Vorgeblättert

Leseprobe zu Javier Cercas: Outlaws. Teil 2

24.03.2014.
Opfer klingt ziemlich pathetisch, ich weiß, aber lieber lasse ich mir vorwerfen, ich hätte einen Hang zum Kitsch, als dass jemand mich als Lügner bezeichnet. Anfangs machte Batista sich bloß über mich lustig. Seine Muttersprache war Katalanisch, aber wenn ich Katalanisch sprach, lachte er mich aus. Nicht, weil ich Fehler gemacht hätte, er fand es nur blöd, wenn jemand Katalanisch sprach, der gar kein Katalane war. Außerdem machte er sich über mein Aussehen lustig und nannte mich Dumbo, weil meine Ohren angeblich so groß wie die von dem Walt-Disney-Elefanten waren. Und auch weil ich nicht wusste, wie man Mädchen aufreißt, verspottete er mich, genauso wegen meiner Streber-Brille und meiner Streber-Noten. Sein Spott wurde immer aggressiver. Ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte, und meine Freunde, die anfangs bloß mitlachten, fingen schließlich an, sich auch über mich lustig zu machen. Irgendwann reichten Batista bloße Worte nicht mehr, und schon bald kannte er nichts Schöneres, als mir halb im Scherz, halb im Ernst gegen die Schulter oder die Rippen zu boxen. Manchmal verpasste er mir auch eine Ohrfeige. In meiner Hilflosigkeit fiel mir nichts anderes ein, als die Schläge lachend einzustecken und so zu tun, als würde ich gleich zurückschlagen. Es war, als hätte ich mich selbst überzeugen wollen, dass das Ganze nicht ernst gemeint war. So ging es eine Zeit lang. Bis ich mir irgendwann nichts mehr vormachen konnte: Die scheinbaren Späße waren genauso grob und brutal, wie sie sein sollten. Da lachte ich nicht mehr darüber, sondern weinte und versuchte, den anderen aus dem Weg zu gehen. Batista verhielt sich nämlich, wie schon gesagt, nicht als Einziger so. Er schlug am heftigsten zu, und von ihm gingen die Attacken normalerweise aus, aber der Rest meiner Freunde schloss sich regelmäßig an, bis auf Matías, der versuchte wenigstens manchmal, Batista zurückzuhalten. Jahrelang habe ich mich bemüht, das Ganze zu vergessen, bis ich mich vor kurzem selbst gezwungen habe, mich wieder daran zu erinnern, und da habe ich gemerkt, dass mir manche Wunden aus dieser Zeit noch tief in der Seele sitzen. Einmal schubste Batista mich in einen eiskalten Bach, der durch den Devesa-Park fließt, oder zumindest floss er damals dort hindurch. Bei einer anderen Gelegenheit - in Batistas Garage in der Calle de La Rutlla - zogen meine Freunde mich aus und sperrten mich nackt in eine stockfinstere Kammer, wo ich stundenlang nichts anderes tun konnte, als gegen die Tränen anzukämpfen und mir durch die Tür anzuhören, wie meine Freunde sich zu der lauten Musik, die sie auflegten, lachend und schreiend unterhielten. Und noch ein anderes Mal - an einem Samstag, an dem ich zu meinen Eltern gesagt hatte, ich würde bei Batista in S'Agaró übernachten - schlossen sie mich in der Garage ein und ließen mich dort fast vierundzwanzig Stunden lang allein und ohne Licht, Essen oder Trinken sitzen. Erst am Sonntagmittag durfte ich wieder raus. Und gegen Ende des Schuljahres - damals ergriff ich bereits die Flucht, wenn ich Batista außerhalb des Klassenzimmers nur zu sehen bekam - jagte er mir einmal einen solchen Schrecken ein, dass ich glaubte, er wolle mich umbringen: Zusammen mit Canales, Herrero, den Boix-Brüdern und noch einem anderen lauerte er mir in der Schultoilette auf, und als ich reinkam, fiel er über mich her und drückte meinen Kopf in eine Kloschüssel, in die sie alle zuvor gepinkelt hatten. Die anderen standen daneben und lachten. Das Ganze dauerte wahrscheinlich bloß ein paar Sekunden, aber mir kam es wie eine halbe Ewigkeit vor. Soll ich weitererzählen?"
"Wenn Sie nicht möchten, dann nicht. Aber wenn es Ihnen gut tut - bitte schön!"
"Gut tut es mir nicht - jetzt nicht mehr. Dafür finde ich es seltsam, dass ich Ihnen davon erzähle. Das ist etwas anderes. Mit der Geschichte von Batista geht es mir wie mit fast allem aus dieser Zeit: Es ist, als hätte ich es nicht erlebt, sondern geträumt. Aber Sie werden sich natürlich fragen, was das mit Zarco zu tun haben soll."
"Nein. Ich frage mich, warum Sie damals niemandem davon erzählt haben."
"Wem hätte ich denn davon erzählen sollen? Den Lehrern? Die Lehrer hatten eine gute Meinung von mir, aber Beweise für das, was ich zu erzählen gehabt hätte, hatte ich nicht, außerdem hätten die anderen mich dann als Lügner oder Petzer oder beides zusammen betrachtet, und das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Und meine Eltern? Meine Eltern waren nett, sie liebten mich, und ich liebte sie, trotzdem hatte unsere Beziehung seit einiger Zeit gelitten, so sehr, dass ich nicht den Mut aufbrachte, ihnen etwas von der Sache zu sagen. Außerdem - wie hätte ich es ihnen erzählen sollen? Und was genau? Dazu kommt, dass Batistas Vater, wie gesagt, der Chef meines Vaters war. Ich hätte meinen Vater in eine unmögliche Lage gebracht, wenn ich zu Hause von der Geschichte erzählt hätte. Trotzdem war ich mehrmals nahe dran, mehrmals hätte ich es wirklich fast getan, aber zuletzt habe ich es dann doch immer sein lassen. Und wem außer meinen Eltern hätte ich sonst davon erzählen sollen?
Die Schule wurde für mich dadurch jedenfalls zur Hölle. Monatelang heulte ich, wenn ich abends ins Bett ging, und auch morgens, beim Aufwachen, heulte ich. Ich hatte Angst. Und ich empfand Hass und Wut und fühlte mich gedemütigt, vor allem aber hatte ich Schuldgefühle. Am schlimmsten, wenn man gedemütigt wird, ist ja, dass man sich schuldig fühlt. Ich sah keinerlei Ausweg, am liebsten wäre ich gestorben. Aber glauben Sie bloß nicht, ich hätte dadurch etwas gelernt, im Gegenteil: Früher als die anderen zu begreifen, was das absolut Böse ist - und Batista war für mich das absolut Böse -, macht einen nicht besser, sondern schlechter. Und es bringt einem überhaupt nichts."
"Immerhin haben Sie dadurch Zarco kennengelernt."
"Stimmt. Aber sonst hat es mir nicht das Geringste gebracht. Kennengelernt habe ich ihn kurz nach Ende des Schuljahrs. Meine Freunde hatte ich damals schon eine Weile nicht mehr gesehen. In den Ferien war es einfacher, ihnen aus dem Weg zu gehen, völlig von der Bildfläche zu verschwinden war in einer so kleinen Stadt allerdings kaum möglich, so gut es gewesen wäre, um meine Freunde dazu zu bringen, mich zu vergessen. Ich tat, was ich konnte, um ihnen nicht in die Quere zu kommen, schlug einen großen Bogen um unsere üblichen Treffpunkte und einen noch größeren um die Garage in der Calle de La Rutlla, und wenn Matías vorbeikam oder anrief, um zu fragen, ob ich Lust hätte, etwas mit ihm und den anderen zu unternehmen, ließ ich mir irgendwelche Ausreden einfallen - ihn trieb wahrscheinlich sowieso nur das schlechte Gewissen, oder er glaubte, durch sein scheinbar großmütiges Verhalten davon ablenken zu können, wie sie in Wirklichkeit mit mir umsprangen. Wie auch immer, mein Ziel war, mich in diesem Sommer so wenig wie möglich auf der Straße blicken zu lassen, bis wir im August verreisen würden. Die Zeit bis dahin wollte ich mit Lesen und Fernsehen verbringen. So hatte ich es mir vorgestellt. Aber als Sechzehnjähriger den ganzen Tag zu Hause rumsitzen, das schaffst du nicht, da kannst du noch so deprimiert und eingeschüchtert sein, ich zumindest war nicht in der Lage dazu. Deshalb habe ich mich irgendwann doch rausgewagt, wenigstens ab und zu, und so landete ich eines Tages im Spielsalon Vilaró.
Dort bin ich Zarco zum ersten Mal begegnet. Der Spielsalon Vilaró war in der Calle Bonastruc de Porta, noch im Devesa-Viertel, gegenüber der Eisenbahnbrücke. Von solchen Spielhallen für Jugendliche gab es in den siebziger und achtziger Jahren jede Menge. Soweit ich mich erinnere, befand sich diese hier in einer Halle mit nackten Wänden und verfügte über eine sechsspurige Scalextric-Autorennbahn, mehrere Kickertische und Arcade-Automaten und sechs oder sieben Flipper, die an einer Wand aufgereiht standen. Hinten waren der Getränkeautomat und die Toiletten, und am Eingang die kleine Glaskabine von Herrn Tomàs. Herr Tomàs war ein vom Alter gebeugter, dickbäuchiger Mann mit Halbglatze, der den Kopf nur von seinem Kreuzworträtselheft hob, wenn ein technisches Problem zu beheben war - wenn zum Beispiel ein Spielautomat nicht richtig funktionierte oder eine der Toiletten verstopft war - oder irgendwo Streit ausbrach. Dann schmiss er die Störenfriede entweder raus oder sorgte mit seiner schrillen Stimme für Ordnung. Eine Zeit lang war ich mit meinen Freunden ziemlich regelmäßig hier gewesen, aber ungefähr seit Batistas Auftauchen nicht mehr, und meine Freunde auch nicht. Vielleicht glaubte ich deshalb, jetzt an diesem Ort sicher zu sein - ungefähr so, wie man sich während eines Bombardements in einem frischen Krater am geborgensten fühlt.
An dem Nachmittag, als ich Zarco kennenlernte, war ich, kurz nachdem Herr Tomàs aufgemacht hatte, in der Spielhalle erschienen und hatte angefangen, mit meinem Lieblingsflipper zu spielen, einem Rocky Balboa. Das war ein sehr guter Flipper: Man bekam fünf Kugeln, schon nach wenigen Punkten eine Extrakugel und am Schluss Bonuspunkte, mit deren Hilfe man ziemlich leicht gewinnen konnte. Eine Zeit lang war ich allein in der Halle, aber dann kamen ein paar Jungen, die mit der Rennbahn spielen wollten. Und kurz danach ein Pärchen, ein Junge und ein Mädchen, auf jeden Fall älter als sechzehn, aber höchstens neunzehn. Meinem ersten Eindruck nach waren sie möglicherweise Geschwister, vor allem aber handelte es sich um Charnegos von der harten Sorte, irgendwo aus der Vorstadt, vielleicht zwei Quinquis.(1) Herr Tomàs witterte Gefahr, kaum dass sie an seiner Kabine vorbeigingen. 'He, ihr da', rief er und stand schon in der Kabinentür. 'Wohin wollt ihr?' Die beiden blieben ruckartig stehen. 'Was is', Chef?', fragte der Junge zurück und hob die Arme, als wollte er sich durchsuchen lassen. Obwohl er nicht lächelte, schien die Situation ihn zu amüsieren. Dann sagte er: 'Wir wollen bloß ein bisschen spielen. Dürfen wir?'
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(1) ausgesprochen: "Kinkis". Quinqui ist die traditionelle Bezeichnung der Mercheros, einer seit dem 17. Jahrhundert bezeugten sozialen Randgruppe in Spanien, deren Vertreter nomadisierend oder halbsesshaft lebten und auch heute vielfach noch als Hausierer (quincalleros: Blechwarenhändler, Klempner) mobilen Gewerben nachgehen. Da das Wort quinqui auch verallgemeinernd für "Landstreicher, Herumtreiber, Strolch" verwendet wird, ziehen die Quinqui heute die neutralere Bezeichnung merchero vor. Ihre Sprache ist ein dem deutschen Rotwelsch vergleichbarer Argot auf der Grundlage des Spanischen, mit Archaismen und Wortschatzanteilen aus dem Baskischen und Romani, die Quinqui verstehen sich selbst jedoch nicht als gitanos (Roma). Einer der bekanntesten Quinqui ist Eleuterio Sánchez Rodríguez, genannt "El Lute". (Anm. d. Ü.)

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