Vorgeblättert

Leseprobe zu John Lanchester: Kapital. Teil 3

08.10.2012.
3

Es war später Nachmittag. Roger saß auf einem der Sofas in sei­nem Büro, gegenüber hatte auf der einen Seite der Mann Platz ge­nommen, der ihm mehr als jeder andere dabei helfen konnte, sei­nen Millionenbonus zu verdienen, und auf der anderen Seite der Mann, dem definitiv die wichtigste Rolle bei der Entscheidung zu­fiel, ob er ihn tatsächlich bekam.
     Ersterer war sein Stellvertreter Mark. Er war noch nicht ganz dreißig, mehr als zehn Jahre jünger als Roger und hatte von all der Arbeit in Innenräumen und vor Computerbildschirmen eine ganz blasse Gesichtsfarbe. Mark hatte die Angewohnheit, sich ununter­brochen zu bewegen, aber so, dass man es fast nicht mitbekam. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen, fasste an seine Armbanduhr, prüfte den Inhalt seiner Hosentaschen oder machte kleine Zuckungen mit seinen Gesichtsmuskeln, als wollte er den Sitz seiner Brille korrigieren. Das Ganze hatte eine ähnliche Wirkung wie die Angewohnheit mancher Leute, in Gesprächen andauernd den Vornamen der Person zu benutzen, mit der sie sich gerade unterhielten. Man konnte das jahrelang mitmachen, ohne dass es einem auffiel, aber wenn man es einmal gemerkt hatte, war es fast unmöglich, sich davon nicht ablenken zu lassen - genauer gesagt war es fast unmöglich, nicht das Gefühl zu bekommen, dass dieses Verhalten einzig und allein darauf abzielte, einen in den Wahnsinn zu treiben. Genau das war es, was Marks ewige Zappelei in Roger auslöste. Im Moment spielte er gerade mit sei­nem Montblanc-Kugelschreiber herum.
     In vieler Hinsicht war Mark der perfekte Stellvertreter. Er arbei­tete hart, machte nie einen Fehler, war nicht allzu offensichtlich an Rogers Job interessiert, und wenn man mal von seinem ununter­brochenen Herumgezappel absah, schien er nie aus der Fassung zu geraten. Manchmal entstand der vage Eindruck, dass er die Dinge ein bisschen zu fest unter Kontrolle hatte, und er war die Art Mensch, bei der man ein heimliches Laster vermutete. Hätte er sich als pädophil oder als Bondage-Freak herausgestellt, oder wäre unter seinen Bodendielen eine zerstückelte Leiche aufgetaucht, dann wäre Roger zwar überrascht gewesen, aber nicht allzu über­rascht. Doch hätte es ihn eindeutig erstaunt, wenn er gewusst hätte, was Mark tatsächlich über ihn dachte und was für ein star­kes und persönliches Interesse sein Stellvertreter an seinem Pri­vatleben hatte - wo Roger wohnte, wo er zur Schule gegangen war, wie seine Kinder hießen und wann sie Geburtstag hatten, wofür seine Frau Geld ausgab und wie er seine Freizeit verbrachte. Hätte Roger das gewusst, hätte ihn das vollkommen aus der Fas­sung gebracht, aber er hatte davon keine Ahnung, und deshalb war das auch nicht der Grund, warum Mark Roger verunsicherte.
     Es lag vielmehr daran, dass Roger zu einer Zeit zu Pinker Lloyd gekommen war, als es im Finanzgeschäft noch mehr um persön­liche Beziehungen und weniger um Mathematik ging. Er war in den vergangenen Jahrzehnten erfolgreich gewesen und vorange­kommen, doch es ließ sich nicht mehr leugnen, dass er mit den grundlegenden Veränderungen, die im Wesen seiner Arbeit vor sich gegangen waren, nicht in jeder Hinsicht Schritt gehalten hatte. Der Devisenhandel basierte auf der Handhabung unendlich komplizierter mathematischer Formeln, die der Bank subtile und lukrative Positionierungsstrategien erlaubten. Im Klartext bedeu­tete dies, dass die Bank Wetten auf beiden Seiten eines Handels­geschäfts gleichzeitig abschließen konnte. Solange nicht etwas vollkommen Unvorhergesehenes geschah - etwas außerhalb der Parameter und Prognosen, die in die Wetten eingebaut waren - und solange die Algorithmen stimmten, hatte man eine absolute Gewinngarantie. Es gehörte zu den Gesetzen der Branche, dass man kein Geld verdienen konnte, ohne Risiken einzugehen, aber dank der Wunder der modernen Finanzinstrumente konnte man dieses Risiko fast gänzlich ausschalten. Und natürlich tat die Bank alles nur irgend Mögliche, um sich selbst zu helfen. Ein Teil des Handels war algorithmisch, was hieß, dass seine Basis rein mathe­matischer Natur war und er so konfiguriert wurde, dass er von der Eigendynamik der Preisentwicklung profitierte: Wenn die Preise sich in eine bestimmte Richtung bewegten, dann war es mehr als wahrscheinlich, dass sie am nächsten Tag dasselbe tun würden. Also benutzten manche der Händler in der Abteilung eine Soft­ware, mit Hilfe derer man aus genau diesem Phänomen Profit schlagen konnte. Ein Teil der Handelsgeschäfte bestand aus dem sogenannten Flash Trading, bei dem man seinen Profit aus dem Bruchteil einer Sekunde schlug, der zwischen dem Plazieren eines Gebots an den Märkten und der tatsächlichen Auftragsausfüh­rung lag. Wieder ein anderer Teil des Handels zog seine Informa­tionen aus Datenbanken, in denen gespeichert war, was Kunden in der Vergangenheit bezahlt hatten, und benutzte diese Daten, um in Echtzeit vorherzusagen, was sie in der Gegenwart bezahlen würden, damit die Bank ein Preisangebot machen konnte, das der Kunde akzeptieren würde, das aber gleichzeitig einen Gewinn für Pinker Lloyd garantierte. All das war schön und gut, und Roger konnte das Ganze im Wesentlichen sehr wohl nachvollziehen - aber das war nicht dasselbe wie die mathematischen Prinzipien selbst zu verstehen. Das ging mittlerweile weit über seine Fähig­keiten hinaus. Mark hingegen verstand diese Prinzipien. Er hatte seine Promotion in Mathematik abgebrochen, um für Pinker Lloyd zu arbeiten. Roger war nicht gerade begeistert davon, dass er einen nicht mehr ganz so sicheren Stand hatte und dass er nicht mehr in der Lage war, bis ins kleinste Detail hinein zu erklären, was genau bei den Handelsgeschäften vor sich ging, für die seine Abteilung zuständig war. Aber andererseits war auch sonst kaum jemand dazu in der Lage. Das lag einfach in der Natur der Arbeit, die der­zeit am Finanzmarkt üblich war.
     "Kann ich noch einen weiteren Punkt ansprechen?", fragte Mark, während er den ersten Stapel mit Zahlenmaterial, den er mitgebracht hatte, auf den Tisch legte und eine weitere Akte in die Hand nahm. "Ich habe hier noch ein paar Vorschläge für diese Sa­che mit der neuen Software. Ich dachte, Sie wollten sich das viel­leicht mal anschauen?"
     Mark hob zum Ende seines Satzes hin die Stimme, wodurch das, was er sagte, fast zur Frage wurde, aber eben nicht ganz. Er hielt die Akte so in die Höhe, dass der dritte Mann im Raum Ge­legenheit hatte, einen Blick darauf zu werfen, falls er das wollte. Dieser Mann war Rogers höchster Vorgesetzter, Lothar Billing­hoffer. Lothar war fünfundvierzig Jahre alt und kam aus Deutsch­land. Vor ein paar Jahren hatte man ihn von Euro Paribas abgewor­ben. Alle Firmen haben einen gewissen Stil, was das persönliche Auftreten anbetrifft. Pinker Lloyds Stil war ruhig und gelassen, und niemand verkörperte das so perfekt wie der deutsche Vor­standsvorsitzende. Er sah unglaublich fit und gesund aus für einen Mann, der zwölf bis vierzehn Stunden am Tag arbeitete, auch wenn er, wenn man dicht vor ihm stand, älter wirkte als von Wei­tem. Lothar war ein fanatischer Anhänger aller Outdoor-Sportar­ten, er verbrachte seine Wochenenden mit Wanderungen in den Bergen oder fuhr auf Skiern an ihnen herab, oder er hängte sich im Trapez über die Bordwand einer Jacht. Sein Gesicht war oft von der Sonne oder vom Wind ganz rot, und seine Augen hatten vom ständigen Zusammenkneifen lauter kleine Fältchen. Lothar und Mark wirkten, wenn sie nebeneinander standen, wie eine Farb­palette für Männergesichter: Hier haben wir, was passiert, wenn man einen Orientierungslauf durch die Black Mountains macht, und hier können Sie sehen, was dabei herauskommt, wenn man nie freiwillig von seinem Computerbildschirm aufschaut.
     Normalerweise war Lothar bei solchen Besprechungen nicht dabei. Dass er einfach mal bei seinen Leuten vorbeischaute, war eine neue Angewohnheit von ihm. Er hatte irgendein Buch über "dekonstruierte" Managementmethoden gelesen, aber da niemand weniger dekonstruiert war als Lothar, hatte er einen ge­nauen Plan. Der sah so aus, dass er eine halbe Stunde pro Woche damit verbrachte, nach einem angeblichen Zufallsprinzip durch das Gebäude zu laufen, sich mit Leuten zu unterhalten und an Be­sprechungen teilzunehmen. So kam es auch, dass er nun "ganz zu­fällig" bei Rogers täglicher Besprechung mit seinem Stellvertreter anwesend war.
     Man hätte meinen können, es würde Roger nervös machen, in Gegenwart Lothars über Software-Probleme zu sprechen. Wie je­der in der Finanzwelt wusste, war alles, was mit neuer Software zu tun hat, garantiert ein absoluter Albtraum. Aber Mark trat nie mit einem Problem an Roger heran, für das er nicht entweder be­reits eine Lösung oder wenigstens den Ansatz einer Lösung hatte. Seine Abteilung arbeitete mit der IT-Abteilung und einem exter­nen Unternehmen zusammen, um ein neues, maßgeschneidertes Computerprogramm zu erstellen, das die Datenanzeige auf den Bildschirmen der Händler optimieren sollte. Im Idealfall würde ein solches Programm ein Maximum an Informationen mit einem Minimum an Datengewirr kombinieren und die größtmögliche Anpassung an die persönlichen Bedürfnisse der einzelnen Händ­ler erlauben (denn jeder von ihnen hatte seine eigene Vorstellung davon, wie sein Bildschirm auszusehen hatte). Darüber hinaus sollte das Ganze auch noch so schnell wie möglich erfassbar sein. Roger war nicht allzu sehr an dieser Sache interessiert, aber das Gleiche konnte man eigentlich über den größten Teil seiner Arbeit sagen. Er war jedoch immer bereit dazu, in seiner umgänglichen, ausgeglichenen Art irgendeine Meinung zu vertreten. Das schien aber in diesem Fall nicht nötig zu sein. Marks Tonfall implizierte, dass er wusste, wie beschäftigt Roger war, dass es sich nicht um ein dringendes Problem handelte und es vollkommen in Ordnung wäre, wenn Roger es vorzog, auf eine neue, verbesserte Version der Software zu warten, bevor er sich dazu herabließ, einen Blick darauf zu werfen. Er ließ also deutlich durchscheinen, dass seine Frage eigentlich pro forma war. Aber sie durfte natürlich nicht zu pro forma wirken, denn dann hätte es so ausgesehen, als würde er auf Rogers Meinung nichts geben. Was selbstverständlich nie­mals, auf gar keinen Fall, den Tatsachen entsprach. All dies ge­hörte zu den Gründen, warum Mark ein perfekter Stellvertre­ter war, so perfekt, dass es Roger fast unheimlich wurde. Lothar machte keine Anstalten, die Akte in die Hand zu nehmen. Einen Moment lang dachte Roger, es wäre ein gutes Beispiel für das Ver­trauen, das er in seinen Stellvertreter hatte - und daher ein Beweis für seine Versiertheit im Dekonstruierten Management -, wenn er keinen Blick auf die Unterlagen werfen würde. Aber dann folgte er plötzlich einer winzigen blitzartigen Regung seines Instinkts und tat das Gegenteil.
     "Schauen wir doch mal rein", sagte Roger. Mark legte sei­nem Vorgesetzten ein paar Screenshots vor. Und tatsächlich, die Screenshots wirkten eine Spur chaotisch und überfüllt. Auf einem von ihnen waren acht verschiedene Diagramme zu sehen. Roger und sein Stellvertreter blickten einander an. Keiner von ihnen sah zu Lothar hinüber, der in Marks Fall der Vorgesetzte seines Vorge­setzten war.
     "Nein", sagte Roger. "Immer noch zu viel."
     Mark senkte leicht den Kopf. Weil er gleichzeitig an seinem Kuli herumspielte, wirkte das Ganze, als würde er in einer Geste der Selbsterniedrigung die Hände ringen.
     "Ich lasse es zurückgehen, mit dem Hinweis, dass Sie noch nicht zufrieden waren." Er nickte und verließ das Büro rückwärts in Richtung des Parketts.
     "Gut", sagte Lothar. Das war eines der wenigen Wörter, bei de­nen sein deutscher Akzent ganz schwach zum Vorschein kam.
     Roger stand auf, streckte sich zu seiner vollen Größe und ging in Richtung der Tür, die Mark beim Hinausgehen hinter sich ge­schlossen hatte. Er öffnete die Jalousien mit einem Knopfdruck und schaute nach draußen, wo seine Kollegen in den verschiedens­ten Körperhaltungen auf ihren Stühlen saßen. Manche beugten sich nah an den Bildschirm heran, andere saßen zusammenge­krümmt oder nach hinten gekippt, wieder andere waren aufge­standen und gingen hin und her, während sie in ihre Headsets sprachen. Die Sonne war untergegangen, was die Lichter in dem zweiten Canary Wharf Tower noch heller erscheinen ließ. Die einzigen Leute, die aus dem Fenster schauten, telefonierten ge­rade; sie kauften oder verkauften. Ein paar seiner Kollegen nickten und grinsten Mark an, während er an ihnen vorbeiging. Roger er­wischte sich dabei, wie er einen Augenblick lang an seine Million Pfund dachte. Dann riss er sich zusammen und wandte seine Auf­merksamkeit wieder Lothar zu.
     "Das sind gute Leute da draußen", sagte er. "Sie arbeiten hart und können trotzdem das Leben genießen. Wie Kids heutzutage halt so sind."
     "Die Zahlen sehen ziemlich gut aus", sagte Lothar in neutralem Ton.
     Ja!, dachte Roger.

                                                        *

Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlages Klett-Cotta
(Copyright Verlag Klett-Cotta)

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