, fröhlich, stark im Aufsatzschreiben, im Gedichtaufsagen, ein kleiner Spicker, eine Null im Rechnen, geschwätzig. Seine Hefte waren voll mit Flecken, Durchgestrichenem. Sein blondes Haar war niemals gekämmt. Er war der größere, blieb es bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr. Laurent war eher ein dunkler Typ, stark im Rechnen, vor allem im Kopfrechnen. Er war langsam, gründlich, fleißig, ging sorgfältig um mit seinen Federn, seinen Heften. Er schrieb vorsichtig, sauber. Seine Aufsätze waren kurz, sachlich, farblos. Zusammen bildeten sie einen ausgezeichneten Schüler. Das sagte ihr Lehrer, Monsieur Château, zu den Eltern Couarat; und zu John Akapo.
Um vier Uhr verließen sie gemeinsam die Schule, aßen im Gehen das Brot und die Schokoladenriegel ihres Nachmittagsimbisses. Sie redeten wenig. NO begleitete Laurent bis zur Gartentür der Villa. Manchmal ging Laurent dann mit ihm weiter, und sie schlenderten bis zu dem anderen Haus, hinter dem Marktplatz. Manchmal aber hatten sie sich auch da nicht viel zu sagen; und so gingen sie zwei- oder dreimal hin und her, bevor sie sich trennten. Manchmal trafen sie auf der Straße Monsieur Couarat und seinen schwarzen Hut, oder Tom Wedderburn. Und Monsieur Couarat sagte:
"Na, wie geht?s, ihr Unzertrennlichen?"
Tom sagte nichts.
Wenn es regnete, und es regnete oft, beobachteten sie fasziniert die Rinnsale, Flüsse, Sturzbäche des Regens, die, dem zwingenden Gesetz der Neigung unterworfen, zum Ozean hinunterstürzten. Sie bauten Staudämme aus dürrem Laub und kleinen Zweigen. Das Wasser stieg dahinter an, stieg an und riß plötzlich alles wütend mit sich fort.
Mit Blättern aus alten Heften, mit alten Zeitungen bauten sie Flottillen, leichte Geschwader. Jedes Schiff war auf dieselbe Weise gemacht; sie unterschieden sich nur in der Größe, in der Gattung, dem Namen: Es gab Boote, Frachtkähne, Jachten, aber vor allem Zerstörer, Kreuzer, Avisos, sogar Panzerkreuzer. Die Panzerkreuzer waren schwerer, dicker; dafür brauchte man zwei Blätter. Die wenigen Handgriffe für den Bau von Papierschiffen sind einfach, unabänderlich dieselben:

1. Man faltet ein Blatt Papier in der Mitte.
2. Man klappt die beiden Ecken des halben, doppelten Blattes vom
Falz her in Form von zwei Dreiecken herunter. Da das Blatt breiter
als hoch ist, bleibt unterhalb der beiden Dreiecke ein schmaler,
waagerechter Streifen.
3. Man schlägt den oberen Streifen nach oben, den unteren nach
unten. In diesem Augenblick hat man einen spitzen Hut. Man
könnte ihn als spitzen Hut benutzen, aber dafür ist jetzt nicht der
richtige Augenblick.
4. Man zieht ihn auseinander und legt ihn in die andere Richtung
wieder zusammen, in Form eines Quadrats.
5. Aus dem Quadrat macht man durch Hochklappen von der offenen
Seite her zwei gleichschenkelige Dreiecke, mit einer breiten
Grundlinie.
6. Man zieht sie wieder auseinander und legt sie zusammen, in Form
eines noch kleineren Quadrats.
7. Man zieht an den oberen Spitzen dieses Quadrats; es faltet sich
auf, und schon ist das Schiff da. Es hat einen hohen Rumpf und in
der Mitte einen Mast (einen stilisierten), oder ein Segel (wenn man
so will), das (mehr oder weniger) über die Bordwand hinausragt.
Man zieht die beiden Seiten des Kahns auseinander, um ihm
Stabilität zu geben. Man schiebt die Papierlaschen untereinander.
8. Auf den Rumpf, auf eine der Bordwände, schreibt man mit einem
Farbstift den für das Schiff gewählten Namen: Jean Bart, Surcouf,
Königin Eleonore.
9. Man läßt den Kahn zu Wasser, und es trägt ihn mit sich fort.

Laurent und NO entsandten ihre Flotten auf das hydrographische Netz der Regenströme. Unter dem Namen von Radrennfahrern registriert, traten ihre Schiffe zum Wettkampf an. Papierschiffe sind fragil, ja zart wie Maischmetterlinge. Manche Kähne liefen auf Sand, wurden durch Reisig aufgehalten; von der Strömung umgeworfen, füllten sie sich mit Wasser. Waren sie durchgeweicht, fielen sie auseinander, lösten sich auf, sanken; verschwanden strudelnd in den Abflußkanälen. Als Mannschaftscoachs trugen die beiden Kinder Papierhüte, rannten in den abschüssigen Gassen hinter ihren Rennfahrern her, feuerten ihre Champions lauthals an. Dann überholten sie die Flut, stürmten die Gasse hinunter, um den Zieleinlauf zu begutachten. Das war dort, wo die Gasse zu einer Treppe wurde und das Wasser seitlich in Kaskaden herabstürzte. Laurents Schiffe waren besser gemacht, solider als die von NO. Er gewann oft. NO schummelte manchmal bei einer Wegkrümmung. Ganz in das Rennen versunken, vergaßen sie die Uhrzeit, die Aufgaben, die gemacht werden mußten, daß es regnete. Sie machten ihre kurzen Hosen naß, ihre Haare, ihr Schuhwerk. Ihre Zimmer waren Bootsschuppen, in denen die Schiffe bis zum nächsten Regen auf dem Trockendock lagen. Doch wenn das Wetter zu lange schön war, vergaßen sie ihre Kähne und schlugen ihre Schlachten mit Murmeln. Im Garten der Villa steckten sie im Sand und in der Erde eine mit pflanzlichen oder mineralischen Hindernissen - Kieselsteine, Astwerk - markierte Strecke ab. Jede Murmel unterschied sich von
allen anderen; und sie war ein Rennfahrer mit einem Namen. Es gab zwei Mannschaften, die Teilnehmerliste hatte Laurent in ein besonderes Heft mit Papierumschlag eingetragen:
NO-LAURENT-MEISTERSCHAFT. Die Murmel-Champions lagen an der Startlinie. Sie rückten vor, indem sie vom Zeigefinger der rechten oder linken Hand angeschubst wurden. Laurent war Rechtshänder; NO Linkshänder.Wenn die Murmel aus der vorgesehenen Bahn sprang, mußte man sie an ihren Ausgangspunkt zurückbringen, und ein Stoß war auf diese Weise verloren. Das Ziel war eine neuerliche Linie am Ende der Rennstrecke, und die Murmel, die beim letzten Stoß am weitesten über die Linie hinausrollte, war Etappensieger. Von den anderen Murmeln wurden manche als mit demselben Stoß angekommen verzeichnet, andere mit 1, 2, 3 Stößen Verspätung oder sogar mehr. Laurent schrieb die Ergebnisse auf, zum Beispiel: vierte Etappe - 1. Lapebie (Mannschaft L): 14 Stöße - 2. Antonin Magne (Mannschaft N), 2 Stöße mehr - 3. ex aequo, Vietto usw. Dann rechnete er alles zusammen und trug die Gesamtwertung ein. Meistens gewann Laurent. Seine Murmeln rollten nicht so weit wie die von NO, sprangen jedoch selten aus der Bahn. Er hätte wochenlang so weiterspielen können, aber NO verlor die Geduld. Sie suchten sich ein anderes Spiel.

Teil 3